Bauwelt

Das große Aufräumen

Text: Becker, Ulrich, Berlin; Pfotenhauer, Erhart, Berlin

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Das große Aufräumen

Text: Becker, Ulrich, Berlin; Pfotenhauer, Erhart, Berlin

Bis zum 40. Jubiläum der Machtübernahme Gaddafis im Jahr 2009 sollten die „Reformer“ des Regimes der libyschen Hauptstadt ein komplett neues Gesicht verleihen. Beraten ließen sich die Verantwortlichen von einer Gruppe Berliner Stadtplaner. Zwei Beteiligte berichten von ihren Erfahrungen.
Bei der Fahrt durch Tripolis fallen immer wieder riesige, oft noch mit Bauschutt bedeckte Sandflächen auf, die teilweise Fragmente neuer Gebäude erkennen lassen. Sie sind nicht etwa Überbleibsel der letztjährigen Revolution, sondern des „großen Aufräumens“ Muammar al-Gaddafis, das in den vergangenen Jahren mit dem wirtschaftlichen Aufschwung Libyens einherging. Durch die Ölförderung erzielte Staatseinnahmen von bis zu 120 Mio. Euro täglich ermöglichten es, die lange vernachlässigte Infrastruktur zu erneuern und umfangreiche Bauvorhaben anzupacken. Im Rahmen des „großen Aufräumens“ wurden Tausende Großprojekte begonnen, darunter Planungen für eine neue Eisenbahn- und Autobahntrasse von Tripolis nach Kairo und über Tunis nach Marokko sowie zahlreiche große Wohnungsneubauprojekte.
Die von Gaddafi 2002 initiierte afrikanische Union und die Aufhebung des UN-Embargos gegen Libyen 2003 schufen die Basis für ein neues nationales Selbstbewusstsein. Vor al­lem die Hauptstadt Tripolis sollte bis 2009, zum 40. Jahrestag der Machtübernahme Gaddafis, ein neues Gesicht erhalten, das andere Züge als die des ungeliebten kolonialen italienischen Städtebaus tragen würde. Zur städtebaulichen Orientierung blickte Libyen in die Golfstaaten. Außer Hochhäusern und Luxushotels entlang der Küste sollten ein Regierungsviertel an der Peripherie, Einkaufszentren sowie neue, mit einem Grüngürtel gegliederte Stadtviertel entstehen (siehe S. 14/15).
Das 2006 verkündete Wohnungsbauprogramm sah vor, in den größeren libyschen Städten innerhalb von fünf Jahren 500.000 Wohnungen zu errichten. Allein in der Hauptstadt waren 17 innenstadtnahe „Sub-Standard-Gebiete“, insgesamt etwa 2100 Hektar, für den Stadtumbau markiert. Für eine differenzierte Betrachtung der baulichen und städtebaulichen Defizite in diesen Gebieten fehlte der politische Wille ebenso wie einschlägige Erfahrung und die nötige Sensibilität. Stattdessen setzte eine zentralistische Planungsverwaltung die Projekte mit aberwitzig kurzen zeitlichen Vorgaben in Gang.
Dies entbehrte nicht nur jeglichen Realitätssinns, es barg auch die Gefahr der Destabilisierung der gesamten Stadtstruktur. Das Budget wurde mehrfach erhöht, und man war der irrigen Annahme, mit Geld könne man innerhalb kürzester Fristen alles regeln – und sämtliche, auch prozessimmanente Hindernisse beiseiteräumen. Zersplitterte Zuständigkeiten und widersprüchliche Verfahrensabläufe waren Ausdruck der Inkompetenz und der Ineffizienz eines „von ganz oben“ mittels intransparenter Entscheidungen gelenkten Verwaltungsapparats. Jeglicher öffentlicher Planungsdiskurs wurde im Keim erstickt. Es herrschten erhebliche Vorbehalte gegenüber erhaltender Aufwertung bzw. kleinteiliger Stadtreparatur. Soziale, bauliche und städtebauliche Bestandsdaten waren bei den zuständigen Stellen nicht erhältlich, Bewohnerbefragungen nicht erwünscht. Das Ziel des „Jahrhundert-Projekts“ Stadtumbau – nichts weniger als eine Neudefinition der gesamten Stadt – sollte hauptsächlich durch Neubebauung erreicht werden.

Al Fallah – Kahlschlag am Rande der Innenstadt
Besondere Bedeutung beim „großen Aufräumen“ kam dem Stadtumbaugebiet Al Fallah zu, das unmittelbar vor den Toren der ehemaligen Gaddafi-Residenz liegt (siehe S. 14). Durch das Gebiet verläuft eine wichtige Magistrale der Stadt, die Al Fallah Road. Sie ist ein Stück einer historischen Handelsstraße Afrikas, die in der Altstadt begann und durch den gesamten Kontinent führte. Ihr Verlauf wurde durch den Bau der hermetisch abgeschirmten Gaddafi-Residenz unterbrochen. An der Straße siedelten sich im Laufe der letzten fünfzig Jahre zahlreiche Gewerbe- und Industrieunternehmen an, eine Mischung aus einfachen Lagerschuppen, teilweise repräsentativen Produktions- und Verwaltungsgebäuden bis zu einzelnen Wohnbauten. Mit diesem Erscheinungsbild stand die Al Fallah Road im Widerspruch zu den Repräsentationsabsichten Gaddafis, der die Straße und die angrenzenden Gebiete zu einem Vorzeigeprojekt entwickeln wollte. Hier waren Wohnungen und Infrastruktur für 90.000 Bewohner sowie mehrere Tausend Arbeitsplätze in Bürobauten an den Hauptverkehrsstraßen vorgesehen.
Nach mehreren ergebnislosen Planungsanläufen mit lokalen Büros erhielt 2007 eine Gruppe Berliner Planer (u.a. ETC Transport Consultants, Infraconsult, planungsgruppe proUrban und Z-Plan) unter Federführung des Büros UrbanPlan den Auftrag für die Masterplanung des Gebiets. Doch schon während der Erörterung von Planungsalternativen begann auf Anweisung „von oben“ der Abriss der Bebauung auf dem 230 Hektar großen Areal. Bewohner und Gewerbeunternehmen hatten zuvor bereits Entschädigungszahlungen erhalten, waren jedoch wegen der stockenden Planung im Gebiet geblieben. Jetzt stellte man ihnen die Abrissbagger vor die Tür und ließ ihnen nur wenige Stunden Zeit, ihre Häuser zu verlassen.
Gleichzeitig entbrannte eine erbitterte Auseinandersetzung um den Städtebau des neuen Stadtteils. Unterstützt von den „Reformern“ des Gaddafi-Regimes schlugen die Berliner Planer ein robustes System von überwiegend sechsgeschossigen Baublöcken vor. Es wurde ergänzt durch wenige Hochhäuser an zentralen Standorten und künftigen Kreuzungspunkten des öffentlichen Nahverkehrs. In den verschatteten Innenhöfen der Blöcke sollte dichte Bepflanzung für ein gutes Mikroklima sorgen, die Al Fallah Road ein urbaner Boulevard mit zentralen Versorgungseinrichtungen, Geschäften, Büros und Apartments werden. Dieses Konzept wurde von den Apologeten der „arabischen Moderne“ als „Städtebau in der Tradition der italienischen Kolonialarchitektur“ diskreditiert. Sie setzten ihm das von einem koreanischen Bauunternehmen vorgelegte Konzept entgegen, das die Bebauung des gesamten Gebiets mit nur fünf verschiedenen Typen von Wohnhochhäusern vorsah. Eines ihrer Hauptargumente war das aufgrund der standardisierten Bautypen besonders günstige Preisangebot von weniger als 400 Euro pro Quadratmeter BGF.
Nach hitzigen Diskussionen wurde schließlich dem Blocksystem der Vorzug gegeben. Kurz darauf übertrugen die Auftraggeber die Ausführung des Projekts mehreren Investorengruppen, da sie mit der zeitgleichen Steuerung von landesweit mehr als 6000 Großprojekten überfordert waren. Das Ergebnis der nicht publik gemachten überarbeiteten Masterplanung ist im Süden des Stadtumbaugebiets an den großmaßstäblichen Bauskeletten der inzwischen begonnenen Investorenprojekte zu erkennen, während am nördlichen Rand des Areals ein Modell-Block realisiert wurde, der sich an den Planungen der Berliner Büros orientiert.
Seit Beginn der militärischen Auseinandersetzungen im Februar 2011 ruhen sämtliche Baustellen. Mittlerweile wird neu über die Paradigmen des künftigen Städtebaus nachgedacht, das Ergebnis ist noch offen.

Abu Salim – Stadterneuerung im Bestand
Im Kontrast zur Kahlschlagsanierung von Al Fallah steht der Versuch, das benachbarte Gebiet Abu Salim (siehe S. 15) be­hutsam zu erneuern. Auf einer Fläche von 460 Hektar sind hier eine dichte Wohnbebauung und Infrastruktureinrichtungen für rund 20.000 Bewohner, zahlreiche kleine Läden, Gewerbebetriebe und Büros sowie der größte Textilienmarkt der Stadt angesiedelt. Das Gebiet ist in weiten Teilen geprägt vom engen Blockraster lückenlos aneinandergereihter Einfami­lien­häuser aus den 1950er Jahren. Zwischen der kleinteiligen Bebauung, die einen unkontrollierten Um- und Ausbau durch die Bewohner erfahren hat, verlaufen meist schmale Erschließungsstraßen, die wenig Raum für den ruhenden Verkehr bieten. Das strenge Blockraster wird durch breitere, teils diagonal verlaufende Straßen mit Quartiersplätzen gegliedert.
Um die hohe städtebauliche Qualität wie auch die Sozialstruktur der Quartiere zu erhalten, warben die Berliner von Beginn an für einen langfristigen Stadterneuerungsprozess.  Dieser bot sich auch an, weil bis 2009 bestenfalls einzelne Modellprojekte, nicht aber die flächenhafte Stadterneuerung umsetz­bar war. Das Planungsteam entwickelte ein modulares Modernisierungs- und Aufstockungskonzept für die dichte Einfami­lienhausbebauung. Vereinzelt sollten nicht mehr bewohnbare Gebäude abgerissen und durch kleine Neubauten, Pocketparks mit Spielplätzen oder Parkplätze ersetzt werden. Für in den siebziger und achtziger Jahren hinzugekommene Geschossbauten, inzwischen meist verwahrlost und zu sozialen Brennpunkten geworden, sowie für Behelfsbauten des Basars wurden Neubaukonzepte entwickelt.
Die Pläne wurden der Verwaltung für die Abstimmung und die Weiterentwicklung mit den Bewohnern übergeben. Zumindest in Teilen des Gebietes hat die Verwaltung sie akzeptiert und es wurde mit dem Ausbau der Erschließungsstraßen begonnen. Infolge der politischen Wirren des vergangenen Jahres kamen alle Aktivitäten zum Erliegen.

Stadtentwicklung als demokratisches Lernfeld
Libyen hat aktuell große strukturelle Probleme zu lösen. Nach dem Vorbild Norwegens müsste der aus Erdöl-Einnahmen herrührende Wohlstand langfristig gesichert und klug in nachhaltige Entwicklungsprojekte investiert werden. Das setzt ei­nen demokratischen Diskurs ebenso voraus wie eine verän­derte Planungskultur. Städtebau und Stadtentwicklung gewinnen in diesem Kontext neue Bedeutung. Eine öffentliche Debatte um die Erneuerung der Stadtquartiere hat noch nicht eingesetzt. Sie könnte sich auch in Libyen als „Schule der Demokratie“ erweisen. Der behutsame Umbau der riesigen, die Innenstadt von Tripolis umgebenden Quartiere braucht mehrere Jahrzehnte. Nach dem Ende von Gaddafis Herrschaft steht eine große Zahl von Projekten auf dem Prüfstand, die derzeit nach Dringlichkeit, Umfang und Steuerungsbedarf bewertet werden. Ein nur geringer Teil der Vorhaben wird in absehbarer Zeit umgesetzt werden. Dazu gehört, wie das Infrastrukturministerium Ende Juni bekannt gab, der von den Berliner Planern bearbeitete Verkehrsentwicklungsplan.  

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