Bauwelt

Für die breite Bevölkerung

Das Architekturmuseum in Paris zeigt Sozialwohnungsbau aus Frankreich

Text: Schulz, Bernhard, Berlin

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Foto: Vincent Monthiers

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Für die breite Bevölkerung

Das Architekturmuseum in Paris zeigt Sozialwohnungsbau aus Frankreich

Text: Schulz, Bernhard, Berlin

„Immerzu experimentieren und erneuern“, mit diesem Motto stimmt das kostenlose „Petit journal“ die Besucher der Ausstellung „Auf dem Weg zu neuen Sozialwohnungsbauten“ ein. Die Cité de l’architecture et du patrimoine, das Pariser Architekturmuseum, setzt jetzt einen vor knapp drei Jahren begonnenen Überblick fort.
Ziel ist es, ungeachtet restriktiver Normen und Budgets eine vielfältige und den unterschiedlichen Bedürfnissen der Bewohner angepasste Architektur zu fördern. François de Mazières, der Präsident der Cité, verweist voller Stolz auf den 1:1-Nachbau einer Maisonettewohnung aus dem Mar­seiller Urtyp der Unité d’habitation von Le Corbusier, der raumfüllend im Obergeschoss des Museums zu besichtigen ist, und fragt rhetorisch: „Wo sind, sechzig Jahre danach, die Untersuchungen zum Wohnen der breiten Bevölkerung?“. Die Antwort, so de Ma­zières, halte sein Museum bereit.
Es ist dann aber doch nur ein vergleichsweise kleiner Kubus, der, säuberlich abgetrennt von der Dauerausstellung zur – fast ausschließlich französischen – Architekturgeschichte, die 16 neuen Projekte als Wandtafelpräsentation darbietet. Die Vielfalt der angebotenen Lösungen überrascht. Der vorangestellte Fall, die Umwandlung eines von Raymond Lopez 1961 erbauten, 17-stöckigen Wohnturms oder eher Wohnklotzes durch Frédéric Druot und Lacaton&Vassal entspricht noch ganz dem europaweiten Muster, Massenwohnbauten sozialverträglich aufzuwerten, hier durch den Anbau von Balkonen rund ums ganze Haus, die sich zudem durch Schiebewände in Wintergärten verwandeln lassen.
Dann aber die neuen Projekte. Paris nimmt da­bei weniger Platz ein als in der ersten Übersicht 2009. Auch die Provinz kann es sich, trotz ungleich günstigerer Bodenpreise, nicht mehr leisten, Wohnraum lediglich nach quantitativen Gesichtspunkten bereitzustellen. Im Süden von Bordeaux, keiner von Wohlstand verwöhnten Gegend, hat das Büro King Kong eine um einen weiten Innenhof dreiseitig herumgezogene Großform errichtet, deren hölzerne Gitter vor den umlaufenden Balkonen die südliche Atmosphäre evozieren, die ihren überwiegend zu­gewanderten Bewohnern vertraut ist. Umgekehrt, ganz nach draußen orientiert, ist der organoide Bau von Bernard Bühler, ebenfalls in Bordeaux, zwischen Bahntrasse und Straße gepresst, der mit den Regenbogenfarben seiner Sonnenschutzklappen verdächtig an Sauerbruch+Hutton erinnert. Erinnern, in diesem Fall an MVRDV, tut auch der gestapelte Baukörper von Harmonic+Masson im 13. Bezirk von Paris, wiederum mit umlaufenden Balkons oder eher schon Terrassen versehen. Er steht in einer Gegend, die in den 50er bis 70er Jahren durch Massenwohnungsbau furchtbar entstellt wurde und seither mit allen Problemen einer gedankenlos zusammengewürfelten Bewohnerschaft zu kämpfen hat. Andererseits scheint solche Art der Unterbringung immer noch zu faszinieren. Wie anders wäre Frédéric Borels „So­zial­pa­last“ (wirklich!) im nordfranzösischen Béthune gleich neben der TGV-Trasse zu erklären, ein Fertigteilbau, doch aus nicht weniger als 512 verschiedenen Betonplatten. Das Bauwerk, das zu seinem Umfeld keinerlei Bezug herstellt, wirkt bewusst wie zusammengesteckt, aus verschieden großen Klötzen, deren Dimensionen zudem durch Blindfenster verschleiert werden.
Beispielhaft erscheinen eher zwei Pariser Projekte. Metek Architecture wollen an der Peripherie der ausufernden Metropole einen langgestreckten Hof­raum verdichten. Vier Häuser, untereinander durch „Gangways“ verbunden, bieten insgesamt 31 Wohnungen unterschiedlicher Größen. Eine rückwärtige Gewerbehalle wird zu „Ateliers“ umgebaut, was hier einmal nicht bloß Schönfärberei bedeutet, sondern tatsächlich amerikanischen Lofts entspricht. „Mikrochirurgie“, diesen hübschen Begriff darf man sich merken.
Ihn nehmen auch Jacques Moussafir und Charles-Henri Tachon in Anspruch, für ihre Lücken­schließung an zwei schmalen Straßen im 18. Bezirk. An den Gassen sind lediglich drei Vollgeschosse möglich, hier gibt es Maisonettewohnungen, die durch riesige Fensteröffnungen optisch noch vergrößert werden. An
der Ecke zu einer Durchgangsstraße türmt sich ein Betonbau bis auf fünf Geschosse auf, belebt durch asymmetrisch gesetzte Fenster und Rücksprünge in verschiedenen Ebenen. Die Baufluchtlinie wird ein­gehalten – das ist der größte Kontrast zu den Wohnungstürmen in der Nachbarschaft.
Vom äußeren Anschein her sind die ausgewählten Projekte ästhetisch nicht bescheidener als teure Eigentumswohnungen. Wem die Wohnungsgrößen, die hier bei gerade einmal 22 Quadratmetern beginnen, zu klein sind, sollte einen Blick auf die Immo­bilienpreise werfen. Die wurden in einer soeben ­erschienenen Übersicht für Pariser Eigentumswohnungen mit durchschnittlich 9300 Euro/m2 angegeben. Durchschnittlich! Man kann in Paris auch schon für 6000 Euro/m2 Wohnraum finden. Zum Beispiel im 13. Bezirk, der erwähnten Hochburg des Sozialwohnungsbaus und der großen Familien auf kleiner Wohnfläche. Unter solchen Vorzeichen kommt der qualitativen Aufwertung des sozialen Wohnungsbaus, wie sie die Cité propagiert, eine immense Bedeutung zu.
Fakten
Architekten Bühler, Bernhard, Bordeaux; Druot, Frédéric, Paris; Lacaton&Vassal, Paris; King Kong, Bordeaux; Sauerbruch+Hutton, Berlin; MVRDV, Rotterdam; Harmonic+Masson, Paris; Borels, Frédéric, Paris; Metek Architecture, Paris; Jacques Moussafir und Charles-Henri Tachon, Paris
aus Bauwelt 18.2012
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