Dem Ort auf der Spur
Text: Aicher, Florian, Leutkirch
Dem Ort auf der Spur
Text: Aicher, Florian, Leutkirch
Der Ort. Der besondere Ort. Ein Mysterium der Architektur? Als „Genius Loci“ gar die Geheimwaffe einer zwischen Eventspektakel und Bedeutungslosigkeit schwankenden Zunft?
„Immer vor Ort“, so lässt sich beim Deutschen Städte- und Gemeindebund nachlesen, werde „Baukultur“ erlebbar, der man mit „Ortsbildanalyse“, „Ortsgeschichte“ zu „ortsgerechter Gestaltung“ aufzuhelfen habe. Man fühlt sich etwas an die schwäbische Wurstverkäuferin erinnert: „Darf’s a bissele meh sei?“ Für den Ort soll gestaltet werden, wahlweise: Der Ort soll gestaltet werden. Es offenbart sich ein ungebrochen instrumentelles Verständnis, das sich dem Ort gegenüber wissend und etwas gönnerhaft gibt.
„Kein einfacher Schutzgeist“
Anders da schon Peter Zumthors „Aus dem Ort heraus, in den Ort hinein“. Doch was und wie? Die Inspirationsquelle schlechthin, so Jan Kleihues? Unbrauchbar, da Quell einer unübersehbaren Zahl möglicher Interpretationen, wie Andreas Hild meint? Ein Charakter, der, mit Dietmar Eberle, mehr mit Wissen als mit Intuition zu tun habe? Weit ausgreifend Friedrich Achleitner: „Genius Loci ist ein humanistischer Begriff, aufgeschäumt mit Romantik, verwissenschaftlicht durch Kunstgeschichte, ausgelaugt durch Entwerfen und zu Tode praktiziert durch Regelwerk. Also, schon lange kein einfacher Schutzgeist mehr.“ Also ein komplexer Schutzgeist? Wir erfahren es nicht, spüren aber den Bogen, den der Meister um den heißen Brei macht. Was ist so Unschickliches dran? Prälingual sei der Ort, so Peter Wilson, und nützlich sei es, zu ihm zurückzukehren.
Wann berührt uns ein Ort? Es sind besondere, bleibende Reize, Rätselhaftes, Sinnliches und Ratio, die wirken, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, verdichten. Vielfach sind es landschaftliche Verdichtungen. Ist es erstaunlich, dass besonders das Gebirge, diese verdichtete Masse, die geradezu Synonym für das Erhabene ist und die das Bauen zur Konzentration zu nötigen scheint, reich an solchen Orten ist?
Ein Grund, sich hoch droben umzusehen: zwei Orte, zwei Regionen unterschiedlicher bäuerlicher Kultur, eine diesseits, eine jenseits des Alpenhauptkamms. Zum einen das Große Walsertal in Vorarlberg mit den Gemeinden Thüringerberg, Blons und Marul, typische nordalpine Streusiedlungen, mit schwach ausgeprägten Zentren, mit Holzbauten und Viehwirtschaft. Zum andern Soglio im Bergell, ein typisches Haufendorf, mit Steinbauten und einst fast autarker Acker- und Viehwirtschaft. Zwei Besonderheiten in Soglio: Die Palazzi derer von Salis verleihen dem Ort einen städtischen Anstrich, und „Ackerbau“ wird auch als Bewirtschaftung des größten Esskastanienhains Europas betrieben.
Die unterschiedliche Bau-Struktur bringt für heutiges Bauen unterschiedliche Aufgaben mit sich. Während in den Walser Streusiedlungen der Raum zwischen den Bauten, die Verdichtung zu Ortschaften, die Ausbildung von Ortskernen im Vordergrund steht, ist dieses Thema im bereits hoch verdichteten Haufendorf Soglio undenkbar: Das einzelne Objekt und seine Gestaltkultur stehen im Vordergrund.
Köpfe, die sich zeigen
Beide Orte sind noch immer durch Landwirtschaft geprägt – bemerkenswerterweise mit steigender Tendenz, obwohl alle Voraussetzungen agrar-industrieller Besitznahme fehlen. Bereits hier bemerkt der Besucher, was die Qualität dieser Ortschaften ausmacht: Es sind die Menschen, die eigeninitiativ ihre Angelegenheiten anpacken und dem Agrar-Mainstream Paroli bieten. So mit Dorfladen und revitalisierter Sennerei in Thüringerberg, wo die Initiatorin mit stoischem Gleichmut bürokratischer Einmischung trotzt und den „Biosphärenpark Walsertal“ ganz ohne Betreuung durch Experten derartiger Projekte mit Leben füllt. So in Soglio, wo die Zahl der Bauern sogar zugenommen hat, trotz der Schwere der Arbeit und der Anstrengung, sich mit hochwertigen Nahrungsmitteln einen eigenen Weg jenseits der geförderten Massenproduktion offenzuhalten.
Köpfe findet man hier wie dort, die sich mit ihren Werken zeigen. In beiden Orten haben zwei Menschen starke Spuren hinterlassen – durch ihr Bauen, ihre Architektur. Im Großen Walsertal ist das Bruno Spagolla, Jahrgang 1949, Schüler von Roland Rainer an der Wiener Akademie, seit Anfang der achtziger Jahre in Bludenz selbständig, Mitglied der Vorarlberger Baukünstler. In Soglio ist es Armando Ruinelli, Jahrgang 1954, Autodidakt und Michael-Alder-Schüler, seit Anfang der Achtziger hier selbständig. Beide sind von jung auf vertraut mit dem Ort, sind hineingewachsen in Themen, in das Gemeinwesen, in Problemlösungen gebauter Art. So wurden beide Architekten ihres Ortes.
Das ist ein Prozess, der sich über Jahrzehnte hinzieht. In beiden Fällen zeigen sich anfangs Einflüsse abstrakter Lehre – der Architekturlehre der Metropole und des Handwerks. Dem folgen Bauten, die auf der Höhe ihrer Zeit sind, dem neuen Bauen ihrer Region verpflichtet. Den aktuellen Bauten ist ein Sich-frei-Schwimmen anzumerken, eine neue Souveränität. Diese Befreiung geschieht nicht trotz, sondern gleichzeitig mit Bindung an die Gemeinde, bei Armando Ruinelli gar zeitweise als Bürgermeister von Soglio. Das festigt, verleiht Souveränität (und Flügel) und stärkt die Person des Architekten – noch immer der erste Grund starker Architektur.
Bild durch Tun
Der Ort: ein Ganzes, ein qualitativ zu bestimmender Teil des Raumes, nicht teilbar, ohne dessen Wesen zu verlieren; eine Mitte, die anziehend wirkt; mit Eigenschaften, die über einen längeren Zeitraum konstant bleiben. Gefügt aus vielfältigen sachlichen Kriterien, wie Topografie, Klima, Baustruktur, Materialien, Bauweisen.
Die geheimnisvolle Schlange war den Römern Zeichen des Genius Loci, der nicht Einzelne, sondern die Familie auszeichnete, dem generativen Prinzip der Sippe verpflichtet. Schon im Ursprung des Wortes liegt begründet: Es geht nicht nur um sachlich-räumliche Qualitäten, sondern auch um solche der Zeit, der langen Zeit des Hervorbringens, nicht des rasenden Stillstandes. Und: Der Ort ist eine soziale Kategorie. Das Zusammenspiel Mehrerer ist gemeint. Das macht ihn zu einem lebendigen Organismus, der sich aus sich selbst entfaltet. Ort bezeichnet ein Gemeinwesen, dessen Handlungen und Gewohnheiten, die sich in den sichtbaren Dingen niedergeschlagen haben. Der Ort, mindestens als Ortschaft, ist auch Produktivkraft und Werk menschlicher Arbeit, ja, Tätigkeit, Arbeit selbst. Orte, die nicht aus sich heraus aktiv sind, sich nicht erneuern, laufen Gefahr, einen musealen Tod zu sterben.
Vielleicht verdeutlicht ein Zuruf aus dem flachen Land am Meer, aus der Hauptstadt Kopenhagen, was damit gemeint ist: Kai-Uwe Bergmann, Partner des derzeit besonders angesagten Architekturbüros BIG, führte auf einer Veranstaltung zum Thema Bauen in den Alpen Anfang des Jahres in München aus: Wesentlich für das Leben in den Alpen seien aus seiner Sicht die gewachsenen sozialen Strukturen, die Nachbarschaftsverhältnisse, die Hierarchie öffentlicher bis privater Räume auf vergleichsweise engem Raum. Aus diesen Gründen plane das Büro in Dänemark Häuser als Berge (Bauwelt 42.10).
All das lässt geraten sein, in den Blick zu nehmen, was der Ort, was die Ortschaft ganz besonders ist: das Werk lebendiger Personen. Der Ort ist keine räumliche Abstraktion. Er ist dort, wo Menschen anschauliche Rahmenbedingungen vorfinden. Verdichtung muss spürbar sein, zum Bild geworden. Wenn Rilke, der 1919 Gast in Soglio war, davon spricht, dass Tun ohne Bild nur hinfällige Dinge hervorbringt, so sei umgekehrt ergänzt: Der Ort ist Bild durch Tun. Dann kann der Ort Katalysator für Architektur werden, so wie Architektur eines seiner Wesensmerkmal werden kann. Das ist eine Qualität, die nicht gleichermaßen verteilt zu finden ist – im Einerlei städtischer „Agglomeration“ nicht unbedingt. Die Peripherie hingegen bietet dafür nicht den schlechtesten Nährboden.
Ein Lebensgefühl
An dieser Stelle kommt man um einen Namen nicht herum: Gion A. Caminada, Architekt von Vrin. Er hat, wie kaum ein anderer in letzter Zeit, auf diesen Zusammenhang insistiert – als Einspruch gegen den Positivismus einer Planungsstudie des ETH Studio Basel. Entgegen der dort empfohlenen Auflassung peripherer Siedlungsgebiete ist ihm die Peripherie Impulsgeber, kultureller Raum aus Produktion, Wissen und Bedeutung, dessen Vitalität nicht einseitigen Werten geopfert werden darf. Die globale Zivilisation des permanenten Informationsaustauschs – als Professor der ETH Zürich weiß Caminada, wovon er spricht – führe dazu, „dass man Information, Ideologien oder Versatzstücke aufschnappt, und dann überall zu ähnlichen Schlüssen kommt“.
Erlebt, ist der Raum mehr als die Summe seiner Informationen. Und dieser mentale Raum, das Lebensgefühl des Menschen, ist auch eine Frage der Dimension: „In einem überschaubaren Raum kann der Mensch einen Willen entwickeln und Verantwortung übernehmen. Wenn ich mich einlasse auf einen Ort, dann schaffe ich eine eigene Identität. Diesen psychischen Raum baulich zu verstärken und prägnant zu machen, ist mein Anliegen.“ Da liegen Potenziale des Ortes, der Peripherie. Caminadas Plädoyer: den Unterschied zwischen Peripherie und Zentrum deutlich machen. „Ich habe mir ein Ziel gesetzt: die Differenz herauszustreichen. Differenzen zwischen den Orten, unterschiedliche Qualitäten eines Ortes. Das kann eine Konstruktion sein, ein Material, eine Struktur.“ Und die Dialektik von Welt und Ort versteht Caminada „als bewussten Rückgriff auf regionale Eigenheiten, die mit dem Wissen der Welt verdichtet werden.“
Soglio
Der Ort, ein klassisches Haufendorf romanischer Bergwirtschaft, liegt auf einer Sonnenterrasse auf 1100 Metern, abseits des alten Handelsweges im Tal. Ungewöhnlich: die in den Ort integrierten Palazzi der bedeutenden Adelsfamilie von Salis. Soglio gehört zu den am besten erhaltenen traditionellen Siedlungen des Alpenraums. 20.000 Übernachtungen pro Jahr bei 200 Einwohnern belegen die Bedeutung des Tourismus, ohne dass es hier eine ausgeprägte entsprechende Infrastruktur gäbe. Die Besucher sind Wanderer, Bergsteiger und Kulturreisende (das nahe Stampa ist Geburtsort der Familie Giacometti, in Castasegna steht Sempers Villa Garbald mit dem Wohnturm von Miller/Maranta). Dem Ort galt Mitte der 1980er Jahre eine der eindrucksvollsten Bestandsaufnahmen durch den Basler Architekten Michael Alder und Studenten: „Soglio. Siedlung und Bauten“.
Großes Walsertal
„Wann fährt der letzte Bus hinaus“, fragt der Tourist hinten im Walsertal den Bauern. „Sel weret Si nit erläbe“, bekommt er zur Antwort. Ein gewisser Eigensinn wird den Walsern nachgesagt, und was im Norden Ostfriesenwitze, sind hier Walserwitze.
Ab dem Hochmittelalter besiedelten sie in typischer Streusiedlung das Tal. Am Südhang, auf etwa halber Höhe, eine Reihe kleinerer Kirchen, darunter die Probstei St. Gerold, mit der die Siedlungsgeschichte im Tal ihren Anfang nahm. Ansonsten landwirtschaftliche Familienbetriebe, zunehmend Auspendler, kaum Durchgangsverkehr, Tourismus in einfachster Form. Bis Ende der 90er Jahre war die Siedlungsbilanz negativ. Das konnte gewendet werden – gewiss auch deshalb, weil man sich mit dem Strukturwandel in der Region zu befassen begann. Das schlug sich auch in der Anerkennung als Biosphärenpark im Jahr 2000 nieder. Seit dieser Zeit ist die Entwicklung der Kirchplätze zu Ortszentren zu verzeichnen. Die Bevölkerung ändert sich – seit einigen Jahren macht das Kulturfestival „Walserherbst“ international von sich reden.
„Kein einfacher Schutzgeist“
Anders da schon Peter Zumthors „Aus dem Ort heraus, in den Ort hinein“. Doch was und wie? Die Inspirationsquelle schlechthin, so Jan Kleihues? Unbrauchbar, da Quell einer unübersehbaren Zahl möglicher Interpretationen, wie Andreas Hild meint? Ein Charakter, der, mit Dietmar Eberle, mehr mit Wissen als mit Intuition zu tun habe? Weit ausgreifend Friedrich Achleitner: „Genius Loci ist ein humanistischer Begriff, aufgeschäumt mit Romantik, verwissenschaftlicht durch Kunstgeschichte, ausgelaugt durch Entwerfen und zu Tode praktiziert durch Regelwerk. Also, schon lange kein einfacher Schutzgeist mehr.“ Also ein komplexer Schutzgeist? Wir erfahren es nicht, spüren aber den Bogen, den der Meister um den heißen Brei macht. Was ist so Unschickliches dran? Prälingual sei der Ort, so Peter Wilson, und nützlich sei es, zu ihm zurückzukehren.
Wann berührt uns ein Ort? Es sind besondere, bleibende Reize, Rätselhaftes, Sinnliches und Ratio, die wirken, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, verdichten. Vielfach sind es landschaftliche Verdichtungen. Ist es erstaunlich, dass besonders das Gebirge, diese verdichtete Masse, die geradezu Synonym für das Erhabene ist und die das Bauen zur Konzentration zu nötigen scheint, reich an solchen Orten ist?
Ein Grund, sich hoch droben umzusehen: zwei Orte, zwei Regionen unterschiedlicher bäuerlicher Kultur, eine diesseits, eine jenseits des Alpenhauptkamms. Zum einen das Große Walsertal in Vorarlberg mit den Gemeinden Thüringerberg, Blons und Marul, typische nordalpine Streusiedlungen, mit schwach ausgeprägten Zentren, mit Holzbauten und Viehwirtschaft. Zum andern Soglio im Bergell, ein typisches Haufendorf, mit Steinbauten und einst fast autarker Acker- und Viehwirtschaft. Zwei Besonderheiten in Soglio: Die Palazzi derer von Salis verleihen dem Ort einen städtischen Anstrich, und „Ackerbau“ wird auch als Bewirtschaftung des größten Esskastanienhains Europas betrieben.
Die unterschiedliche Bau-Struktur bringt für heutiges Bauen unterschiedliche Aufgaben mit sich. Während in den Walser Streusiedlungen der Raum zwischen den Bauten, die Verdichtung zu Ortschaften, die Ausbildung von Ortskernen im Vordergrund steht, ist dieses Thema im bereits hoch verdichteten Haufendorf Soglio undenkbar: Das einzelne Objekt und seine Gestaltkultur stehen im Vordergrund.
Köpfe, die sich zeigen
Beide Orte sind noch immer durch Landwirtschaft geprägt – bemerkenswerterweise mit steigender Tendenz, obwohl alle Voraussetzungen agrar-industrieller Besitznahme fehlen. Bereits hier bemerkt der Besucher, was die Qualität dieser Ortschaften ausmacht: Es sind die Menschen, die eigeninitiativ ihre Angelegenheiten anpacken und dem Agrar-Mainstream Paroli bieten. So mit Dorfladen und revitalisierter Sennerei in Thüringerberg, wo die Initiatorin mit stoischem Gleichmut bürokratischer Einmischung trotzt und den „Biosphärenpark Walsertal“ ganz ohne Betreuung durch Experten derartiger Projekte mit Leben füllt. So in Soglio, wo die Zahl der Bauern sogar zugenommen hat, trotz der Schwere der Arbeit und der Anstrengung, sich mit hochwertigen Nahrungsmitteln einen eigenen Weg jenseits der geförderten Massenproduktion offenzuhalten.
Köpfe findet man hier wie dort, die sich mit ihren Werken zeigen. In beiden Orten haben zwei Menschen starke Spuren hinterlassen – durch ihr Bauen, ihre Architektur. Im Großen Walsertal ist das Bruno Spagolla, Jahrgang 1949, Schüler von Roland Rainer an der Wiener Akademie, seit Anfang der achtziger Jahre in Bludenz selbständig, Mitglied der Vorarlberger Baukünstler. In Soglio ist es Armando Ruinelli, Jahrgang 1954, Autodidakt und Michael-Alder-Schüler, seit Anfang der Achtziger hier selbständig. Beide sind von jung auf vertraut mit dem Ort, sind hineingewachsen in Themen, in das Gemeinwesen, in Problemlösungen gebauter Art. So wurden beide Architekten ihres Ortes.
Das ist ein Prozess, der sich über Jahrzehnte hinzieht. In beiden Fällen zeigen sich anfangs Einflüsse abstrakter Lehre – der Architekturlehre der Metropole und des Handwerks. Dem folgen Bauten, die auf der Höhe ihrer Zeit sind, dem neuen Bauen ihrer Region verpflichtet. Den aktuellen Bauten ist ein Sich-frei-Schwimmen anzumerken, eine neue Souveränität. Diese Befreiung geschieht nicht trotz, sondern gleichzeitig mit Bindung an die Gemeinde, bei Armando Ruinelli gar zeitweise als Bürgermeister von Soglio. Das festigt, verleiht Souveränität (und Flügel) und stärkt die Person des Architekten – noch immer der erste Grund starker Architektur.
Bild durch Tun
Der Ort: ein Ganzes, ein qualitativ zu bestimmender Teil des Raumes, nicht teilbar, ohne dessen Wesen zu verlieren; eine Mitte, die anziehend wirkt; mit Eigenschaften, die über einen längeren Zeitraum konstant bleiben. Gefügt aus vielfältigen sachlichen Kriterien, wie Topografie, Klima, Baustruktur, Materialien, Bauweisen.
Die geheimnisvolle Schlange war den Römern Zeichen des Genius Loci, der nicht Einzelne, sondern die Familie auszeichnete, dem generativen Prinzip der Sippe verpflichtet. Schon im Ursprung des Wortes liegt begründet: Es geht nicht nur um sachlich-räumliche Qualitäten, sondern auch um solche der Zeit, der langen Zeit des Hervorbringens, nicht des rasenden Stillstandes. Und: Der Ort ist eine soziale Kategorie. Das Zusammenspiel Mehrerer ist gemeint. Das macht ihn zu einem lebendigen Organismus, der sich aus sich selbst entfaltet. Ort bezeichnet ein Gemeinwesen, dessen Handlungen und Gewohnheiten, die sich in den sichtbaren Dingen niedergeschlagen haben. Der Ort, mindestens als Ortschaft, ist auch Produktivkraft und Werk menschlicher Arbeit, ja, Tätigkeit, Arbeit selbst. Orte, die nicht aus sich heraus aktiv sind, sich nicht erneuern, laufen Gefahr, einen musealen Tod zu sterben.
Vielleicht verdeutlicht ein Zuruf aus dem flachen Land am Meer, aus der Hauptstadt Kopenhagen, was damit gemeint ist: Kai-Uwe Bergmann, Partner des derzeit besonders angesagten Architekturbüros BIG, führte auf einer Veranstaltung zum Thema Bauen in den Alpen Anfang des Jahres in München aus: Wesentlich für das Leben in den Alpen seien aus seiner Sicht die gewachsenen sozialen Strukturen, die Nachbarschaftsverhältnisse, die Hierarchie öffentlicher bis privater Räume auf vergleichsweise engem Raum. Aus diesen Gründen plane das Büro in Dänemark Häuser als Berge (Bauwelt 42.10).
All das lässt geraten sein, in den Blick zu nehmen, was der Ort, was die Ortschaft ganz besonders ist: das Werk lebendiger Personen. Der Ort ist keine räumliche Abstraktion. Er ist dort, wo Menschen anschauliche Rahmenbedingungen vorfinden. Verdichtung muss spürbar sein, zum Bild geworden. Wenn Rilke, der 1919 Gast in Soglio war, davon spricht, dass Tun ohne Bild nur hinfällige Dinge hervorbringt, so sei umgekehrt ergänzt: Der Ort ist Bild durch Tun. Dann kann der Ort Katalysator für Architektur werden, so wie Architektur eines seiner Wesensmerkmal werden kann. Das ist eine Qualität, die nicht gleichermaßen verteilt zu finden ist – im Einerlei städtischer „Agglomeration“ nicht unbedingt. Die Peripherie hingegen bietet dafür nicht den schlechtesten Nährboden.
Ein Lebensgefühl
An dieser Stelle kommt man um einen Namen nicht herum: Gion A. Caminada, Architekt von Vrin. Er hat, wie kaum ein anderer in letzter Zeit, auf diesen Zusammenhang insistiert – als Einspruch gegen den Positivismus einer Planungsstudie des ETH Studio Basel. Entgegen der dort empfohlenen Auflassung peripherer Siedlungsgebiete ist ihm die Peripherie Impulsgeber, kultureller Raum aus Produktion, Wissen und Bedeutung, dessen Vitalität nicht einseitigen Werten geopfert werden darf. Die globale Zivilisation des permanenten Informationsaustauschs – als Professor der ETH Zürich weiß Caminada, wovon er spricht – führe dazu, „dass man Information, Ideologien oder Versatzstücke aufschnappt, und dann überall zu ähnlichen Schlüssen kommt“.
Erlebt, ist der Raum mehr als die Summe seiner Informationen. Und dieser mentale Raum, das Lebensgefühl des Menschen, ist auch eine Frage der Dimension: „In einem überschaubaren Raum kann der Mensch einen Willen entwickeln und Verantwortung übernehmen. Wenn ich mich einlasse auf einen Ort, dann schaffe ich eine eigene Identität. Diesen psychischen Raum baulich zu verstärken und prägnant zu machen, ist mein Anliegen.“ Da liegen Potenziale des Ortes, der Peripherie. Caminadas Plädoyer: den Unterschied zwischen Peripherie und Zentrum deutlich machen. „Ich habe mir ein Ziel gesetzt: die Differenz herauszustreichen. Differenzen zwischen den Orten, unterschiedliche Qualitäten eines Ortes. Das kann eine Konstruktion sein, ein Material, eine Struktur.“ Und die Dialektik von Welt und Ort versteht Caminada „als bewussten Rückgriff auf regionale Eigenheiten, die mit dem Wissen der Welt verdichtet werden.“
Soglio
Der Ort, ein klassisches Haufendorf romanischer Bergwirtschaft, liegt auf einer Sonnenterrasse auf 1100 Metern, abseits des alten Handelsweges im Tal. Ungewöhnlich: die in den Ort integrierten Palazzi der bedeutenden Adelsfamilie von Salis. Soglio gehört zu den am besten erhaltenen traditionellen Siedlungen des Alpenraums. 20.000 Übernachtungen pro Jahr bei 200 Einwohnern belegen die Bedeutung des Tourismus, ohne dass es hier eine ausgeprägte entsprechende Infrastruktur gäbe. Die Besucher sind Wanderer, Bergsteiger und Kulturreisende (das nahe Stampa ist Geburtsort der Familie Giacometti, in Castasegna steht Sempers Villa Garbald mit dem Wohnturm von Miller/Maranta). Dem Ort galt Mitte der 1980er Jahre eine der eindrucksvollsten Bestandsaufnahmen durch den Basler Architekten Michael Alder und Studenten: „Soglio. Siedlung und Bauten“.
Großes Walsertal
„Wann fährt der letzte Bus hinaus“, fragt der Tourist hinten im Walsertal den Bauern. „Sel weret Si nit erläbe“, bekommt er zur Antwort. Ein gewisser Eigensinn wird den Walsern nachgesagt, und was im Norden Ostfriesenwitze, sind hier Walserwitze.
Ab dem Hochmittelalter besiedelten sie in typischer Streusiedlung das Tal. Am Südhang, auf etwa halber Höhe, eine Reihe kleinerer Kirchen, darunter die Probstei St. Gerold, mit der die Siedlungsgeschichte im Tal ihren Anfang nahm. Ansonsten landwirtschaftliche Familienbetriebe, zunehmend Auspendler, kaum Durchgangsverkehr, Tourismus in einfachster Form. Bis Ende der 90er Jahre war die Siedlungsbilanz negativ. Das konnte gewendet werden – gewiss auch deshalb, weil man sich mit dem Strukturwandel in der Region zu befassen begann. Das schlug sich auch in der Anerkennung als Biosphärenpark im Jahr 2000 nieder. Seit dieser Zeit ist die Entwicklung der Kirchplätze zu Ortszentren zu verzeichnen. Die Bevölkerung ändert sich – seit einigen Jahren macht das Kulturfestival „Walserherbst“ international von sich reden.
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