Bauwelt

Bis das Wasser kommt

Taktiken der Infrastruktur-Versorgung und lokale Netzwerke in einer illegalen Siedlung am Wasser

Text: Bertuzzo, Elisa T., Berlin

Eventteaser Image
  • Social Media Items Social Media Items

Foto: Günter Nest

  • Social Media Items Social Media Items

Foto: Günter Nest


Eventteaser Image
  • Social Media Items Social Media Items

Foto: Günter Nest

  • Social Media Items Social Media Items

Foto: Günter Nest


Bis das Wasser kommt

Taktiken der Infrastruktur-Versorgung und lokale Netzwerke in einer illegalen Siedlung am Wasser

Text: Bertuzzo, Elisa T., Berlin

Wie wird eine Halbinsel aus Müll und Bauschutt ohne jegliche planerische Intervention mit Wasser und Strom versorgt? Wie entwickeln ländliche Migranten ihren Parallel­kosmos in einer der ärmsten Städte der Welt? Und wie weit reicht Selbstversorgung? Elisa Bertuzzo wollte Antworten auf diese Fragen – und mietete sich für zwei Monate ein Zimmer in Karail Bosti, dem größten Slum Dhakas
Man muss den Ort wechseln, am besten mehrmals, um über Karail Bosti zu schreiben, die Vertrautheit des Schreibtischs verlassen, die Selbstverständlichkeit der eigenen Rhythmen vermissen. Ist man nicht in Karail Bosti, läuft man nicht täglich über die katcha rasta – die ungepflasterten Wege, die sich von Jahr zu Jahr in die Landschaft einkerben –, fällt das Schreiben über das „Wohnen im Slum“ schwer, wird gekünstelt und gestelzt.
Bosti heißt Siedlung, aber in der Fachdiskussion wie auch im Alltagsgebrauch gelten Orte wie Karail als „Slums“. Mit ihnen werden Armut, degradierte Umwelt, prekäre Wohn- und Lebensbedingungen verbunden. Karail ist unter Dhakas Armensiedlungen eine besonders etablierte: Vor 30 Jahren kamen die ersten Siedler hier an, inzwischen sind ihre Kinder Erwachsene, die ebenfalls hier wohnen oder arbeiten. In letzter Zeit, das heißt, nachdem andere große Bosti geräumt wurden, sticht Karail auch wegen seiner Ausdehnung hervor. Die aus Bauschutt und unzähligen Schichten von Müll bestehende Halbinsel im Banani Lake hat eine Fläche von ca. 160.000 Quadratmetern; etwa 120.000 Menschen sollen dort wohnen.
Ist man nicht in Karail Bosti, unterbrechen weder befreundete Kinder noch ein Stromausfall den angefangenen Satz, so muss man selbst Unterbrechungen forcieren. Losziehen, in die feuchte Kälte des winterlichen Berlins. Die Unbequemlichkeit des Ohne-festes-Zuhause-Sein spüren, Verlust­ängste, Angst, den Faden zu verlieren – oder aber das kleine Zimmer mit den Wellblechwänden, in dem vor allem Kleidung und wenige Utensilien gestapelt sind, bei der Rückkehr nicht mehr zu finden. Den Schal über die Schulter ziehen – dieselbe Bewegung, mit der Frauen und Männer ihre großen viereckigen shaal über die Kleidung ziehen. So tauche ich dank des Körpergedächtnisses wieder in Karail Bosti ein.
Wasserroutinen
Zum Beispiel in das morgendliche Warten der Frauen auf ein Zeichen der „Wasser-Jungs“. Wenn sie gegen 6 Uhr aufstehen und das Frühstück für Ehemann und Kinder vorbereiten, ist das Wasser in den Plastikkanistern meistens fast verbraucht. So trinkt man zum scharfen masala aus Kartoffel und anderem Gemüse kaum etwas. Die Männer werden später in einer der Buden am Straßenrand ein Glas Tee bestellen. Vor allem in den heißen Sommermonaten ist nicht einmal mehr Wasser fürs Abspülen übrig, und so bleiben die Teller und Kochutensilien auf dem Boden, an der Türschwelle der Hütte.
Der Alltag der Hausfrauen in Karail Bosti, vom Abspülen zum Gießen der Gemüse- und Gewürzpflanzen, vom Duschen zum Waschen der kleineren Kinder, hängt mit der Verfügbarkeit oder dem Mangel von Wasser zusammen. Deswegen ist die Zeit vor der Wasserlieferung, besonders wenn sie mit Verspätung geschieht, zugleich von Ungeduld und von einer willkommenen, weil seltenen, Untätigkeit geprägt. Nachbarinnen besuchen einander oder tauschen sich in den offenen Räumen zwischen den Hütten aus; sie reden über die Kinder, über Geburten und Tode, über die steigenden Kosten der Nahrungsmittel und die Verwandten im Dorf. Oft schweigen sie. Sie teilen sich die gleiche Infrastruktur: abgesehen von Kochstellen und Nasszellen auch das gemeinschaftliche System zur Wasserversorgung, für das jedoch individuell bezahlt wird.
Endlich kommen die Wasser-Jungs. Sie schließen einen herumliegenden Gartenschlauch – die gemeinsame „Wasserleitung“ – mit einem anderen zusammen, der anscheinend von weit her geleitet wird. Das Wasser fließt. Frauen und Mädchen füllen das Wasser für den ganzen Tag ab, Kanister um Kanister, in strenger Routine, die maximal 15 Minuten dauert: Auf mehr haben sie kein Anrecht; mehr Kanister würden auch nicht in ihre kleinen Häuser passen. Danach beginnen die Hausarbeiten; als erstes wird Wasser abgekocht, damit es ohne Gefahr getrunken werden kann.
Da der Bau von Brunnen teuer ist – die existierenden wurden von Hilfsorganisationen gesponsert, in den seltensten Fällen von Bewohnergruppen selbst besorgt – und es nicht immer gelingt, im Untergrund „gute“ Wasserquellen zu finden, nutzt die Mehrzahl der Bewohner von Karail dieses System. Die Jugendlichen sind freilich keine Angestellten des öffentlichen Sektors und auch nicht Teilnehmer eines selbstverwalteten Projekts für die infrastrukturelle Aufwertung, sondern arbeiten für sogenannte mastan, einflussreiche Personen, die aus der Notsituation in der vom Staat nicht erschlossenen, weil für illegal erklärten Siedlung ein Geschäft zu machen wissen. Sie zapfen das Wasser in den versorgten Wohnhäusern der Umgebung, gegen Bezahlung an deren Besitzer oder Verwalter, und bieten es zu einem überhöhten, da keiner Kontrolle unterliegenden Preis den Bewohnern an.
Von Wasserschläuchen und Stromkabeln zu Spargruppen und Komitees
Genau wie das Wasser wird auch der Strom über ein dichtes Kabelnetz von den Häusern der Nachbarschaft aus nach Karail geleitet. Jede Hütte ist inzwischen mit einer Glühbirne ausgestattet, die meisten außerdem mit einem Deckenventilator für die heiße Sommerzeit und die darauf folgenden stickigen Monate des Monsuns; einige besitzen einen Fernseher. Strom ist für die zahlreichen Läden – Lebensmittelgeschäfte, Video­games-Buden, Schneidereien, Recycling- und Eisenwerkstätten, Teebuden und improvisierte Video-Shops – sowie für den seit Kurzem überdachten Großmarkt, auf dem Gemüse, Fisch und Fleisch verkauft werden, essentiell. Mit ihm können Bewohner und Händler allerdings nicht immer rechnen. Stromausfälle sind in Dhakas Wohngebieten wegen des hohen Verbrauchs des Industrie- und Dienstleistungssektors, der die städtischen Versorgungskapazitäten bei Weitem übersteigt, üblich; am längsten und häufigsten sind sie in den Bosti. Deren Bewohner, die monatlich zwischen 3000 und 5000 Taka (umgerechnet 30 bis 50 Euro) verdienen, bezahlen für die Grundversorgung mit Wasser und Strom rund 1000 Taka pro Monat: gemessen an der gelieferten Leistung bis zu zehnmal mehr als die Bewohner normal versorgter Gebäude.
Schlauchbündel am Boden, die Straßen entlang, Kabelstränge über den Wellblechdächern: Das Sinnbild des Gewebes oder des Netzwerks materialisiert sich in Karail Bosti in vielfältiger Weise. Beispielsweise haben die Bewohner gemeinschaftlich Anlegestellen für kleine Boote eingerichtet und teilweise hochwasserfest gemacht, um von der Halbinsel aus die südlich verlaufende Hauptstraße und das östlich gelegene Wohn- und Businessviertel besser zu erreichen. Diese Anlegestellen markieren den Start- und den Endpunkt des Tages für Tausende, die morgens für den Weg zur Schule, zu Dhakas Obst- und Gemüsemärkten, zu schlecht bezahlten Arbeitsplätzen in den Häusern der Mittelschicht, in Universitäten, Büros und in den Fabriken im Osten der Stadt, den Bosti verlassen, und spät abends oder nachts zurückkehren. Rudimentäre Abwasserkanäle werden von größeren Nachbarschaften, Toiletten und Nasszellen von benachbarten Familien gemeinsam eingerichtet und instand gehalten.
In Karail sind auch unzählige „Spargruppen“ und shomiti, „Komitees“, aktiv. Die Spargruppen sind eine Reaktion auf die Schwierigkeit vieler Stadtmigranten, die mangels Vermögens und legaler Anschrift kein Bankkonto eröffnen können. Legen alle ihre Ersparnisse zusammen, kommt eine ausreichende Summe zustande. Außerdem findet sich in jeder Gruppe jemand, der über eine feste Anschrift im Dorf oder bei Verwandten in Dhaka verfügt. Eine Besonderheit von Karails Spargruppen ist, dass ihre Mitglieder aus derselben Region stammen müssen. Damit wird sichergestellt, dass keiner der Teilhaber das gemeinsame Konto missbraucht: In der stark dorfgebundenen, auf lokalen Netzwerken und sozialer Kontrolle beruhenden Gesellschaft Bangladeschs würde, wer mit dem Geld verschwinden sollte, schnell gefunden. Die Komitees hingegen widmen sich verschiedensten Anliegen, von der Entwicklung und Ausweitung der lokalen Märkte über die Organisation von Kulturveranstaltungen und die Sammlung von Spenden für die zahlreichen Moscheen bis zur Instandsetzung von Straßen nach dem Monsun oder nach besonders starken Stürmen, denen oft kurzfristige Überschwemmungen folgen.
Insulare Autarkie, soziales Kapital oder bloße Notlösungen?
Karail Bosti hat sich im Laufe der Jahre vor dem Hintergrund einer doppelten „Isolation“ entwickelt. Zum Einen einer geografischen bzw. räumlichen: Der See bildet südlich und östlich eine natürliche Grenze, und zwischen der Siedlung und dem städtischen Gefüge im Norden und Westen bestehen nur einzelne Berührungspunkte. Dies behinderte die Mobilität ihrer Bewohner nicht, trug aber zu einer starken Abgrenzung der Siedlung gegenüber ihrem Umfeld bei. Das hängt teils mit der Bausubstanz zusammen, die sich von der der (post)modernen Beton-Glas-Gebäude der Umgebung deutlich unterscheidet, teils mit der Tatsache, dass sich in der Siedlung eigene Rhythmen, Regeln und Strukturen herausgebildet haben. Jeder, der heute auf den beiden von Norden und Westen kommenden Hauptstraßen am Bosti vorbeifährt, fühlt sich mit einer unsichtbaren Grenze konfrontiert: Hier das heterogene, fragmentierte Dhaka, da der genauso chaotisch wirkende, aber durchorganisierte Kosmos Karails.
Zum Anderen wurde das Bosti von planerisch-admini­s­trativer Seite allein gelassen: Weder erwiesen sich die wiederholten Versuche der Räumung als effektiv, noch wurden Maßnahmen für eine minimale Erschließung ergriffen. Damit stellt Karail ein typisches Beispiel dar: Unter Dhakas innerstädtischen Armensiedlungen haben (laut 2009 erhobenen Daten von UN-Habitat) ca. 60 Prozent keine Ableitungskanäle oder Entwässerungsanlagen, obwohl sie aufgrund ihrer Lage nahe am Wasser oder auf tiefliegendem Gelände größerer Überschwemmungsgefahr ausgesetzt sind (siehe Seite 36); Brunnen sind nur in 40 Prozent der Siedlungen vorhanden. Wie das in Dhaka angesiedelte Centre for Urban Studies 2005 ermittelte, verfügen 60 Prozent der städtischen Armen lediglich über provisorische Toiletten, die sich mehrere Familien teilen. Der Rest muss ohne jegliche Einrichtung auskommen.
In diesem Zusammenhang könnten alle Initiativen mit denen Karail mindestens grundversorgt wird, als positive Handlungen einer aktiven konstruktiven Gemeinschaft erscheinen. Indessen reichen die Mittel nur für Notlösungen aus: Die Abwasserkanäle sind offen und verlaufen entlang der Häuser auf Straßenebene. Hygienische Probleme und Luft- sowie Wasserverschmutzung sind zwangsläufig die Folge. So gibt es im Banani Lake, in den die Abwässer sowie ein Großteil des Mülls der Siedlung direkt geleitet werden, keine Fische mehr. Seit einigen Jahren wird die Zunahme von Seuchen, vor allem Typhus und Denguefieber, beklagt – nicht nur bei Bewohnern des Bosti.
Squatters, Broker und Grundbesitzer
Vor Ort wird einem mehr als die Unzulänglichkeit der improvisierten Infrastrukturversorgung klar. Spürbar ist auch das Weiterbestehen hierarchischer Strukturen, die womöglich das größte Hindernis für emanzipatorische Prozesse bilden – die selten angesprochene Kehrseite der im Westen oft bewunderten Informalität. Zwar leben alle Bewohner unter prekären Bedingungen, in einem ökologisch und hygienisch beeinträchtigten, illegal entwickelten Teil Dhakas, der durch improvisierte Konstruktionen, unzureichende Infrastruktur, häufige Bauunfälle, Brände sowie leichte und schwere Überschwemmungen charakterisiert ist. Und in den Erzählungen aller finden sich die Schwierigkeiten, vom Dorf in die unbekannte Großstadt zu gehen, wieder, die geplatzten Träume, die Armut, der Landverlust oder katastrophale Hochwasser.
Aber es wäre verkehrt, Gleichheit unter Slumbewohnern zu erwarten. In Karail verlangten von Anfang an lokale Machthaber, sich auf ein „Recht der Erstangekommenen“ berufend, eine „Bodennutzungs-Gebühr“ für das Bauen von Behausungen – obwohl der Boden, auf dem Karail erbaut ist, hauptsächlich dem Staat gehört. Ein Begriff wie Bodenrecht bedeutet hier allerdings wenig. In der Konsequenz sprechen inzwischen viele von ihrem Boden, wenn sie vom Stück Land erzählen, auf dem ihr Haus oder ihr Laden steht. Auf den Einwand, dieser Boden gehöre dem Staat und niemand anderes sei befugt, ihn zu besitzen, zu kaufen oder zu verkaufen, gehen sie nicht ein. Stattdessen legen sie mir die Regeln eines kaltblütigen Handelsmarkts dar: In kritischen Zeiten könne etwa von jenen, die befürchten, vertrieben zu werden, Land zu niedrigen Preisen erworben und dann, nach Ablauf der Krise, gewinnbringend weiterverkauft werden. Gute Geschäfte habe man zum Beispiel machen können, als die lokale Telefongesellschaft kurz nach der Privatisierung ein Zeichen setzen wollte und Räumungen in dem ihr gehörenden Teil des Bosti unternahm. In einem solchen System, das wird klar, verlieren stets die Schwächsten – jene, die keine Rückendeckung und nicht das Talent zum guten „Broker“ haben.
Während diese „Immobilienspekulation“ für Außenstehende nicht erkennbar ist, wirkt eine andere Form der „Investition in Wohneigentum“ raumorganisierend. In früheren Zeiten baute jeder Neuankömmling selbst eine Hütte an einem mit gemeinschaftlichen Hygiene-Einrichtungen und Kochstellen ausgestatteten Innenhof, die er nach und nach erweitern konnte. Das entstehende Hütten-Cluster ähnelte der klassischen Struktur bengalischer Bauernhöfe, in denen verwandte Haushalte als „joint family“ leben. Karails erste Siedler erzählen, dass sie ihre Hütten so organisierten, um für die schnell wachsende Großfamilie oder für weitere Angehörige vom Land Platz schaffen zu können. Heutzutage hingegen nehmen Einzelne Teilgebiete unter Kontrolle und errichten auf diesen längliche Wellblechbaracken. Pro Baracke werden vier bis sieben Einzelzimmer, zwischen sechs und neun Quadratmeter groß, gebaut, die dann für 1500 bis 2000 Taka pro Monat (ca. 15 bis 20 Euro) an bis zu siebenköpfige Familien vermietet werden.
Diese langgezogenen Baracken haben in den letzten fünf bis zehn Jahren sowohl das Stadtgefüge als auch die Raumerfahrung von Karail verändert. Wer sich, an Wächtern und Hausmeistern vorbei, Zugang zu einem der noch unbewohnten Luxusapartments in den nahe gelegenen Wohntürmen verschafft und von dort einen Blick auf Karail wirft, muss bei der geometrischen Aneinanderreihung an eine Kaserne denken. Im Alltag nehmen die Bewohner eher die Befremdlichkeit des neuen Straßenbilds wahr: Die schmalen, meist von fensterlosen Wellblechfronten eingefassten Straßenzüge stehen in schmerzhaftem Kontrast zu den belebten und sicheren Geschäftsstraßen der Siedlung. Diese Entwicklung hat auch mit der heute sehr viel höheren Bevölkerungsdichte in Karail zu tun, die eine effiziente Raumnutzung nötig macht. 2010 sind die ersten zweistöckigen Bauten entstanden; seit einiger Zeit werden sogar professionelle Zimmermänner eingestellt, die ganze Häuserreihen und gar Laubenganghäuser auf Stelzen anfertigen und so Karail über der Wasserfläche erweitern. Diese Entwicklung belegt aber auch die ungleichen Machtverhältnisse zwischen ärmeren bzw. machtlosen und reicheren bzw. mächtigen Bewohnern, welche gemeinschaftliche Räume für sich vereinnahmen, existierende Hütten abreißen lassen oder ihnen das Privileg der Wassernähe durch Reihen neuer Häuser auf Stelzen vor ihren Türen stehlen können.
Mythos Informalität
Karails „professionalisiertes“ Grundversorgungssystem mit Wasser und Strom, die Bodenspekulationen unter Squatters oder der auf Massenproduktion orientierte Wohnungsmarkt liefern Beispiele für Taktiken, die weder improvisiert noch unbewusst sind. Im Gegenteil, sie sind so klar und universell akzeptiert, dass sie unter den Bewohnern nicht einmal der Erläuterung bedürfen. Tradierte und nicht-urbane Normen, wie Gehorsam und Abhängigkeit von Protektoren, dominieren sie und lassen für Selbstorganisation, von Emanzipation ganz zu schweigen, wenig Raum übrig. So wie der extrem hohe Preis der Wasser- und Stromgrundversorgung eine Verbesserung der Lebensbedingungen ökonomisch schwacher Haushalte verhindert, können Belange, die über eine Privatversorgung mit Strom oder Wasser hinaus gehen, wie beispielsweise Müllsammlung, Straßenbeleuchtung und -pflasterung oder Kanalisation, nicht angegangen werden.
Das vielbeschworene Bild eines informellen Sektors, der nur punktueller Unterstützung durch den Staat bedarf, erweist sich vor diesem Hintergrund als entwicklungspolitisch kontraproduktive oder zumindest zweideutige Hülle, die differenzierten stadtplanerischen Ansätzen im Wege steht. Längst überfällige integrierte Stadtentwicklungsmaßnahmen bleiben aus, und Tausende leben weiter unter menschenunwürdigen Verhältnissen. Währenddessen wird Informalität an Universitäten und internationalen Institutionen der „Entwicklungszusammenarbeit“ als „organisierende Logik“ von Urbanisierung zelebriert. Angesichts solcher, sich kaum berührender Parallelwelten und der Dringlichkeit einer Veränderung der Lage ist die Frage, die mich 2009 beim Einzug nach Karail Bosti begleitete – Wie organisieren sich ländliche Migranten in Megacities? – hinfällig. Sie lautet heute viel eher: Wie sollten sich ländliche Migranten in Megacities organisieren, um politischen Vertretern und Entwicklungsberatern zu zeigen, dass, sichere Besitzverhältnisse und Basisversorgung vorausgesetzt, ihre Wohnsiedlungen etwas anderes als Slums sein können?

0 Kommentare


loading
x
loading

24.2024

Das aktuelle Heft

Bauwelt Newsletter

Das Wichtigste der Woche. Dazu: aktuelle Jobangebote, Auslobungen und Termine. Immer freitags – kostenlos und jederzeit wieder kündbar.