Der andere Neufert
Ausstellung in Dessau
Text: Kasiske, Michael, Berlin
Der andere Neufert
Ausstellung in Dessau
Text: Kasiske, Michael, Berlin
„Schau im Neufert nach“ wird bei funktionalen Entwurfsfragen selbst in den Architekturbüros geraten, die dem Autor sein Wirken im Nationalsozialismus vorwerfen. Das bis heute ungebrochene Renommee seiner Bauentwurfslehre verstellte lange den Blick auf den Architekten Ernst Neufert.
Die Technische Universität Darmstadt, seine einstige Wirkungsstätte, würdigte 2011 Leben und Werk mit einer Ausstellung, die in erweiterter Form nun in Dessau und danach in Nürnberg zu sehen ist.
Beide Städte sind wichtige Stationen in Neuferts Karriere. In der anhaltinischen Residenzstadt war der 25jährige Büroleiter von Walter Gropius für die Projekte „Bauhaus“ und „Meisterhäuser“ verantwortlich. Nach einer Lehre als Maurer, Zimmerer, Einschaler und Betonierer hatte Neufert nach nur zweijährigem Studium an der Baugewerkschule Weimar und dem Bauhaus nämlich Adolf Meyer ersetzt, der Gropius nicht nach Dessau gefolgt war.
In Nürnberg steht die „Versandmaschine“ für „Quelle“, die Neufert von 1958 bis 1967 in mehreren Schritten errichtete und bis 1975 den sich ändernden Erfordernissen baulich anpasste. Am aktuell leerstehenden Bau des Großversenders mit mehr als 250.000 Quadratmetern Bruttogeschossfläche zeigt sich sein Wille, fordistischen Arbeitsabläufen effizient und sachlich Gestalt zu geben (Bauwelt 1–2. 2012).
Dabei kam Neufert seine schon früh ausgereifte Pragmatik zugute: Er orientierte sich, stets dem wirtschaftlichen, technischen und funktionalen Stand entsprechend, auf das Nützliche. Auch berufliche Entscheidungen fällte er ohne Sentiment. Bereits 1926 verließ er Gropius für eine Professur an der – nach dem Fortgang des Bauhauses – neu gegründeten Bauhochschule in Weimar. Nach deren Auflösung durch den nationalsozialistischen Staatsminister für Inneres und Volksbildung rezensierte Neufert als freier Autor Ausstellungen und Präsentationen vor allem für die Bauwelt, in der auch die ersten Auszüge der Bauentwurfslehre veröffentlicht wurden.
Mit deren Erscheinen im Jahr 1936 rückte der erfolgreiche Organisator ins Blickfeld von Albert Speer. Er ernannte Neufert 1938 zum „Beauftragten für Normungsfragen“, eine Position, die dieser für die Erarbeitung einer „Bauordnungslehre“ nutzte. Das 1943 erstmals publizierte Handbuch propagierte das Oktametrische Maßsystem, konnte jedoch nicht an den Erfolg der Bauentwurfslehre anschließen.
In der Nachkriegszeit avancierte Neufert, hier setzt die Ausstellung an, zum Hausarchitekten verschiedener Firmen, mit denen er teilweise schon seit den 30er Jahren in Kontakt stand. Zu nennen sind die Portland-Cement-Fabrik Dyckerhoff in Amöneburg bei Wiesbaden, das von Jena nach Mainz verlagerte Schott-Werk und das Eternit-Werk im badischen Leimen – deren Bauten decken formal ein Spektrum von skulpturaler Ofenanlage bis minimalistischem Fertigungsgebäude ab.
Bei den kleineren Bauwerken zeigt sich der Einfluss von Frank Lloyd Wright, den Neufert 1936 erstmals besuchte. Neufert arbeitete mit den Kon-trasten unterschiedlicher Materialoberflächen, weit auskragenden Dächern und expressivem Einsatz von Backstein. Nach Wrights Tod 1959 modifizierte er seinen eigenen Stil. In seinem Wohnhaus in Bugnaux-sur-Rolle nahe dem Genfer See von 1964 ist mit den hochgezogenen Dachecken der Einfluss Asiens erkennbar, im etwas später errichteten Hans-Busch-Institut der TH Darmstadt gar der des Brutalismus.
Die stetige Weiterentwicklung, das zeigt die von Werner Durth mit Ralf Dorn und Udo Gleim konzipierte Ausstellung, war die Quelle für Neuferts Erfolg – nicht zuletzt sichtbar an der Bauentwurfslehre, die er bis zu seinem Tod von Auflage zu Auflage überarbeitete. Eine „Baugestaltungslehre“ wollte er über Jahrzehnte hinweg verfassen, doch fehlte es ihm dafür vermutlich an einer Vision. Neuferts Bauwerke sind keine Ikonen der Baukunst, aber vorbildliche, an der jeweils gestellten Aufgabe orientierte Architekturen.
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