Bauwelt

Der Straßencocktail

Stadt und Auto

Text: Hurtado, Jesús Martín, Rotterdam; van Peijpe, Dirk, Rotterdam

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Der Straßencocktail

Stadt und Auto

Text: Hurtado, Jesús Martín, Rotterdam; van Peijpe, Dirk, Rotterdam

Das holländische Büro De Urbanisten untersuchte zehn bedeutende Stadtstraßen Europas – vor und nach einer großen Umgestaltung. Functional Ambiance nennen die Planer ihr Projekt, das sie mit der Universität Rotterdam durchführten. Sie plä­dieren für ein Gleichgewicht zwischen dem fließenden Verkehr und dem öffentlichen Raum. Und für die Einsicht: Das Auto ist nicht der Feind
Es ist beinahe Mittag in Paris. Frühling liegt in der Luft, und die Sonne ist schon angenehm warm. Chloé geht die Rue Cler entlang und bleibt an jedem Marktstand stehen, um sich das Angebot anzusehen. Um sie herum herrscht lebendiges Treiben. Marktverkäufer diskutieren mit Kunden über die Preise ihrer Waren, Touristen schlendern entspannt umher und knipsen alles, was ihnen vor die Linse kommt, und Lieferwagen fahren langsam durch die Menschenmenge, auf der Suche nach einem freien Platz, an dem sie ihre Waren ausladen können.
Zur gleichen Zeit sitzt in Barcelona Guillem im Schatten eines Baumes der Passeig de Sant Joan, vertieft in einen Roman. Ab und zu blickt er von seinem Buch auf, um nach seinen Kindern zu schauen, die auf dem Spielplatz nebenan toben. Vom Straßencafé auf der anderen Seite ist Gelächter zu hören. Wenige Meter von Guillem entfernt rauscht der Verkehr, aber das scheint ihn nicht zu stören. Er taucht wieder in seinen Roman ein.
Was haben diese Straßen gemeinsam? Wir können es Straßenleben nennen. In beiden Straßen ereignen sich täglich alle möglichen Geschichten. Flüchtige Begegnungen, sozialer Austausch, Bewohner begegnen sich – Geschichten, die Straßen zu einem Ort machen.
Straßenleben entsteht nicht automatisch mit verfügbarem Raum, noch ist es bloße Folgeerscheinung irgendeines öffentlichen Programms. Straßen brauchen jedoch eine räumliche Anordnung, die ein solches Leben erst möglich macht. Und an dieser Stelle kommt Straßengestaltung ins Spiel.
Die Balance halten
Was ist das Geheimnis einer guten Straße? Bei der Gestaltung einer Straße werden heute in der Regel zwei scheinbar kon­träre Konzepte verfolgt: die „Straße als Ort“ und die „Straße als Strom“. Für einen Stadtplaner, dem es um die „Straße als Ort“ geht, haben Fußgänger oberste Priorität. Er versucht, eine ruhige oder zumindest beruhigte Straße zu schaffen, die dem Passanten Raum und Sicherheit bietet und Reibungen und Konflikte möglichst vermeidet. Auf die Frage, wie man Ambiente in diese Straße bringt, antwortet der Planer mit einer Fußgängerzone – und einer Beschränkung des Autoverkehrs. Die „Straße als Ort“, die alle Verkehrsströme unterbindet, scheint eine beliebte Lösung zu sein, aber: Das Auto ist nicht der Feind.
Eine Straße ist eine Arterie der Stadt, und sie soll in erster Linie verbinden, Orte erreichbar machen. Bei der Gestaltung einer Straße müssen zunächst funktionelle Faktoren berücksichtigt werden: Verkehrsaufkommen, Überquerungszeiten, Stellplatzbedarf, öffentliche Verkehrsmittel. Die Aufgabe von Verkehrsingenieuren ist es, anhand etlicher Daten und Zahlen eine räumliche Organisation zu entwickeln, mit der sich diese Erfordernisse aus einer funktionalen Perspektive vorhersagen lassen. Aber auch für die Planer gilt die inzwischen verbreitete Erkenntnis, die der Urbanist William H.Whyte bereits 1980 formulierte: „Wenn man für Autos und Verkehr plant, dann bekommt man Autos und Verkehr. Wenn man für Menschen und Orte plant, bekommt man Menschen und Orte.“
Will man gute Straßen schaffen, ist eine Zusammenarbeit aller betroffenen Disziplinen nötig. Die von uns entwickelte Methodik der Functional Ambiance (rechts) soll allen, die sich mit Straßengestaltung befassen, ein Instrument an die Hand geben, um gemeinsam eine Balance zwischen der „Straße als Ort“ und der „Straße als Strom“ zu finden.
Der richtige Mix
Eine gute Straße ist ein Spielbrett, auf dem viele Akteure interagieren. In einer Straße verlaufen Verkehrsflüsse nicht nur linear, wohlgeordnet, sondern kreuz und quer. Wenn Fahrzeug- und Fußgängerbereiche ineinander verflochten sind, gewinnen alle Verkehrsteilnehmer an Bewegungsfreiheit und sind zudem einem wünschenswerten Maß an Reibung ausgesetzt. Ist informelles Queren möglich, verhindert dies eine harte Teilung der Straße durch den Verkehrsstrom. Die gegenüberliegenden Straßenseiten werden miteinander verbunden.
Die Rue Cler in Paris ist ein gutes Beispiel für eine solche Verflechtung. Autos, Motorroller und Fahrräder teilen sich denselben Raum mit Fußgängern, einem Straßenmarkt sowie den Tischen und Stühlen der Cafés. Die schmale Straße sieht wie eine Fußgängerzone aus, doch Verkehr ist zugelassen. Eine durchlaufende Pflasterung dient als Untergrund, auf dem jeder seine Art des Miteinanders mit den anderen findet. Ohne Hindernisse können die Bewohner die Straße frei nutzen. Und die Sicherheit? Die Praxis des Shared Space (Bauwelt 6.2012), entwickelt vom niederländischen Verkehrsplaner Hans Monderman, zeigt, dass mit der Reduzierung räumlicher Begrenzungen und einer informellen Aufteilung der Straße die Unfallzahlen sogar sinken: Autofahrer vermindern ihre Geschwindigkeit, fahren vorsichtiger und achten mehr auf die anderen Straßenbenutzer.
Im französischen Grenoble wurde 1990 die Straße, die den Place Notre Dame mit dem Place Saint-Claire verbindet, als Teil eines neuen Straßenbahnnetzes umgestaltet. Seitdem verläuft der gesamte Verkehr auf einer Ebene: Autos, Straßenbahnen, Motorroller und Fahrräder fahren nicht nur parallel, sie nutzen dasselbe Spielfeld, das groß genug ist, um den Verkehr nicht ins Stocken geraten zu lassen. Es entsteht ein gefühlter Shared Space, ohne Bordsteinkanten oder Zäune, die Bewegungen eingrenzen. Der Fußgängerbereich erstreckt sich faktisch über das gesamte Straßenprofil, als „demokratischer Raum“, offen für alle. Man kann die Straße überqueren, wo immer man das möchte. Es gibt Reibung, aber es besteht keine Gefahr.
Eine ähnliche Straßengestaltung befindet sich in London. Die Exhibition Road ist zu einem der bemerkenswertesten öffentlichen Räume einer europäischen Großstadt geworden. Die Bodengestaltung erhält durch ein Rautenmuster eine Identität mit fast ikonografischer Ausstrahlung. Das Muster verläuft buchstäblich kreuz und quer über ein nicht abgegrenztes Profil. Auch hier ist Shared Space die Hauptstrategie. Doch die Place Notre Dame und die Exhibition Road sind nicht so frei, wie sie aussehen: Eine gewisse Organisation der Straße ist immer erforderlich.
Organisierte Freiheit
Die Exhibition Road wirkt wie ein Shared Space, doch alle Nutzer der Straße sind dort, wo sie sein sollen. Eine Zonierung sorgt für einen möglichst fließenden Verkehr. Das asymmetrische Straßenprofil gibt eindeutig vor, dass die Fußgänger auf der einen Seite gehen, während sich die Fahrzeuge auf der anderen Seite bewegen sollen. Dabei gibt es keine Absperrung, die diese Trennung bewirkt. Dixon Jones Architects, verantwortlich für die Gestaltung, verstehen die mittlere Zone als eine „Austauschfläche“, die zu beiden Bereichen gehört. Diesen Mittelteil füllten die Architekten mit Elementen, die auf der einen Seite eine Verzahnung des Verkehrs ermöglichen, auf der anderen Seite eine subtile Grenze zwischen Autos und Fußgängern ziehen: Parkzonen, Laternen, Bänke und Bushaltestellen. Streng entlang einer Linie geordnet, erzeugen diese funktionalen Objekte nicht nur eine gefühlte Trennung, sondern auch ein Ambiente, ohne die Straße tatsächlich zu zerteilen. Es braucht keine anderen Elemente, weder Schilder, Bordsteinkanten noch Absperrungen. Die Organisation der Straße kommt ohne klare Hindernisse aus. Subtile Maßnahmen funktionieren hier besser, lassen Raum für informelles Verhalten. Aber es gibt kein Patentrezept, um guten Verkehrsfluss mit Aufenthaltsqualität zu verbinden.
Die Rue Cler funktioniert nur deswegen ohne feste Regeln, weil die Straße einen nachgeordneten Stellenwert im Verkehrsnetz der Stadt hat. Bei der Champs-Élysées kann man auf solche Regeln nicht verzichten – Verflechtung wäre der falsche Ansatz für einen der größten und stärksten genutzten Boulevards Europas. Als die Straße 1994 von Bernard Huet neugestaltet wurde, teilte sie der Architekt und Stadtplaner in eine Fußgänger- und eine Verkehrszone. Sein Rezept: keine gezielte Verflechtung, keine informelles Queren, stattdessen ein Vermischen, wenn möglich, und ein Trennen, wo nötig. Die Nebenspuren und die Parkplätze wurden aus dem Straßenprofil entfernt. Das brachte zusätzlich zwölf Meter Bürgersteig auf beiden Seiten, auf denen die vielen Passanten – mit sicherem Abstand zum motorisierten Verkehr – flanieren können. Einen fließenden Verkehr zu ermöglichen, wie es hier geschafft wurde, gilt schließlich nicht nur für Autos, Busse und Roller, auch Fußgänger brauchen ungestörte Bewegungsfreiheit.
Eine Detailarbeit
Auffällig bei all den von uns untersuchten Beispielen ist die Strategie, durch eine Verbreiterung der Bürgersteige die Atmosphäre eines Ortes zu verbessern. Doch bedeutet mehr Platz für Fußgänger tatsächlich immer auch besseres Ambiente? Bei der Champs-Élysées musste der gewonnene Platz erst durch Kioske, Straßencafés und die Metro-Eingänge belebt werden. Wichtige Eingriffe sind die Zonierung, also Unterteilung, der Straße in Orte mit öffentlichen Funktionen und Anziehungspunkten, an denen sich Menschen treffen können, sowie das Ausdehnen der „Innenräume“ angrenzender Geschäfte und Gastronomie auf die Straße. Ein genutzter „Vorraum“, den wir in unserem Konzept als Frontyard bezeichnen.
Bei der Neugestaltung der Passeig de Sant Joan in Barcelona war die Fachwelt geteilter Meinung: Sollte die Straße zu einer Promenade werden – ähnlich der durchs Zentrum führenden Las Ramblas – oder zu einem kompakten Boulevard mit breiten Bürgersteigen? Das ortsansässige Büro Lola Domènech entschied sich für die zweite Variante – mit sicht- und spürbarem Erfolg. Entlang der Bürgersteige verläuft ein elf Meter breiter Grünstreifen, der als Frontyard von Cafés, Gärten und Spielplätze strukturiert wird.
Der Bürgersteig ist allerdings nicht der einzige Abschnitt einer Straße, der von einer Neugestaltung profitieren kann. Jeder Quadratmeter hat das Potenzial, seinen Beitrag zum öffentlichen Raum zu leisten. In der Londoner Kensington High Street und der O’Conell Street in Dublin wurden die Verkehrsinseln, die vorher ausschließlich der Straßenabgrenzung und -überquerung dienten, mit gewagten Eingriffen – z.B. Fahrradstellplätze entlang des Mittelsteifens und Sitzbänke vor einem Denkmal – in nützliche Orte verwandelt. Auf unserer Reise durch Europa waren wir oft erstaunt, wie Interventionen kleinsten Maßstabs menschliches Verhalten beeinflussen können. Auf der Rambla de Catalunya in Barcelona schaffen nur fünfzig Zentimeter zusätzlicher Bürgersteig genug Platz zum Schlendern, gleichzeitig veranlasst die schmalere Fahrbahn Autofahrer, langsamer zu fahren. In der Rotterdamer West-Kruiskade ist die Straßenachse mit einer unterbrochenen Reihe zylindrischer Metallelemente markiert, die Autos am Linksabbiegen hindern, aber Menschen, Fahrräder und Lieferwagen auch ein Queren ermöglichen. In der Amsterdamer Haarlemmerstraat bekamen Ladenbesitzer die gleiche kleine Bank, die sie vor ihren Schaufenstern aufstellen konnten und die sich entlang der Straße als ein verbindendes Symbol finden lässt – aber vor jedem Laden anders platziert wurde. Kleine, aber effiziente Eingriffe, die Straßen zur Qualität eines funk­tionalen wie gern besuchten Stadtraums verhelfen.

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