Bauwelt

„Georgen braucht einen vernünftigen Abschluss“

Die Bürgermeisterin

Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin

Eventteaser Image
  • Social Media Items Social Media Items

Rosemarie Wilcken
Foto: Ulrich Brinkmann

  • Social Media Items Social Media Items
Rosemarie Wilcken

Foto: Ulrich Brinkmann


Eventteaser Image
  • Social Media Items Social Media Items

Foto: Roland Rossner/Deutsche Stiftung Denkmalschutz

  • Social Media Items Social Media Items

Foto: Roland Rossner/Deutsche Stiftung Denkmalschutz


„Georgen braucht einen vernünftigen Abschluss“

Die Bürgermeisterin

Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin

Rosemarie Wilcken war bis 2010 Bürgermeisterin von Wismar und in diesem Amt zwanzig Jahre lang verantwortlich für den Wiederaufbau der kriegszerstörten Georgenkirche. Im Büro von Thomas Junggebauer, Bauleiter des Sachgebiets Kirchenbau der Hansestadt, erzählt sie vom richtigen Moment müden Materials, von förderlicher und hinderlicher Hilfsbereitschaft und von der Freiheit, Fenster fertig zu bauen.
Frau Wilcken, 24 Jahre ist es jetzt her, dass in einer stürmischen Winternacht der Nordgiebel des Querhauses der Georgenkirche zusammenbrach und so dem ganzen Land auf drastische Weise vor Augen führte, wie dringend die Ruine Hilfe braucht. So tragisch das Ereignis auch war – war es nicht auch ein wichtiger Anstoß für den Wiederaufbau?
Rosemarie Wilcken | Das war wirklich ein Schlüsselereignis. Damals, im Winter 1989/90, standen ja ganz andere zentrale Themen an: Demokratisierung, Rechtsstaatlichkeit, die deutsche Einheit. Man muss allerdings wissen, dass wir in diesem Kampf um Veränderung immer auch die Rettung der Altstädte mit angesprochen haben. Aber solche Volumina wie das der Georgenkirche spielten da keine Rolle. Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendeiner damals je gesagt hätte: „Als erstes bauen wir die Georgenkirche auf.“ Also war dieser Giebeleinsturz das Signal. Für mich ist das ein höheres Symbol, diese Materialmüdigkeit zum richtigen Zeitpunkt. Denn ein oder zwei Jahre später hatten wir schon wieder ganz andere Pro­bleme, und die Aufmerksamkeit hätte sich nicht auf Georgen konzentriert.
Ein, zwei Jahre früher wäre es wohl noch fataler gewesen.
Rosemarie Wilcken | Da wäre es vermutlich zum Abbruch aller instabilen Teile gekommen. Ich glaube nicht, dass man die Ruine gesprengt hätte. Es gab Verträge zwischen Stadt und Kirche, in denen der Wiederaufbau der Georgenkirche geregelt war. In den fünfziger Jahren war Wismar sogar „Stadt des kirchlichen Wiederaufbaus“. Damals war ein neuer Dachstuhl über dem Langhaus errichtet worden ... Wenn ich was Falsches sage, korrigieren Sie das, Herr Junggebauer...
Thomas Junggebauer | Darf ich unterbrechen?
Rosemarie Wilcken | Jetzt, wo ich nicht mehr seine Vorgesetzte bin, traut er sich das. Früher wäre er viel bescheidener gewesen (lacht). Auf alle Fälle, das waren ein oder zwei Jahre, dann waren alle Bemühungen wieder eingeschlafen. Georgen war kein Thema. Dann kam dieser Giebeleinsturz, und um­gehend kamen Ost- und Westgrößen hier zusammen, um den Schaden zu besehen. Der Lübecker Denkmalpfleger Dr. Siewert beteiligte sich daran, die Deutsche Stiftung Denkmalschutz heranzuziehen, er hat sie eigentlich hergebracht. Zunächst zur Kirche, aber dann auch zu den städtischen Behörden. Ich wurde am 31. Mai 1990 Bürgermeister, und gleich Anfang Juni kam Gottfried Kiesow, der damalige Vorsitzende der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, um zu besprechen, welche Möglichkeiten der Hilfe es gibt. Die Deutsche Stiftung Denkmalschutz war damals eine kleine Stiftung, die hatte ein Budget von 250.000 DM pro Jahr. Aber es war zumindest der gute Wille da und dann die geniale Idee, die Georgenkirche als „Flaggschiff“ zu nehmen für die Si­tuation im Osten insgesamt und eine richtige Kampagne, eine Georgen-Kampagne, zu starten: Rette mit, wer kann! Dadurch kam die ganze Sache ins Rollen. Und wichtig war für uns als Stadt, dass wir ein bisschen aus der Schusslinie waren. Bei all den Problemen damals – Wohnungsmangel, Sanierungsbedarf, die drohende Arbeitslosigkeit – hätte die Stadt den Wiederaufbau von Georgen nicht allein schaffen können.
Wie kam es dazu, dass der Wiederaufbau ein städtisches Projekt war und nicht ein kirchliches?
Rosemarie Wilcken | Wir waren ja sehr lange schwedisch, und es war eine alte Tradition, dass die Kirchen in Wismar Eigentum einer Art Stiftung, der „geistlichen Hebungen“, waren, und die hatte weitreichende Rechte. Sämtliche Bemühungen in der Weimarer Republik und zu Ostzeiten, dieses Vertragsverhältnis auszulösen, scheiterten. Die Kirche hat dann irgendwann mal – im Glauben, dass es günstiger sei, dass die Kirchen, wenn das auch formal stimmt, nicht nur Stiftungseigentum, sondern auch städtisches Eigentum wären – gemeinsam mit der Stadt eine Grundbuchänderung vor­genommen in Volkseigentum, Verfügungsberechtigter: Rat der Stadt. Nach der Wende sind die Kirchen dem Eigentum der Stadt zugeordnet worden. Was das für eine Belastung für eine so kleine Stadt wie Wismar ist, das spüren wir täglich.
Thomas Junggebauer | Darf ich ergänzen?
Rosemarie Wilcken | Ja.
Thomas Junggebauer | Das war aber nicht nur hier so. Es gab auch die Bürgerschaft, die hat beschlossen ...
Rosemarie Wilcken | Ja, ja, das ist alles formal. Ich habe nur gesagt, wie meine persönliche Haltung dazu war. Gottfried Kiesow wollte diesen Weg, weil die Kirchengemeinden mit so einer Aufgabe völlig überfordert seien. Die Stiftung Denkmalschutz hat deshalb geholfen, zwei kleine, treuhänderische Stiftungen einzurichten, die die Bauunterhaltung ab­sichern sollen. Der Stadt muss man Hochachtung zollen, dass sie dieses Geschenk angenommen hat – es musste ja ein Beschluss der Annahme dieses Eigentums gefasst werden, über alle Fraktionen hinweg. Das war ein Bekenntnis der Stadt zu ihrer Baugeschichte und zur Verantwortung dafür.
Trotzdem ist die Kirche nicht als ein städtisches Kulturzen­trum wiederaufgebaut worden, sondern es stand von vorn­herein fest, dass es auch eine kirchliche Nutzung geben sollte. Hatte das Auswirkungen auf den Wiederaufbau?
Rosemarie Wilcken | Wir haben erst die Hülle gesichert und dann nach und nach wiederhergestellt. Das haben alle so gewollt. Probleme gab es in der Frage der Turmgestaltung und mit diesem Riesenaltar. Georgen sollte einst noch mal verlängert werden in der Breite des Hauptschiffes. Deshalb hatte man schon mal einen großen Altar in Auftrag gegeben. Einen Altar, der aber in den alten, noch heute vorhan­denen Chor gar nicht rein passt. Als Gottfried Kiesow das erkannte, sagte er: „Wenn wir die Kirche kulturell nutzen wollen, brauchen wir Platz für eine bestimmte Zahl von Besuchern, um auch hochwertige Kultur hineinzukriegen. Wenn wir den Raum aber teilen, indem in der Mitte ein Altar steht, der eine Schamzone nach vorne und nach hinten braucht, dann steht uns nur ein verhältnismäßig kleiner Raum zur Verfügung, der nicht mehr für Konzerte mit einem Symphonieorchester wie dem vom NDR geeignet ist.“ Aber dann wurde der Altar plötzlich ein liturgischer Gegenstand, der dringend in der Nikolaikirche gebraucht wird, und jetzt ist Frieden. Viele Kunstwerke aus Georgen stehen ohnehin in Nikolai.
Der Altar bleibt dauerhaft in St. Nikolai?
Rosemarie Wilcken | Erst mal ja, weil die Kirche jetzt sagt, er kann hier nicht raus. Die Lübecker haben übrigens immer sehr herablassend auf diesen Altar geguckt; sie sagen, er sei, wie alles in Wismar, grob und künstlerisch nicht überragend.
Thomas Junggebauer | Lübeck ist übrigens die Partnerstadt.
Rosemarie Wilcken | Seit 1987. Damals entstand in Lübeck erst ein Forum und dann ein Förderkreis für die Georgenkirche. Und dieser Förderkreis sagte dann, als wir mit der Sicherung der Ruine begannen: „Die in Wismar können das nicht, wir wollen die Bauherrenrolle.“ Robert Knüppel, damals Generalsekretär der Deutschen Stiftung Denkmalschutz und früherer Bürgermeister von Lübeck, hat diesen Konflikt gelöst, indem er gesagt hat: „Der Förderkreis saniert das Kunstgut, und die Stadt macht die bauliche Hülle.“ So kam man sich nicht in die Quere.
Der Wiederaufbau begann mit der Sicherung des Chors, der einzustürzen drohte, baulich aber immerhin noch komplett war: Das Dach war drauf, und die Gewölbe waren vorhanden. Querschiff und Langhaus hingegen standen zum Himmel offen. Herrschte von Anfang an Konsens darüber, die Gewölbe und das Dach wieder herzustellen, dem Zustand gemäß, wie er bis zur Zerstörung im April 1945 Bestand hatte? Oder wurde auch über Alternativen diskutiert, wie etwa ein zum Innenraum offener Dachstuhl oder eine Flachdecke?
Rosemarie Wilcken | Die Denkmalpflege wollte keine Rekonstruktion, sondern  ablesbar machen, was neu ist. Das eine Thema, das pausenlos diskutiert wurde, war das Material, das andere, ob Teile, die nicht mehr vorhanden waren, wie etwa die Nordkapelle, in heutiger Architektursprache wieder aufgebaut werden sollten. Es war ein sehr langer Diskussionsprozess. Eine entscheidende Wendung bewirkte in meinen Augen das Aufmaß der Ruine. Eine niederländische Firma hatte alle Bewegungen im Baukörper vermessen und kam zu dem Ergebnis, dass die 45 Jahre ohne Dach das Gebäude in seiner Substanz nicht aus der Form gebracht haben. Die zweite große Überraschung war, dass die Statiker sagten, die Gewölbe seien notwendig, um die Kräfte des Daches abzuleiten auf die Seitenschiffe. Damit war die Diskussion um Flachdach oder Holzdecke beendet. Da haben wir oder hat Georgen großes Glück gehabt. Dass das Gebäude in all den Jahren nicht einen Schub gekriegt hat, den ganzen Hang runter, gehört für mich bis heute zum Oberbegriff „Wunder“. Was mit diesem Bau alles passiert ist, ist wirklich besonders.
Worauf spielen Sie an?
Denken Sie nur an den Umstand, dass die Elbphilharmonie in Hamburg nicht wie geplant fertig geworden ist und das Orchester, welches das Residenzorchester in der Elbphilharmonie wird, nämlich das NDR-Symphonieorchester, die Zeit nutzt, um in den anderen norddeutschen Bundesländern zu spielen. Dann wurde immer gesagt, es gäbe in Mecklenburg keine Spielstätten, man könnte nur in Neubrandenburg spielen und in Peenemünde – in Rostock und Schwerin wollen die nicht spielen, weil die eigene Orchester haben. Vier Länder, ein Sender, da wollen sie aber im Land spielen. Und sie haben gesagt: „Wenn St.Georgen fertig ist, dann kommen wir dahin.“ Dass das gelungen ist … Alle diese vielen Bausteine, die ganze Konstellation, die Parameter, die Georgen selber geliefert hat, und das Umfeld – das war alles stimmig und hat zu diesem glücklichen Ergebnis geführt. Ich bin schon weg, die Pastoren, mit denen wir uns gestritten haben, über die wird die Zeit auch hinweg gehen. Aber Georgen steht, Georgen steht!
Sie hatten es schon angesprochen, anders als Chor, Querschiff und Langhaus, wo im Wesentlichen die Gestalt vor der Zerstörung wiederhergestellt wurde, hat man beim Turm einen anderen Weg bestritten, indem der provisorische Helm, wie er bis zur Zerstörung im Krieg bestand, nicht rekonstruiert und eine Aussichtsplattform als Abschluss eingerichtet wurde, deren Aufzug die Silhouette der Kirche heute
mitprägt. Wie kam es dazu?
Rosemarie Wilcken | Gottfried Kiesow machte immer auf Poel Urlaub, kam auf dem Weg dahin also immer in Wismar vorbei. Eines Tages kam er, nahm ein paar Blatt Papier und zeichnete. Er sagte: „Es geht nicht. Georgen braucht einen vernünf­tigen Abschluss. Denn dieses Merkwürdige, wie es jetzt ist, das ist doch keine Silhouette. Es gibt nur eine Möglichkeit – die Aussichtsplattform nach oben zu ziehen oder weiter oben noch eine zu machen.“ Jetzt haben wir hier so ein Häuschen auf dem Turmstumpf. Neulich hat es wie eine Laterne nachts geschienen, (zu Thomas Junggebauer) wissen Sie das?
Thomas Junggebauer | Die arbeiten bis 20 Uhr.
Rosemarie Wilcken | Wir wohnen nämlich hier drunter. Mein Mann sagte: „Die haben eine Laterne für uns angezündet.“ Dieses Profil, so wie es sich jetzt darstellt, geht nicht. Die einfachste Lösung wäre, den Turm bis auf Firsthöhe des Langhauses hochzuziehen und dort oben eine zweite Aussichtsplattform einzurichten. Dann hätte man auch einen Blick auf die ganze Stadt, anders als von der derzeitigen Höhe. Die Fenster für dieses Geschoss waren ja schon begonnen, als die Baustelle der Georgenkirche Ende des 16. Jahrhunderts stillgelegt wurde, man sieht sie heute noch. Und dann bekamen wir eine Erbschaft: Derjenige, der als Allererster auf die Georgenkirche aufmerksam gemacht hat, hinterließ uns 250.000 Euro für Georgen. Damit haben wir die Sohlbänke dieser damals angelegten Fenster in Ordnung gebracht und alles so wiederhergestellt, wie es bis zum Zweiten Weltkrieg war. Jetzt fehlen ungefähr 10 Meter aufgehendes Mauerwerk bis zur Firsthöhe vom Langhaus. Ich finde, zu diesem Weiterbau des Turmstumpfs haben wir eine Berechtigung, weil diese Fenster ja nicht 50 Zentimeter hoch werden sollten, sondern in etwa so hoch wie bei der Marienkirche. Dann hätte die Silhouette von Georgen einen geraden Abschluss.
Sie wollen also nicht das einstige Provisorium, das die Turmansicht Jahrhunderte prägte, rekonstruieren?
Nein, den alten Notabschluss mit dieser Fachwerkkonstruktion, den wollen wir nicht. Erstens wäre das teuer, zweitens war das ja auch so nicht geplant. Und die Freiheit, die von unseren Vorfahren angelegten Fenster auszubilden, die sollte sich diese Stadt irgendwann nehmen.

0 Kommentare


loading
x
loading

2.2025

Das aktuelle Heft

Bauwelt Newsletter

Das Wichtigste der Woche. Dazu: aktuelle Jobangebote, Auslobungen und Termine. Immer freitags – kostenlos und jederzeit wieder kündbar.