Bauwelt

Gefühlte Freiheit

Stadt und Auto

Text: Crone, Benedikt, Berlin

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Gefühlte Freiheit

Stadt und Auto

Text: Crone, Benedikt, Berlin

Planer und Politiker, Verbände und Konzerne, Autobesitzer und Autolose streiten seit Jahrzehnten über die Frage, ob der Privatwagen in die Innenstadt gehört. Nie ging es dabei nur um rationale Argumente, um Feinstaub, Parkgebühren und den Transport von Wocheneinkäufen – die Autodebatte rührt an unsere tiefsten Gefühle. Woher stammt dieses emotionale Verhältnis zu unserem angeblich liebsten Kind?
Wolf Wegener ist der Sarrazin unter den Autofahrern. Das sieht der ehemalige Vorstandsvorsitzende des Berlin-Brandenburger ADAC natürlich anders. Es sei Zufall, dass der Titel seines 2012 erschienenen Buches „Deutschland schafft das Auto ab“ an den Bestseller des Sozialdemokraten erinnere, teilte Wegener zur Veröffentlichung mit. Kein Zufall ist die Methode, mit der sich beide Autoren als Stimme des Volkes, als revolutionär-konservative Widerständler positionieren.
Wegener kämpft für Deutschland, denn schaffe Deutschland das Auto ab – und in seinen Augen ist das einstige Autoparadies auf dem besten Weg dahin – zerstöre es sein eigenes Wirtschaftsfundament. Die Zahlen sprechen für ihn: In Deutschland sind 750.000 Menschen in der Automobilindu­s­trie beschäftigt, die mit dem Maschinenbau wichtigste Branche des Landes. Global betrachtet werden jedes Jahr mehr und mehr Autos produziert. Schön dumm, wenn sich deutsche Unternehmen diesen Markt entgehen ließen. Und, was sich 125 Jahre bewährt hat, kann ja keine Fehlentwicklung sein.
Wegeners Zeitrechnung beginnt mit Carl Benz wie Huxleys Schöne Neue Welt mit Henry Ford. Vor der Erfindung des Automobils, so die Auffassung des 81-Jährigen, quälte sich der Mensch zu Fuß, mit Pferd, Bahn oder Fahrrad durch den Morast dieses unasphaltierten Landstrichs. Heute, nach einer glanzvollen Ära der Autobahnen und Schnellstraßen, falle Deutschland wieder zurück in die Vorzeit: Politiker und Stadtplaner, allesamt mit grüner Ideologie vollgepumpt, würden den Pkw-Fahrer drangsalieren: mit Fahrradstreifen, Parkuhren und dem Rückbau von Verkehrsachsen.
Klaus Gietinger, Verfasser des „Autohasserbuches“, ist so was wie Wegeners Gegenspieler. Der Filmregisseur und Sozialwissenschaftler erklärt das Auto zur „Massenvernichtungswaffe“, der seit Kriegsende allein in Deutschland 800.000 Verkehrsteilnehmer zum Opfer gefallen sind, indirekte Gesundheitsschäden durch Luftverschmutzung nicht eingerechnet. Schuld an diesem „Massenmord“ seien nicht nur die Menschen hinter dem Steuer, sondern alle, die „Drogenbarone, Dealer und Junkies der Kfz-Gesellschaft“. CDU, SPD und FDP dienten der Autolobby, die CSU lebe eine „Sauf- und Bleifußmentalität“, und selbst die Grünen seien zu einer Partei besserverdienender Zweitwagenbesitzer geworden.
Der österreichische Verkehrswissenschaftler Hermann Knoflacher warnt ähnlich dramatisch vor dem „Virus Auto“, das sich in der Welt verbreite. Ein Virus, das sich in unseren „Gehirnen festsetzt“, uns mit autogerechten Werten infiziere und die absurde Existenz von Großparkplätzen, Shoppingcentern und Möbelmärkten rechtfertige. 7000 Jahre hätte der Fußgänger die ganze Straßenbreite nutzen dürfen. Seit sechzig Jahren wird er an den Rand gedrängt. Jugendliche sehnten den Erhalt des Führerscheins nur herbei, weil sie seit Jahren als Mitfahrer in das Auto wie in einen Käfig geschnallt würden, auf Vater oder Mutter auf dem Vordersitz schielten und hofften, hinter dem Steuer warte die vermeintliche Freiheit.
Wegener, Gietinger, Knoflacher. Sie vertreten Extrempositionen, zu denen aber jeder eine Meinung hat, der seinen Fuß vor die Tür und in den Verkehrsfluss setzt. Ob der Mensch für den persönlichen Bedarf in der Stadt ein Auto fahren und parken sollte, ist nicht nur eine Rechenfrage von Benzinpreis und Geschwindigkeit auf Streckenlänge. Hinter einer mit objektiven Zahlen geführten Debatte brodelt die Gefühlswelt. Jeder Versuch von Politik und Stadtplanung, Menschen zum autofreien Leben zu bewegen, kommt nicht umhin, die Emotionen und Wertevorstellungen des Fahrers und Nicht-Fahrers – und viele Verkehrsteilnehmer wechseln fast täglich von der einen zur anderen Gruppe – zu berücksichtigen; gerade in Stadtvierteln, in denen man mit Rad, Bus, Bahn oder Turnschuh eigentlich bequemer und schneller zum Ziel kommt und dennoch weiter Auto fährt. Konrad Rothfuchs, Inhaber des Stadtplanungsbüros ARGUS, kritisierte in einem Interview mit Spiegel-Online die Dominanz des Privatwagens in Deutschlands Städten. Es folgte eine Flut von 520 Kommentaren: Der Hamburger Verkehrsplaner sei ein „ideologiebelasteter Spinner“, einer der „Gutmenschen“, die in den „wohlhabenden Ökozonen von Tübingen oder Freiburg“ leben, schimpften die einen, „Ewiggestrige“, konterten die anderen. Warum so viel Erregung um eine Kiste aus Blech?
Wut, Narzissmus, Überlegenheitsgehabe
Ein Grund mag sein, dass jede Teilnahme am Straßenverkehr – und damit auch die Beschäftigung mit dem Thema – Emotionen hervorruft. Selten sind es schöne, wenn es mit dem Auto durch den stockenden Stadtverkehr geht. Der Journalist Tom Vanderbilt, der für sein 500 Seiten dickes Buch mit dem schlichten Titel „Auto“ dutzende Studien zum Verkehrsverhalten gewälzt hat, kommt zu dem Schluss, dass es unter Fahrern deswegen so viel Wut, Missverständnisse und Unfälle gibt, weil ihnen der Blickkontakt fehle. Soziale Verständigung läuft gerade auch über die Augen. Von Fensterscheibe zu Fensterscheibe sind Absprachen schwierig. Bei einer Geschwindigkeit von 30 Stundenkilometern verwischen selbst die Gesichter der Fußgänger und Radfahrer. Hupen und Lichtsignale landen beim Falschen – oder werden falsch verstanden. Autos, Busse, Passanten und Fahrradfahrer betrachten wir dann nur noch als Objekte, die uns den Weg versperren. Der im öffentlichen Raum übliche Respekt zwischen Fremden bleibt förmlich auf der Strecke.
Auch im Fahrverhalten drücken Verkehrsteilnehmer, bewusst oder unbewusst, ihren Gemütszustand und ihre Persönlichkeit aus: New Yorker Psychologen zogen aus einer Studie den Schluss, dass aggressive Fahrer unter einem erhöhten Narzissmus litten. Warum vor allem junge Männer gezielt über Kleintiere fahren, statt ihnen auszuweichen – wie ein kanadischer Student mit einer auf Landstraßen platzierten Plastikschildkröte nachweisen konnte – bleibt aber selbst der Wissenschaft in den Tiefen der Fahrerpsyche verborgen.
Unser Verhalten hinter dem Steuer erklärt allein jedoch nicht die emotionale Beziehung zum Auto. Gründe für oder gegen ein Verkehrsmittel sind auch die Signale, die das jeweilige Gefährt vermittelt. Sei es das moralisch-sportliche Überlegenheitsgehabe eines Fahrradfahrers, oder das nach wie vor beliebte Protzen mit dem Sportwagen als Statussymbol. Die Hiobsbotschaft, die vor fünf Jahren durch die Autobranche wehte, junge Menschen wollten nicht mehr mit getunten Felgen und Zylinder-Zahlen angeben, zeigt bisher nur den Trend innerhalb eines Milieus. Die meisten Neuwagen werden ohnehin von Menschen jenseits der 30 gekauft. 2013 war der Autokäufer im Schnitt 52,4 Jahre alt, 1995 waren es 46,1 Jahre. Allerdings sinkt in Deutschland die Zahl der zugelassenen Neuwagen stetig, zuletzt 2013 um 4,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Für Autokonzerne in Frankreich sieht es zumindest auf dem Heimatmarkt ähnlich düster aus. Das liegt an vielem, sicherlich auch an einer sich in Westeuropa wandelnden Wahrnehmung des Automobils.
In der Zeit des Wirtschaftswunders wurde das Auto zum „Volkswagen“. Gerade auch die flächenintensive Siedlungspolitik der Nachkriegszeit machte für einen großen Teil der Gesellschaft einen Privatwagen unverzichtbar. Der aufgelockerte Wiederaufbau – ganz nach dem amerikanischen Lebensmodell neuer, umgrünter Wohnraum am Stadtrand, mit Möbeln und Küchengeräten bestückbar –, sollte die Bewohner zum ausgiebigen Konsum anhalten. Bereits beim New Deal hatte die USA gute Erfahrungen damit gemacht, auf die Weltwirtschaftskrise mit einer Förderung des Bausektors zu reagieren. Insgesamt 450 Millionen D-Mark pumpte der Marshallplan in die Errichtung der neuen Siedlungen, rund 100.000 Wohnungen entstanden so in der jungen Bundesrepublik nach amerikanischem Vorbild.
Individualist im Massenprodukt


Unter allem, was funktionell und damit scheinbar frei von jeglicher Nazi-Ideologie betrachtet werden konnte, versuchte die kriegstraumatisierte Bundesrepublik neben dem Automobil aber auch die dazugehörige Autobahn als deutsche Errungenschaft in die Zukunft zu retten. Bis heute arbeiten zwei Parteien daran, dem nationalen Autobahnnetz Absolution zu erteilen: als die Ausnahmeleistung Hitlers (der Stammtisch) oder als eine unbefleckte Erfindung der demokratischen Weimarer Republik, die später nur ausgeführt wurde (der Historikerstammtisch). Die Straße sollte im Nationalsozialismus nicht mehr Ort politischer Debatten und Machtkämpfe sein, wie noch in den zwanziger Jahren, sondern zunächst dem Militärfluss, nach dem Krieg dem Pendeln des in Vier-, Fünf-, und Mehrsitzer eingeteilten Familienglücks zur Verfügung stehen. Werbefilme der fünfziger Jahre wollen den Zuschauer vor allem mit Schlagwörtern wie „Platz“, „Räumlichkeit“ und „Eleganz“ ins Auto locken. Das Fahrzeug wird in den Filmen als praktisches Transportmittel für die Reise mit der Familie (Mann am Steuer) oder für den Wocheneinkauf (Frau am Steuer) angepriesen.
Heute, in Zeiten neuer Lebensmodelle und mit einem Ministerium, das sich neben dem Straßenverkehr auch der „digitalen Infrastruktur“ widmet, gleiten die Autos in Werbefilmen durch unberührte Natur und futuristische Landschaften – statt durch die Zwischenstadtrealität der meisten Pkw-Nutzer. Es geht ums Vorwärtskommen, um Fortschritt, Technik, Design. Das Manifest der italienischen Futuristen, die bereits 1909 die Geschwindigkeit des Rennwagens und das „Aufheulen eines Autos“ als schöner empfanden, als die griechische Skulptur Nike, wird von der Autoindustrie als letztes Verkaufs­argument unermüdlich propagiert. Für einen Teil des urbanen, akademischen Milieus sieht diese glattpolierte Motorhaubenästhetik jedoch weniger nach Zukunft aus, als altbacken, nach Machogehabe und niedrigem Bildungsniveau. Bei diesem Publikum versucht die Autowerbung mit Witz und Ironie zu landen, betreibt Kunstaktionen und interveniert mit Happenings im öffentlichen Raum.
Kultfilme, in denen das Auto zum Hauptdarsteller avanciert, haben zweierlei gemeinsam: Der Held hinter dem Steuer ist in der Regel männlich – und er ist ein Verbrecher. In irgendeiner Form setzt sich der Fahrer über das Gesetz hinweg, und sei es, weil die Blues Brothers oder Manta-Fan Bertie (Til Schweiger) bewusst Geschwindigkeitslimits überschreiten. Der Autonome, der Einzelgänger, der von Staat und Gesellschaft Unabhängige, fährt im Film ein Auto. Alles andere ist Sozialismus. Das Auto, eigentlich das erste vom fordistischen Laufband abgewickelte Massenprodukt, dient dem freiheitssuchenden Individualisten. Dagegen kommt der Aufenthalt im öffentlichen Verkehrsmittel einer Zwangskollektivierung gleich. Hierfür eine motorisierte, zu jeder Tageszeit mögliche Mobilität aufzugeben, fällt schwer, auch wenn die Bewegungsfreiheit in der Realität durch Straßenbelag, Parkplatzlücke und Verkehrsaufkommen stark eingeschränkt wird. Ist der Wagen jedoch einmal angeschafft, verdrängt er nach dem sogenannten „Kuckuckseffekt“ alle anderen Fortbewegungsmittel aus dem Blickfeld des Besitzers. Nichts ersetzt scheinbar einen Privatraum auf vier Rädern, mit dem man sich in die Außenwelt wagen kann. Und, man zahlt ja auch schon für die Versicherung.
Zurück in den rollenden Uterus
„Wir haben es bei dem Auto mit einer archetypischen Gewalt zu tun, die völlig immun gegen Aufklärung ist“, wusste Peter Sloterdijk bereits vor zwanzig Jahren. Wie bei jedem Fahrzeug verschmelze der Mensch mit der Maschine, werde zu einem Zentaur mit menschlichem Oberleib und unterem Pferderantrieb. Das Auto sei ein „rollender Uterus“, so der Philosoph, der, als Ergänzung zur mütterlichen Geborgenheit, dem Insassen eine Autonomie und Selbstbeweglichkeit biete. 
Die verbreitete Sehnsucht nach dem Gefühl pränataler Sicherheit zeigt sich auch in der seit den Neunzigern steigenden Zahl an SUVs. In einer Untersuchung der Universität Duisburg-Essen unter Ferdinand Dudenhöffer machten die Sport Utility Vehicles 2013 bereits einen Marktanteil von 16,5 Prozent aus, Tendenz steigend. Gerade immer mehr Frauen verstauen sich und ihren Anhang gerne in den Geländewagen. Dabei rollen die Mehrtonner so schwerfällig um die Ecke, als steuere man „einen Kugelfisch durch ein Aquarium voller Goldfische“, wie es der Süddeutsche-Redakteur Felix Reek bei einer Testfahrt des Jeeps Grand Cherokee empfand. Panzerausmaße und Sitzhöhe suggerieren dem Fahrer Sicherheit, die auf die Insassen des schwerfälligen Großwagens nur begrenzt zutrifft – und für alle anderen das Gegenteil bedeutet. Kanadische Wissenschaftler werteten zwölf Studien aus: Die Gefahr, als ein Fußgänger bei einem Zusammenstoß mit einem SUV tödlich verletzt zu werden, ist 50 Prozent höher als mit einem normalgroßen Pkw. Der Frontbereich mit Stoßfänger trifft Passanten in die Körpermitte, ein Kind sogar am Kopf.
Bei der Gruppe der SUV-Fahrer, die vermutlich besonders an ihrem teuren Gefährt hängt, offenbart sich hinter dem Sicherheitsgedanken so auch ein auf Distanz bedachtes Raumverständnis, das sich in der durch das Auto geprägten Wohnform – der durchgrünten, aufgelockerten und von Hecken und Zäunen zerschnittenen Vorortsiedlung – widerspiegelt. Der private Pkw-Bedarf steigt daher neben Kinderzahl und Einkommen auch mit der Ausgeprägtheit einer gewissen Knautschzonen-Mentalität.
„Ich will anderen Menschen nicht ‚begegnen‘ oder mit ihnen ‚schwatzen‘“, protestiert ein Leser unter dem Spiegel-Interview mit Planer Rothfuchs. „Ich will durch und erwarte allseits freie Bahn: Das ist Lebensqualität!“ Dem Kommentator springen weitere zur Seite, wollen in Bus und Bahn nicht in die Nähe von „Alkoholikern“ und „lautstarken Arabern“ geraten oder ihre Frau den „lüsternen Blicken“ Fremder ausgesetzt sehen. Offenbar findet nicht jeder Gefallen am Innenstadtgekuschel, das andere als „Urbanität“ feiern: an belebten Straßen, kurzen Wegen, sozialer Mischung. Distinktion heißt das Zauberwort der Soziologie dafür, dass sich manche Hardliner wohl auch in Zukunft im eigenen Auto und auf Distanz zur Umwelt halten werden. Dürfen Politik und Stadtplanung ihnen das verübeln? Schwierig zumindest, dass es in der Stadt per Definition eng wird und man sich eigentlich entscheiden muss: Quetsche ich mich rein, oder bleibe ich draußen?

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