Bauwelt

Auf Hochtouren

Kalifornischer Traum und Albtraum in Washington

Text: Schulz, Bernhard, Berlin

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Entwurf für ein neues Terminal des LAX Los Angeles International Airport von Pereira und Luckman, 1958
© Luckman Salsas O’Brien

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Entwurf für ein neues Terminal des LAX Los Angeles International Airport von Pereira und Luckman, 1958

© Luckman Salsas O’Brien


Auf Hochtouren

Kalifornischer Traum und Albtraum in Washington

Text: Schulz, Bernhard, Berlin

Los Angeles wird gerne als Anti-Stadt gesehen, als eine Agglomeration, der es am Urbanen mangelt, ein Gewirr von sich kreuzenden und ineinander verschlungenen Freeways, die den endlosen Brei des urban sprawl durchqueren. Oder ist dies eine antiquierte Sicht?
Spätestens mit der Ausstellung „Overdrive: L.A. Constructs the Future, 1940–1990“ könnte es sich so verhalten. Was die Architekturabteilung des Getty Research Institute – eine der vier Säulen „des“ Getty – unter Leitung von Wim de Wit und James Alexander zur einen Hälfte aus eigenen Beständen, zur anderen als Leihgaben zusammengetragen hat, räumt mit den Klischees über L.A. kräftig auf.
Zuallererst ist die Ausstellung, die den Sommer über im Getty Center L.A. (1991–1997 von Richard Meier) mit großem Erfolg gezeigt wurde und jetzt in Washington DC Station macht, ein Ausflug in die weithin vergessene Geschichte von Stadt und Region und ein Beitrag, ja Anstoß, zur lokalen Identitätsbildung. Eine Stadt, die für die Mehrzahl ihrer Bewohner nicht der Geburtsort ist, in der Hispanics mitt­lerweile die Hälfte der 10 Millionen Bewohner des gut 10.000 Quadratkilometer großen Los Angeles County stellen, die nicht-hispanischen Weißen hingegen weniger als ein Drittel, kann auf kein gewach­senes Geschichtsbewusstsein setzen. Es ist immer die Zukunft, auf die der Ausstellungstitel hinweist, die in Los Angeles bewältigt werden will.
Nicht die Mobilität hat Los Angeles geformt, sondern die Industrie hat Mobilität gefordert und zugleich gefördert. Auch in L.A. selbst wird verkannt, wie stark die Stadtentwicklung von ihrer Industrie geprägt ist. In den zwanziger Jahren stammte zeitweilig ein Fünftel der Welt-Erdölförderung aus Los Angeles! Auto- und Reifenfirmen folgten, und bereits Ende der zwanziger Jahre kam auf drei Angelenos ein Auto. Die Luft- und Raumfahrtindustrie spielt seit dem Zweiten Weltkrieg eine dominierende Rolle, mit sieben über das ganze L.A.-Bassin verteilten, größeren Produktionsstandorten. Allein die Medienindustrie für Film und Fernsehen ist über die Chiffre „Hollywood“ jedermann geläufig. Die Ausstellung zeigt in Karten, Plänen und Fotografien, wie die Industrie das Bild der Stadt formte, besonders durch die Anziehung großer Zahlen von Arbeitssuchenden, für die nach Ende des Krieges dank massiver Subventionen aus dem US-Bundeshaushalt die endlosen Vorstädte mit ihren typisierten Einfamilienhäusern errichtet wurden. Massenkonsum und Massenkultur folgten.
In Los Angeles zeigten sich Unternehmen in ihrer baulichen Selbstdarstellung experimentierfreudig: Bereits 1952 bezog CBS Television einen kompromisslos im International Style errichteten Komplex (Pereira & Luckmann) und Capitol Records ließ seine Hauptverwaltung kreisrund wie eine Langspielplatte bauen (Welton Becket and Associates, 1956). Diese Tradition setzt sich fort bis zu Frank Gehrys Bürohaus für die Werbeagentur Chiat/Day im Vorort Venice (1991) – mit einer PKW-Einfahrt in Gestalt eines überdimensionalen Fernglases von Claes Oldenburg.
Bekannt sind die eleganten, schwebenden, zuweilen transparenten Privathäuser an den Hängen der Santa-Monica-Berge von Richard Neutra oder Rudolph Schindler, von Roy Kappe und John Lautner. Zuvor entstanden Sozialwohnungssiedlungen von Housing Group Architects – mit Frank Lloyd Wright – oder Southeast Housing Architects. An öffentlichen Bauten kamen 1965 das Los Angeles County Museum of Art hinzu und natürlich der 1962 in Dienst gestellte Flughafen LAX, Los Angeles International. An beiden war Platzhirsch William Pereira beteiligt.
Das Opern- und Konzerthaus Dorothy Chandler Pavilion in Downtown, entworfen vom Architekturbüro Walton Becket und 1964 eröffnet, erfuhr bereits die aufkeimende Kritik am Funktionalismus.
­Natürlich fehlen in der Ausstellung die Ingenieurleistungen der Freeways und ihrer Intersections nicht. Ihre ingenieurtechnische Eleganz ist unbestreitbar. Was heutzutage in Asien in Beton gegossen wird, hat nur sehr entfernt Ähnlichkeit damit. Über die Kehrseiten muss nicht gestritten werden, sie liegen offen zutage. Ein lange geleugneter Aspekt ist die optische Verdrängung der Quartiere ethnischer Gruppen, über die die Hochstraßen hinwegführen, ohne dass der Autofahrer ihrer überhaupt gewahr wird. Seine Aufmerksamkeit wird von den riesigen Werbetafeln absorbiert, die jede Wahrnehmung von Stadt verhindern.
Mit der alteuropäischen Stadt hat das nichts mehr zu tun. Es mag sein, dass, wie Thomas Gaehtgens, der Berliner Emeritus für Kunstgeschichte an der Spitze des Getty Research Institute, im Vorwort des höchst informativen Katalogs schreibt, für den Besucher „das Gefühl der Desorientierung schwer zu überwinden“ ist: „Los Angeles stellt alle europäischen Gewohnheiten in Frage, wie eine Stadt zu erfahren ist.“ Aber das gilt für viele asiatische Mega-Cities gleichermaßen, ja bereits für das ausufernde Moskau. Und umgekehrt gilt es für Los Angeles allmählich eher weniger, seit Wolkenkratzer baurechtlich zugelassen sind und sie die Zentren geschäftlicher Aktivitäten markieren, seit die Stadt ihre Downtown kräftig re-urbanisiert hat und weiter verdichtet, seit ein Nahverkehrsnetz im Aufbau ist, das an die goldenen Zeiten des öffentlichen Verkehrs in den zwan­ziger Jahren zumindest anknüpft.
Die Ausstellung „Overdrive“, die nun an der Ostküste der USA den kalifornischen Traum und Albtraum zugleich vorstellt, ist jedenfalls ein Meilenstein, nicht nur für die kollektive Erinnerung der Angelenos. Sie ist ein Lehrstück in Sachen Zukunft; auch solcher, die längst vorbei ist, wenn wir ihrer überhaupt erst bewusst werden. 

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