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„Das hier ist kein Kiez“

Berlins Böhmisches Dorf wird 275

Text: Schultz, Brigitte, Berlin

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TU Berlin

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„Das hier ist kein Kiez“

Berlins Böhmisches Dorf wird 275

Text: Schultz, Brigitte, Berlin

Das Böhmische Dorf im Berliner Stadtteil Neukölln feiert sein 275-jähriges Bestehen. Dem Bezirk ist das Anlass, den weitgehend unbekannten Ort mit einer Ausstellung ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Diese verbindet das Flüchtlingsdorf von damals mit dem Migrationsort von heute.
Es ist selten, dass mich eine Ausstellung beschäftigt, bevor ich sie betrete. In diesem Fall lieferte ihr Titel mir Anlass zur Grübelei. „Keine Urbanität ohne Dörflichkeit“ – wirklich? Oder werden hier zwei schillernde Begriffe zusammengezwungen, die gegensätzlicher nicht sein könnten? Wer, so wie ich, vom Lande kommt und dort nicht geblieben ist, verbindet Dörflichkeit vor allem mit einer eingeschworenen Engstirnigkeit; ihr Klischeebild findet diese in den bohrenden Blicken, die den Fremden beim Betreten der Dorfschenke empfangen. Viele ziehen in die Stadt, um der Enge zu entkommen. Dort suchen sie sich dann einen Kiez, der ihnen die Größe der Metropole in vertraute Dimensionen herunterbricht, was gemeinhin wiederum als Ideal des urbanen Lebens gehandelt wird.

Dieser scheinbare Widerspruch hat die Macher der Ausstellung zu Geschichte und Charakter des Böhmischen Dorfs mitten in Berlin offensichtlich auch beschäftigt, denn sie empfangen den Besucher mit eben jenem Gegensatz zwischen Stadt und Land. Im ersten Raum präsentiert die Berliner Professorin Cordelia Polinna, die selbst von den Böhmischen Einwanderern abstammt und die Ausstellung gemeinsam mit ihren Studenten konzipiert hat, eine anregende Bilder- und Zitatesammlung. Während Christian Morgenstern das Böhmische Dorf reimend umkreist, philosophiert allen voran der Soziologe Georg Simmel über die Unterschiede im Wesen von Klein- und Großstadt – die Blasierheit! –, der Architekt Hanns Adrian erinnert sich der Geister der Vergangenheit oder die Journalistin Jenny Friedrich-Freksa reflektiert über Enge und Freiheit im Mikrokosmos Dorf. Dazwischen geben Neuköllner Kneipenwirte, junge Mütter, Studenten, Freaks und Hipster (mit und ohne Migrationshintergrund) Einblicke in ihr persönliches Neukölln, bei denen man ein Gefühl dafür bekommt, dass der Ausstellungstitel nicht so schlecht gewählt ist. „Das hier ist kein Kiez, es ist wirklich wie ein Dorf“, erklärt ein junger Mann in lila Socken vor dem Schaufenster seines „offenen kollektiven Projektraums“.

Ankerpunkte einer neuen Heimat
Woraus sich dieses Dorf zusammensetzt, und wie es für die Böhmischen wie auch für heutige Migranten zum Ankunftsort wurde, an dem sie sich Ankerpunkte einer neuen Heimat schufen, wird im zweiten Raum im wahrsten Sinne des Wortes aufgedröselt. Ein Fadengewirr verbindet 19 Orte auf einem mittig im Raum liegenden Schwarzplan mit ihrer an den Wänden hängenden Charakterisierung. Hier wird schön die Mischung deutlich von traditionsreichen böhmischen Orten – wie den Gehöften der Kolonisten, der Kirchgasse (die heute für ungestörte Treffen unter Jugendlichen genutzt wird) oder dem Betsaal der evangelischen Brüdergemeinde – und zeitgenössischen Bezugspunkten, wie dem Frauentreff, dem veganen Café oder der Moschee. Auszüge aus rund 50 Interviews vermitteln ihre Relevanz für den Alltag der Anwohner und erzählen beiläufig so manche Neuköllner Biografie.

Das nötige Hintergrundwissen – Wer ist eigentlich wohin ausgewandert und warum? Wie hat sich das Dorf über die Jahrhunderte entwickelt? – ist in einem Zeitstrahl im letzten Raum übersichtlich aufbereitet. Pläne und Archivbilder machen nachvollziehbar, wie den aus ihrer Heimat aus religiösen Gründen vertriebenen Böhmen auf einem sandigen Stück Land Zuflucht gewährt wurde, wie sie ihr Leben dort räumlich und sozial organisierten und wie ihr Dorf langsam aber sicher von den Mietskasernen Berlins umschlossen wurde.

Im Anschluss an den Ausstellungsbesuch bietet sich die Erkundung des denkmalgeschützten Böhmischen Dorfs an, das nur ein paar hundert Meter östlich der Galerie liegt. Eine Markierung der vorgestellten Orte im Stadtraum und in einer Karte ist in Vorbereitung.

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