Die neuen Rathäuser von Kolbermoor und Bad Aibling
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
Die neuen Rathäuser von Kolbermoor und Bad Aibling
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
Dass zwei Nachbarstädte ein je eigenes Selbstverständnis pflegen, ist nicht selten. Dass sie sich gleichzeitig neue Rathäuser bauen, ist Zufall. Dass für beide Bauten dasselbe Architekturbüro verantwortlich zeichnet, ist eine Ausnahme. Anlass genug zu zwei Rundgängen mit den Projektleitern von Behnisch Architekten in Kolbermoor und Bad Aibling.
Dem Kreis Rosenheim geht es gut. Die Wirtschaftskraft ist trotz Euro-Krise ungebrochen, Arbeitslosigkeit existiert quasi nicht, Fachkräfte werden händeringend gesucht. Damit stehen die Städte aus anderen Gründen in Konkurrenz als in schrumpfenden Regionen, aber mit ähnlichen Folgen – ein Ort muss etwas bieten, um als Wohnsitz ausgewählt zu werden: zum Beispiel ausreichend bemessene und ansprechend ausgestattete öffentliche Einrichtungen.
Kolbermoor: ein Flachbau fürs Publikum, ein Block für die Verwaltung
Kolbermoor ist ein eher untypisches Städtchen für die Region. Etliche Orte blicken hier, in der alten römischen Provinz Rätien, auf eine mehr als zweitausendjährige Geschichte zurück. Der heute rund 18.000 Einwohner zählende Ort westlich von Rosenheim hingegen entstand erst mit der Industrialisierung, genauer: mit dem Bau der 1857 eröffneten Eisenbahnstrecke von München nach Rosenheim, die, entlang der Mangfall geführt, das an Torf und Holz reiche Moor- und Waldgebiet einer produktiven Verwertung erschloss. Vor 150 Jahren, im Januar 1863, nahm die Baumwollspinnerei Kolbermoor ihre Produktion auf und lockte erste Arbeiter an; im Sommer desselben Jahres wurde der Ort selbständig. Hundert Jahre später wurde Kolbermoor zur Stadt erhoben, damals zählte der Ort rund 9000 Einwohner. Etwa zu dieser Zeit wurde auch ein neues Rathaus gebaut, etwas außerhalb des Ortskerns mit Kirche und Altem Rathaus, am östlichen Stadtrand an der Rosenheimer Straße. Ende der sechziger Jahre wurde es fertiggestellt: ein architektonisch zurückhaltender Bau im Duktus der späten Moderne, der mit zwei rechtwinklig angeordneten Gebäudetrakten einen Vorplatz an der Straße ausbildete (Foto S. 27).
Erste Überlegungen für einen dritten Rathausbau wurden im Jahr 2003 angestellt. Kolbermoor war beständig gewachsen, und demzufolge galt es nicht nur, mehr Platz für die Verwaltung zu schaffen, sondern auch Einrichtungen wie Volkshochschule und Bücherei an den gestiegenen Bedarf anzupassen. Zunächst erwog die Stadt, das Hauptgebäude der 1993 geschlossenen Spinnerei umzunutzen, doch dieser Plan fiel im Stadtrat mit einer Stimme durch. Die oppositionelle Fraktion der CSU hatte „Überläufer“ aus der SPD gewonnen – mit dem Argument, dass ein Neubau an der Rosenheimer Straße für die Entwicklung des Stadtzentrums förderlicher sei als ein Umzug auf die Industriebrache im Westen der Stadt. 2009 lobte die Stadt einen Wettbewerb für den Neubau aus, den Behnisch Architekten gewannen. Heute nimmt SPD-Bürgermeister Peter Kloo die Abstimmungsniederlage von einst leicht: Das Spinnereiareal hat sich auch ohne das Rathaus gut entwickelt, die Stadtmitte hingegen kann das Ende 2012 fertiggestellte Projekt gut gebrauchen.
Das neue Rathaus ist schon von weitem nicht zu übersehen. Der fünf Geschosse hohe, mit Tafeln aus glasfaserverstärktem Beton verkleidete Bau mit den Sitzungs- und Verwaltungsräumen überragt seine kleinstädtische Umgebung und bildet so ein Gegengewicht zum Kirchturm. Wie der unlängst abgerissene Vorgängerbau fasst das Rathaus mit zwei Gebäudeflügeln einen Vorplatz. Die beiden Trakte sind von unterschiedlichem Charakter. Gegen den fünfgeschossigen Block wirkt der von der Straße zurückgesetzte, nur zweigeschossige Gebäudeflügel wie ein luftig-leichter Pavillon aus den 1950er Jahren: Von den großen Fensterflächen und den dahinter an-geordneten Rundstützen über die inszenierten Treppenläufe bis hin zu den filigranen Geländern finden sich typische Elemente der beschwingten Architektur jener Jahre aufgegriffen. Besonderes Augenmerk verdienen die aus Stahlplatten gefrästen Geländer. Sie wollen der in Kolbermoor verwurzelten Schmiedekunst, die heute eher design-orientiert arbeitet, eine zeitgemäße Referenz erweisen.
Im Inneren des Pavillons befinden sich Stadtbücherei (im Erdgeschoss) und Volkshochschule. Trotz der großen Fensterflächen zum Vorplatz dominiert der Ausblick in den kleinen Park auf der Südseite, in den der Pavillon ausgreift – der Baumbestand habe die Grundrissfigur quasi vorgegeben, resümiert Projektleiterin Cornelia Wust. Auch das nach Süden leicht abschüssige Gelände, dem das Erdgeschoss mit zwei Stufen folgt, unterstützt diese Ausrichtung. Die rund 10.000 Neuanmeldungen, die die Bibliothek seit der Einweihung des neuen Standorts registrieren konnte, dürften in erster Linie dem erweiterten Raum- und Medienangebot zu verdanken sein; einen Teil zu diesem Erfolg aber mag auch die Stimmung des Raums beigetragen haben: Von seiner Dimension und Gestalt über die gelungene Balance von Tages- und Kunstlicht bis hin zum Ausblick lädt der Ort ein, in den Regalen zu stöbern und in den Büchern zu lesen. Ähnlich kontemplativ wirkt der große Raum der Volkshochschule im Obergeschoss.
Von dort besteht ein direkter Übergang in den eigentlichen Rathausbau. Im Gegensatz zu anderen öffentlichen Gebäuden des Büros Behnisch wendet sich dieser nur mit einem zweigeschossigen Eingangsbereich zum Vorplatz, an den im Erdgeschoss das Bürgerbüro, im Obergeschoss Trauzimmer und Ratssaal grenzen. Die Verwaltung darüber ist über ein eigenes Treppenhaus zu erreichen, das den Kern des Gebäudes bildet. Seine überraschend kräftige Präsenz ergibt sich aus der Materialität ebenso wie aus den leicht gebrochenen Geometrien. Erst die Bürobereiche zeigen dann wieder jene Formensprache, die der Besucher von den Architekten kennt: Lichte Räume mit wenigen Schwellen, in denen sich die vielen Amtsstuben und -wartezonen eigene Traurigkeit nicht so leicht einnis-ten dürfte. Mit einem Buch aus der Bibliothek in der Hand, lässt sich hier die halbe Stunde gut verbringen, die es vielleicht braucht, bis ein Bauantrag genehmigt oder ein neues Nummernschild beantragt ist.
Ziel war ein von früh bis spät belebtes Haus für die Bürger. Dies wurde erreicht, konstatiert der Bürgermeister zufrieden. Und die 10,8 Millionen Euro, die die Stadt in den Neubau investiert hat, scheinen auch die Hoffnungen der Stadtplaner zu erfüllen – schon gibt es erste Projekte, die das Zentrum von Kolbermoor entlang der Achse Rathaus-Alte Spinnerei weiter stärken könnten. Es gilt, sich gegen starke Nachbarn zu behaupten. Nur fünf Kilometer nach Osten, und der Besucher steht in der Altstadt von Rosenheim; nur fünf Kilometer nach Westen, und er landet auf dem Marienplatz im Herzen von Bad Aibling – vor dem nächsten Rathausneubau.
Bad Aibling: Neubau den Bürgern, Altbau den Beamten
Bad Aibling zählt wie Kolbermoor rund 18.000 Einwohner, doch ansonsten finden sich wenig Gemeinsamkeiten. Wichtigster Unterschied: Bad Aibling blickt auf eine lange Geschichte zurück. In grauer Vorzeit von den Kelten besiedelt, wurde der Ort kurz nach der Zeitenwende von den Römern erobert. Im 5. Jahrhundert kamen die Bajuwaren, im 8. Jahrhundert unterhielten die Karolinger hier eine Pfalz, im 10. Jahrhundert die Salzburger Erzbischöfe eine Kirche. 1321 erlangten die Bürger das Münchner Stadtrecht, 1481 die Marktfreiheit. Die Eröffnung der Sole- und Moorschlamm-Badeanstalt im Jahr 1845 machte den Ort zum ersten Moorbad in Bayern.
Im Stadtzentrum ist diese lange Geschichte in Gestalt einer „gewachsen“ wirkenden Raumbildung spürbar, auch wenn nur wenig wirklich alte Bausubstanz aus der Zeit vor dem Stadtbrand im Jahr 1765 überdauert hat: am Marienplatz, dem Mittelpunkt von Bad Aibling, etwa der alte Freihof Prantshausen, welcher heute ein Hotel beherbergt. Beherrscht wird der Platz aber von der Fassade der Sebastianikirche gleich nebenan, von der Mariensäule und einem Brunnen – und vom neuen Rathaus auf seiner Westseite.
Es ist das dritte Rathaus an dieser Stelle in achtzig Jahren. Der nach besagtem Stadtbrand errichtete Bau wurde 1940 seinerseits durch Feuer zerstört. 1972 entstand ein Nachfolger, den zu sanieren sich im Hinblick auf Klimatechnik, Brandschutz und Barrierefreiheit Anfang des letzten Jahrzehnts aber als zu aufwendig erwies; außerdem war das Gebäude zu klein geworden und wurde als düster und abweisend wahrgenommen. So lobte die Stadt 2007 den Wettbewerb für einen Neubau aus, welchen das junge Stuttgarter Büro Franke Seiffert Architekten gewann. Auch wenn diese ihr siegreiches Projekt noch überarbeiteten – Uneinigkeit übers Honorar sowie nur knappe Zustimmung im Stadtrat führten dazu, dass aus der Realisierung nichts wurde, erzählt CSU-Politiker Felix Schwaller, Erster Bürgermeister der Stadt. Das VOF-Verfahren, das danach durchgeführt wurde, gewannen Behnisch Architekten, die in der Stadt keine Unbekannten waren: 2007 war das von ihnen geplante Thermalbad eröffnet worden, und auch am Rathauswettbewerb hatten sie teilgenommen.
In Bad Aibling lag die Planung für das Rathaus im Wesentlichen also bereits vor, als in Kolbermoor der Wettbewerb für den Neubau durchgeführt wurde. Dass auch dort das Büro Behnisch zum Zuge kam, löste hier nicht gerade Begeisterungsstürme aus. Die etwa parallele Realisierung wurde in beiden Orten dann mit Interesse verfolgt. Am Ende war Bad Aib-ling um ein paar Wochen schneller: Im Herbst letzten Jahres wurden das neue Rathaus und der ebenfalls vom Büro Behnisch neu gestaltete Marienplatz eingeweiht; im Budget von 9,2 Millionen Euro enthalten war der aus statischen Gründen erforderliche Neubau der Brücke über den Mühlbach, welcher das Stadtzentrum im Westen begrenzt.
Zur Akzeptanz unter den zunächst skeptischen Aiblingern dürfte der ganz andere architektonisch-räumliche Charakter des Gebäudes beitragen. Dieser wird von zwei Rahmenbedingungen mitbestimmt. Eine strukturell wichtige Entscheidung war es, das Rathaus in zwei Teile zu gliedern: in einen Bereich mit Publikumsverkehr, für den der Neubau am Marienplatz entstanden ist, und in einen weniger frequentierten, von diesem „Haus der Bürger“ räumlich getrennten Verwaltungsbereich (für ihn wurde ein Altbau auf einem Hügel in Sichtweite des Stadtplatzes hergerichtet). Für den Neubau bestimmend war darüber hinaus die Entscheidung, den Keller des Vorgängerbaus zu erhalten, was sich aus der etwas heiklen Lage des Rathauses am Mühlbach erklärt. Von der neuen Brücke aus sieht man die alte Kellerwand die Ufermauer bilden. Dieser Keller erwies sich auch nach vierzig Jahren noch als dicht und somit weiter verwendbar, was nicht zuletzt die Baukosten gesenkt haben dürfte. Für den Neubau darüber bedeutete dieser Keller aber nicht nur eine gewisse geometrische Bindung, er erforderte auch, konstruktiv zu reagieren – das Gewicht des Neubaus etwa sollte möglichst beschränkt werden mit Hilfe einer leichten Konstruktion. Die zunächst in Betracht gezogene Konstruktion als Holzbau wurde aus Brandschutzgründen verworfen, das Rathaus dann konventionell als Stahlbetonbau erstellt. Lediglich die Holzständerkonstruktion der Fassade zeugt mit ihren Fenstern und Tafeln aus Lärchenholz noch von der ursprünglich für das ganze Haus angedachten Bauweise. Diese Fassade trägt schon auf den ersten Blick dazu bei, die gewisse Brisanz zu entschärfen, die in den Parallelen der beiden Projekte in den so verschiedenen Orten liegt – das Material Holz etwa war in Kolbermoor auf Seite des Bauherren ausdrücklich unerwünscht, weil es als nicht passend zum industriellen Charakter des Städtchens empfunden wurde.
Der wichtigste Unterschied zum dortigen Gebäude aber ist die Raumdisposition, die auch aus der Ambition resultiert, Platz und Gebäudeinneres zu verbinden. Von außen wird dies anhand der zweigeschossigen Loggia sichtbar, mit der sich das Rathaus zum Marienplatz wendet. Sie ist zwar nicht der End-, wohl aber der Zielpunkt der das Rathaus auf ganzer Höhe öffnenden Treppenhalle, des wichtigsten Innenraums. Vom Platz gelangt man durch diese Halle zum Bürgerbüro; eine Treppe hinauf zur Bücherei, die jetzt über rund vier Mal so viel Platz verfügt wie zuvor und, ähnlich wie die Einrichtung in Kolbermoor, seit ihrer Eröffnung die Nutzerzahlen dank 6000 Neuanmeldungen erstaunlich steigern konnte; und noch eine Treppe höher zu den Sitzungssälen, zum Bürgermeister, zum Trauzimmer und zu besagter Loggia, die ein wirkungsvoller Ort ist, um Gäste zu empfangen. Die Wand, an der entlang dieser Aufstieg führt, wirkt mit ihren leicht verkanteten Oberflächen plastisch geformt und dient, mit einem reflektierenden Anstrich versehen, der besseren Belichtung der Treppenhalle, indem sie das durchs Glasdach einfallende Tageslicht nach unten wirft.
Wer das Rathaus durch den Ausgang am Mühlbach verlässt, wird bemerken, wie selbstverständlich der Neubau und seine Umgebung miteinander verflochten sind. Dazu tragen auch die Läden im Erdgeschoss bei, die den Stadtraum beleben. Sie erinnern an die einst selbstverständlich in Rathäusern untergebrachten Markthallen – und sind ein Zeichen dafür, dass sich die Auseinandersetzung mit der Stadt und ihrer Baugeschichte im Büro Behnisch weiter entspannt hat.
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