Bauwelt

Die erhöhte horizontale Ebene

Rethinking Mies

Text: Campo Baeza, Alberto, Madrid

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Farnsworth House
Foto: Javier Callejas

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Casa Van Thillo in Tarifa
Foto: Javier Calleja

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Casa Van Thillo in Tarifa

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Die erhöhte horizontale Ebene

Rethinking Mies

Text: Campo Baeza, Alberto, Madrid

Die horizontale Fläche, die Plattform, die Ebene ist mehr als nur ein grundlegendes Verfahren der Architektur. Sie ist nicht nur die architektonische Ur-Handlung überhaupt, sondern zugleich die räumliche Grenzerfahrung zwischen stereometrischem und tektonischem Prinzip.
Beim Betrachten der Rembrandt-Radierung „Ecce Homo“ (Christus wird dem Volk vorgestellt) aus dem Jahr 1655 drängte sich mir die Frage auf, wie der Künstler es er­reicht, mit seiner Linienführung die zentrale, den Bild­­auf­bau dominierende Horizontale in der Bildkomposition derart zu be­to­nen. Die Oberkante der steinernen Plattform oder der Sockel, auf dem sich die Szene abspielt, ist auf Augenhöhe des Betrachters platziert, sodass sie zur Geraden wird. Die horizontale Linie ist derart perfekt, dass man meinen könnte, Rembrandt habe sie mit dem Lineal gezogen. Besser aus­gedrückt: Sein Impuls war perfekt. Rembrandt bezieht sich hier auf eine frühere Zeich­nung von Lucas van Leyden. Allerdings ist Leydens Betrachter-Standpunkt höher angesetzt, aus der leichten Aufsicht wird die Fläche der Plattform sichtbar.
Ein Architekt von heute hat sofort eine weitere Assoziation parat, jenen Effekt, den Mies plante – und ein­löste –, als er den Boden des Farnsworth House auf Augenhöhe anhob: Für den Betrachter wird die Fläche zur Linie, das Haus wirkt umso leichter. Mies vollzieht damit eine Handlung, die weit über das Erbauen dieses Hauses in all seiner berückenden Schönheit, Leichtigkeit und Trans­pa­renz hinaus reicht. Eine Schlüsselhandlung. Etwas, das Philip Johnson niemals ganz begreifen konnte.
Jørn Utzon beginnt seinen bekannten Text „Plat­forms and Plateaus“ (1962) mit den Sätzen: „Die Plattform als archi­tektonisches Element ist etwas Faszinierendes. Meine Liebe zu ihr begann auf einer Studienreise nach Mexiko im Jahr 1949. Dort stieß ich auf Plattformen in zahllosen Variationen – so­wohl hinsichtlich ihrer Größe als auch der Idee dahinter. Viele Plattformen stehen ganz für sich, allein mit der umge­ben­den Natur.“ Klare Worte. Derart klar, dass die Plattform zum zentralen Thema vieler Utzon-Bauten wurde. Die horizontale Ebene setzt den Menschen in Bezug zur Erde und zum Himmel, denn auf der planen Fläche erfährt der Mensch das maximale Gefühl von Gleichgewicht. Und da eine solche Ebene zugleich Grenze, Trenn­linie ist, treffen sich in der Ebene die beiden Welten, die tektonische und die stereome­trische.
Aus seinen tiefgründigen und umfassenden Kommentaren zu Utzon und dessen Arbeit entwickelt Kenneth Frampton in „Studies in Tectonic Culture“ (1997) die Bedeutung der Plattform als universellen architektonischen Mechanismus. Frampton greift dabei einige der in Ver­gessenheit geratenen Thesen Gottfried Sempers wieder auf und haucht ihnen neues Leben ein. Von besonderer Brillanz ist hier die trennscharfe Gegenüberstellung des Stereotomischen und des Tektonischen in der Architektur. Das Stereotomische bezieht sich auf das Schwere, das in der Schwerkraft Verhaf­te­te, das Unbewegliche, das Unitäre und die Kontinuität. Das Tektonische dagegen bezieht sich auf das Leichte, das Beweg­li­che, das Fragmentierte und die Diskon­tinuität. Ich selbst verdanke die Entdeckung dieses Denkens Jesús Aparicio, der es nach seinem Aufenthalt als Fulbright-Stipendiat an der Columbia University in Madrid verbreitete und später in seinem scharfsichtigen Buch „El Muro“ (2005) zusammen­trug. Indem der Mensch eine Ebene aus leichten Materialien baut und sie auf diese Weise ortsunabhängig, beweglich macht, tut er etwas Entscheidendes: Er erhebt sich über die Erde um sie zu beherrschen. Er manifestiert seine Erkenntnis der tektonischen Welt, in der er das wichtigste Gut überhaupt erlangt: Freiheit.
Zwei unserer jüngeren Bauten seien für meine Vorstellung vom Umgang mit der Ebene in der Architektur exemplarisch genannt: „Between Cathedrals“ in Cádiz und die „Casa Van Thillo“ in Tarifa. Hier geht es nicht um ein flaches Dach, das man optimal als zusätzlichen Lebensraum nutzt oder be­grünt, wie es viele Architekten einer angeblichen Nach­hal­tig­keit we­gen tun. Das genaue Gegenteil davon meint unsere Idee. In der Schlusspassage des eingangs zitierten Utzon-Textes findet sich die präzise For­mu­lierung: „Beim Bebauen einer Plattform ist es sehr wichtig, den ihr eigenen Charakter zu erhalten. Ein Flachdach bringt die Flächigkeit einer Platt­form nicht zum Ausdruck.“ Wenn alle „erhabenen“ Elemente weggelassen wurden, so geschah das nicht aus einem beliebigen Purismus oder naivem Minimalismus heraus. Sie würden die schiere räumliche Kraft der Fläche verzerren. Eine solche konzeptuelle Intervention lässt sich nur an geeigneten Orten umsetzen: vor einer Landschaft mit weitem Horizont, in einer Witterung, die die geplante Funktion eines Raumes unter freiem Himmel zulässt.
Zwischen der alten und der aeuen Kathedrale von Cadiz sollte laut Vorgabe eine „archäologische Ausgrabungsstätte abgedeckt“ werden. Wir schenkten der Stadt einen öffentlichen Raum. Um das zu erreichen, brauchte es mehr als ein simples be­geh­bares Flachdach. Wir konstruierten ein erhöhtes Podest, pflasterten es mit weißem Macael-Marmor, fügten eine Zugangsrampe und einen weißen Sonnenschutz-Baldachin hinzu. Die zwischen die beiden Kathedralen eingepasste erhöhte Platt­form blendet die an der Front vorbeifahrenden Autos aus, man sieht nichts als das Meer: wirksame Umsetzung von Ab­strak­tion. Diese Ebene ist eindeutig Teil der tektonischen Welt.
Das Van Thillo House in Tarifa (Provinz Cádiz) liegt hoch oben in einer Düne direkt am Strand. Der Bau besteht aus einer großen rechteckigen Freifläche von 20 auf 40 Metern, als Material dient derselbe Sandstein, der sich auch am Strand findet. Diese Plattform, die den Blick auf den Ozean zelebriert, ist zugleich Lebensraum. Auch hier wurde der Aufgang aus der Fläche herausgeschnitten, eingelassen sind außerdem ein Swimmingpool und ein „Amphitheater“ auf dessen breiten Stu­fen man vor dem von Gibraltar her einfallenden Wind Schutz fin­det. Unter der Plattform liegen die restlichen Räume des Hau­ses mit Blick auf das Meer.
Der Aufenthalt auf einer ho­ri­zontalen Ebene ist vergleichbar mit dem Leben unter frei­em Himmel an Deck. Oder auf einem Floß – ein Bild, das Mies van der Rohe benutzte, wenn er von Farnsworth House sprach. Glaubt man Utzon, erreichten die Indiovölker der Steinzeit mit ihren über die Urwaldwipfel ragenden Plattformen genau das, was der Mensch im dritten Jahrtausend immer noch sucht: das Glück, in unserem Fall durch Architektur.
Übersetzung aus dem Englischen: Agnes Kloocke
Fakten
Architekten Mies van der Rohe, Ludwig (1886-1969)
aus Bauwelt 44.2011
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