Der Mehrwert der massiven Wand
Editorial
Text: Kleilein, Doris, Berlin
Der Mehrwert der massiven Wand
Editorial
Text: Kleilein, Doris, Berlin
Je mehr WDVS auf Hauswänden klebt, desto größer wird die Sehnsucht nach einfachen, langlebigen Alternativen. Eine davon sind monolitische Wände: 75 Zentimeter Ziegel in Lustenau, 55 Zentimeter Leichtbeton in Berlin.
„Wärmedämmverbundsystem und Verbrechen“ heißt ein Beitrag, der vor mehr als drei Jahren an dieser Stelle veröffentlicht wurde (Bauwelt 9.2010). Die Autoren Kerstin Molter und Mark Linnemann forderten die Architektenschaft dazu auf, sich auf bewährte Bauprinzipien zu besinnen, anstatt Gebäude zuzukleben. Und sie stellten grundlegende Annahmen der Energieeinsparverordnung (EnEV) in Frage: „Wie rechtfertigt sich, dass die solaren Energiegewinne der massiven Wände keine Berücksichtigung in der Energieeinsparverordnung finden, dass also die massive Bauweise eindeutig benachteiligt wird?“ Im Januar tritt die EnEV 2014 in Kraft. Was die Bewertung massiver Wände angeht, hat sich auch in der neuen Fassung nichts verändert.
Wo bleibt die Lobby?
Architekten und Bauherren, die nach vorne denken, haben es schwer in dieser energiepolitischen Gemengelage. Vormoderne Wandstärken von mehr als einem halben Meter sind nötig, will man auf das konventionelle Wärmedämmverbundsystem verzichten. Das erfordert Haltung, gegenüber den verlorenen Quadratmetern, den verlorenen Zinsen (Wie dick müsste wohl eine massive Wand sein, um einen KfW-40-Kredit genehmigt zu bekommen?), den kurzfristig günstigen Lösungen der Produktanbieter. Doch nicht alle sehen in der Suche nach Alternativen ein Verlustgeschäft. Der Mehrwert der massiven Wand, die durchgängig aus einem Material besteht, ist nicht nur eine immobilienwirtschaftliche Frage. Die Neubauten, die in diesem Heft diskutiert werden, geben Anhaltspunkte: Werte wie „Einfachheit“ und „Reinheit“ nennt der Berliner Bauherr als Motivation, „Komfort“ und „Wohlbefinden“ der österreichische Architekt, der sein eigener Bauherr ist. Im Vordergrund steht bei beiden Häusern die Atmosphäre, das, was den Nutzern und Bewohnern im Alltag bleibt. Natürlich, das sind weiche, subjektive Kriterien. Auch kann man den beiden Gebäuden eine privilegierte Ausgangslage nicht absprechen: Baumschlager Eberle haben in Vorarlberg auf der grünen Wiese gebaut, da kommt es auf ein paar Quadratmeter mehr oder weniger nicht an. Und in Berlin-Mitte ist der Verzicht auf ein wenig Wohnfläche auch kein Ausschlusskriterium, da die zu erwartende Wertschöpfung ohnehin enorm ist.
Doch die Hinwendung zum Massiven kann man nicht als die diffuse Sehnsucht einer Elite nach neuen Werten abtun. Sie zahlt sich, auf lange Sicht, auch finanziell und gesellschaftlich aus, bringt sie doch eine Eigenschaft mit, die auch im Hinblick auf die Energiewende erwünscht sein sollte: die Dauerhaftigkeit.
Über die Performance von Wärmedämmverbundsystemen in 15 Jahren, wenn die erste Fassadensanierung ansteht, kann man nur Vermutungen anstellen: Wahrscheinlich werden sie als Sondermüll auf der Deponie landen und so der Welt noch lange erhalten bleiben. Die Energie, die in die Herstellung des Polystyrols geflossen ist, bleibt verloren. Bei einer Wand aus Ziegel oder Beton dagegen weiß man schon heute, was in 100 Jahren zu tun ist: eine Reinigung, ein Anstrich, ein neuer Putz. Es ist an der Zeit, diese Fragen nicht anhand von hier und dort entstehenden Projekten zu beantworten. Politischer Wille ist gefragt. Und der Mut, die Energiewende so komplex zu betrachten, wie sie ist. Wo ist die Bauforschung in Deutschland? Hat sie etwa keine Lobby?
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