Gestaltung der Stadtregion – neue Mobilität und Klimaschutz
Text: Kegler, Harald, Dessau
Gestaltung der Stadtregion – neue Mobilität und Klimaschutz
Text: Kegler, Harald, Dessau
Berlin setzt auf Großprojekte wie Bahnhof und Flughafen und macht ansonsten weiter wie gehabt. Paris träumt von der Überwindung der Zentralität und plant einen Korridor bis Le Havre. London testet mit dem größten Shared-Space-Projekt Europas neue Wege aus. Chicago hat mächtig aufzuholen und schmiedet die größten Pläne, um den Sprawl aufzusaugen und die CO2-Emissionen auf null zu senken. Vier Strategien für die Mobi-lität von morgen.
Mobilität firmiert als Inbegriff von Fortschritt, von sozialem Aufstieg und Zukunft. Die Basisinnovationen im Bereich der Verkehrstechnologie und der Logistik sowie kulturell-organisatorische Neuerungen wie Versicherungen und Werbung haben den Siegeszug der individualisierten Mobilität, wie wir sie heute kennen, ermöglicht. Die Wegbereiter dieser rasanten Entwicklung finden sich in England, Deutschland, Frankreich und den USA. Die wesentlichen Schübe im technologischen, aber auch im sozial-kulturellen Bereich liegen um 1900 mit der Elektrifizierung und beginnenden Automobilisierung, in den 1960er Jahren mit dem Beginn der Hochgeschwindigkeit-Bahntechnologie, der Großraum- und Überschallflugzeuge und Supertanker und in jüngster Zeit mit dem Einzug der Elektromobilität (Bauwelt 46.09). Im Zentrum aller Mobilitätsbetrachtungen steht aber immer noch das Automobil, das brüchige Symbol individueller Freiheit.
Doch in die Mobilitätsverheißungen mischt sich seit Jahrzehnten immer wieder Unbehagen. Die exorbitante Inanspruchnahme von Landschaft, der sich ausbreitende Lärm und die Sicherheitsrisiken sowie die Folgen für das Ökosystem rücken im Zuge der Klimadebatte wieder vermehrt in den Fokus der kritischen Auseinandersetzung. Auch die Sicherung der Mobilität innerhalb der Großstadtregionen verlangt nach neuen Wegen, sind doch die alltäglichen Staus zu einem Alptraum geworden, und öffentliche Verkehrsmittel stellen, da häufig völlig überfüllt, keine glaubwürdige Alternative dar. Erst langsam gewinnt das Verständnis einer integralen Mobilität, die flächen- und ressourcensparend sowie sozial verträglich ist, an Bedeutung in der stadtregionalen Planungspolitik.
Lange wurde Mobilität als separate, technische Struktur begriffen, der sich die Gestaltung des öffentlichen Raumes unterzuordnen hatte. Im Zuge des Rückgewinns der innerstädtischen öffentlichen Räume als Aufenthaltsorte für Bewohner und Besucher muss Mobilität als Teil eines neuen Städtebaus begriffen werden. Die neuen Räume des Verkehrs strukturieren – zusammen mit dem Großstadtgrün – auch die Großstadtregion von morgen. Die technischen Träger einer neuen Art von Mobilität werden zum Symbol für ein neues Verständnis von Stadtkultur. Die Renaissance urbaner Verkehrsmittel wie der Straßenbahn, der Einzug von Elektrobussen, der Neubau von Bahnhöfen im Zentrum oder die Urbanisierung von Flughäfen gehören ebenso dazu wie politische Maßnahmen wie die Innenstadtmaut, die Förderung des Fahrradverkehrs oder neue Raumgestaltungskonzepte wie Shared Space, die mit der räumlichen Gleichstellung aller Fortbewegungsformen den alleinigen Anspruch des Autos auf die Straße beenden und damit den Abschied von der autogerechten Stadt einläuten. In vielen Orten wird der Verkehr neu geordnet. Die Großstadt-Regionen sind Wegbereiter einer neuen Mobilität, die sich heute nicht mehr als fortschrittsverheißende Technik mit dem Auto als Speerspitze darstellt, sondern als Aneignung des gesellschaftlichen Raumes mit verschiedenen klima- und stadtgerechten Techniken und Verkehrsmitteln.
Die vier Modellstädte Berlin, Paris, London und Chicago stehen mit ihren realisierten und geplanten Großprojekten prototypisch für die Renaissance der Schiene und repräsentieren nationale Ambitionen im Verkehrssektor. Auch wenn gleichzeitig in die autobasierte Infrastruktur investiert wird und Großbrücken wie das Autobahnviadukt im südfranzösischen Millau von Norman Foster große Aufmerksamkeit auf sich ziehen – Bahnpolitik ist wieder Staatspolitik, und die Metropolen spielen dabei eine herausragende Rolle. In allen gewählten Beispielen ist die Bahnpolitik Teil der Regionalstrategie einer polyzentrischen Entwicklung, die auch als optimal für eine klimagerechte Perspektive angesehen wird.
Berlin – kleine Schritte und große Projekte
Kennzeichnend für die mobilitäts- und klimabezogene Politik Berlins ist ein eher pragmatisches denn visionäres Vorgehen. Mit dem Stadtentwicklungsplan Klima implementiert die deutsche Hauptstadt den Klimaschutz derzeit sehr konkret, aber zumeist durch „Sowieso-Maßnahmen“. Zu diesen kleinen Schritten – die sowieso auf der Agenda standen – gehören die Qualifizierung der innerstädtischen Grünflächen, die Einführung von Umweltzonen und die Stärkung des öffentlichen Verkehrs. Dass zur gleichen Zeit um den Ausbau der innerstädtischen Autobahn A100 gerungen wird, zeigt die Widersprüchlichkeit klimapolitischer Stadtentwicklungspolitik. Eine grundsätzliche öffentliche Debatte zum Klimaschutz, wie etwa in Chicago, findet in Berlin nicht statt. Die vorhandenen praktischen Fortschritte sind wichtig, können eine Strategie aber nicht aufwiegen.
Berlin hat aufgrund seiner historischen Struktur als kompakte und dennoch durchgrünte Stadt einen vergleichsweise günstigen ökologischen Fußabdruck von „nur“ 4,41 Hektar. (Dies ist weniger als der deutsche Durchschnitt von 5,32 Hektar, der halb so groß ist wie in Chicago.) Diese positive Ausgangslage wird durch stadtregionale Konzepte wie Regionalparks unterstützt, die die Hauptstadt mit dem Brandenburger Umland verzahnen. Sie sind entlang sogenannter Regionalachsen angeordnet, die im Landesentwicklungsplan fixiert sind, und schaffen zugleich ökologische wie funktional wertvolle Distanzzonen im ansonsten stark suburbanisierten Berliner Speckgürtel. Tragende Säule der vergleichsweise positiven Umweltentwicklung Berlins ist aber letztlich die Struktur der öffentlichen Mobilität. Flaggschiff ist der neue Hauptbahnhof, der neben der überregionalen verkehrspolitischen Bedeutung starke Symbolkraft für die Renaissance der Eisenbahn in Europa besitzt. Das weit gestaffelte Verkehrssystem, dessen Einzugsgebiet bis über die Landesgrenzen Brandenburgs reicht, schließt die Regionalbahnen mit ein. Es ist effektiv vernetzt und entlastet den motorisierten Individualverkehr. Dass es aber zum Beispiel noch immer fast keine Straßenbahnen im westlichen Teil der Stadt gibt, zeigt schlaglichtartig die Unvollkommenheiten in diesem ansonsten mustergültigen System.
Mit dem neuen Hauptstadtflughafen Berlin-Brandenburg International ist das nächste Flaggschiff schon im Bau. Zwar wurde hier ein eher urbaner Airport nicht weit ab der Stadt geplant, der ein Zeichen für die Reurbanisierung dieser Art von Großinfrastrukturen setzen kann. Dennoch passt ein Großflughafen eigentlich nicht in die klimapolitischen Notwendigkeiten des 21. Jahrhunderts. Eine verbesserte Anbindung des bereits ausgebauten und für Interkontinentalflüge bestens gerüsteten Flughafens Halle-Leipzig hätte womöglich den Zweck erfüllt, den nun ein neuer Großairport in nicht einmal einstündiger Entfernung von Halle-Leipzig wahrnehmen soll.
Paris – auf dem Weg zur Dezentralisierung
Die „Ile de France“ ist traditionell das Herz Frankreichs. Alle Verkehrsachsen sind radial auf die Hauptstadt orientiert, münden in Ringe und gliedern den Großraum Paris sozial-funktional. Derzeit wird auf drei Ebenen eine Weiterentwicklung und Neudefinition dieser Struktur vorgenommen. Basierend auf den Ergebnissen des Wettbewerbs „Grand Paris“ (Stadtbauwelt 182) soll das bisher ausschließlich zentralisierte Mobilitätssystem im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung auf drei Ebenen umgebaut werden.
Auf lokaler Ebene ist eine Schienen-gebundene „Große Acht“ geplant, bestehend aus zwei sich ergänzenden Ringen. Der eine verbindet die äußeren Vorstädte, der andere durchfährt das Zentrum von Paris und greift weit nach Südwesten aus. Auf 130 km Streckenlänge sollen 40 Stationen die wichtigsten Verkehrsknotenpunkte und Entwicklungsschwerpunkte mit einbeziehen: Flughäfen, Fernbahnhöfe, Stadtteile und Vororte wie La Défense, Marne-la-Vallée, Saclay und Saint-Denis, aber auch Versailles. Für die Durchführung sind innerhalb der nächsten zehn Jahre 21,4 Milliarden Euro veranschlagt. Darüber hinaus soll die neue Stadtschnellbahn „arc express“, deren Trassen weiter von der Kernstadt entfernt liegen, vor allem die „banlieue“-Gebiete verbinden. Der französische Staat sieht dafür in den nächsten fünfzehn Jahren ca. sechs Milliarden Euro vor.
Die Große Acht gehört zu den Motoren eines den gesamten Korridor zwischen Paris und Le Havre umfassenden Plans für eine „Post-Kyoto-Landschaft“. Auf regionaler Ebene sollen hier bestehende Siedlungs- und Nutzungsschwerpunkte zu Polen verdichtet werden. Diese Orte hoher baulicher und kultureller Dichte sollen in eine räumlich-funktionale Interaktion mit den umliegenden suburbanen Streugebieten der „light city“ gebracht werden, so dass ein Korridor mit polyzentraler Struktur entsteht. Ziel ist eine „multifunktionale Landschaft“ mit den Flussauen der Seine, Marne, Oise und Essonne, eine Art Seine Parc bis zum Kanal, der die gesamte Metropolregion von Ost nach West verknüpft.
Diese visionären Planungen widersprechen allerdings zum Teil der auf nationaler Ebene stattfindenden pragmatischen Raumordnung. Der „schéma directeur“ (Raumordnungsplan) von 2008, das Basisdokument für die Ile de France, beinhaltet durchaus noch die radiokonzentrische Entwicklung von Paris, die von den beiden anderen Strategien zumindest partiell überwunden wird. Abweichungen ergeben sich an den konkreten Schnittstellen der geplanten Infrastrukturen mit den vorhandenen Systemen. Mit der Großen Acht, dem Arc Express und dem Konzept der Pole sind allerdings bereits wichtige Bausteine der neuen Visionen in den Raumordnungsplan aufgenommen worden.
London – Schienenstränge und „Shared Spaces“
Auch in der britischen Hauptstadt wird eine neue Verkehrs- und Klimapolitik auf verschiedenen Ebenen umgesetzt: von Europas größtem Shared-Space-Projekt bis zu den langfristig angelegten Umbau- und Entwicklungskorridoren der Stadtregion London (diese sind Teil des transeuropäischen Nord-West-Korridors der Europäischen Union). Dem Leitbild der Urban Renaissance entsprechend ist es das ehrgeizige Ziel der Stadtregierung, das Wachstum der Metropole innerhalb des derzeitigen ökologischen Fußabdrucks zu halten (s. Seite 28).
Das Herzstück der neuen verkehrspolitischen Ausrichtung Londons ist die im Bau befindliche Hochleistungsregionalbahn Crossrail. Sie wird den Einzugsbereich der Millionenmetropole deutlich erweitern, da sie 1,5 Millionen Menschen im Umland in einer Fahrzeit von 60 Minuten mit dem Zentrum verbinden wird. Ab 2017 wird die neue Bahnlinie in West-Ost Richtung durch die Stadt verlaufen, teilweise in einem Tunnel. Heathrow Airport, das West End, die City of London und Canary Wharf werden so zukünftig direkt miteinander verbunden sein. Der Ost-West-Korridor wird durch einen „Y“-Korridor in Nord-Süd-Richtung ergänzt, welcher auch die Flughäfen im Norden anschließt. Das öffentliche Schienensystem bildet den Kern der Raumstrategie für „Greater London“ aus dem Jahr 2009. Der ehemals industriell genutzte Osten Londons, das Lower Lea Valley und Thames Gateway, soll als Cluster sogenannter grüner Industrien etabliert werden. Gemeinsam mit den gut an den öffentlichen Nahverkehr angebundenen Subzentren und „High Streets“ in den Korridoren bildet er die robuste Grundstruktur der Stadtregion.
Doch auch die öffentlichen Räume auf der Ebene des Alltagslebens spielen in diesem Planungsdenken eine tragende Rolle. Hatte Bürgermeister Ken Livingston 2003 mit der City-Maut eine kleine Revolution ausgelöst, setzt sein Nachfolger Boris Johnson diese Politik mit ambitionierten Shared-Space-Projekten in neuer Weise fort. Der Umbau der Exhibition Road in eine von allen Verkehrsmitteln gleichberechtigt genutzte Fläche ist das größte Projekt dieser Art in Europa. In den folgenden Jahren will London über 220 Millionen Pfund in die Qualifizierung der öffentlichen Räume investieren. Diese dienen der Verbesserung der Lebensqualität in London insgesamt und unterstreichen das Ziel des Bürgermeisters, London zu einer der schönsten Metropolen der Welt zu machen. „Greater“ geht es nicht, aber das Ansinnen wird sehr „smart“ vorangetrieben. So dürfte auch die Olympiade nicht zur Gigantomanie geraten, sondern eher zu einer intelligenten Supershow, die wie nebenbei die ersten Teile des neuen Korridorsystems mit Leben füllen wird.
Chicago – die „Absorption“ des Sprawl
Den weitreichendsten Ansatz der vier Städte verfolgt Chicago. In der Region ist der Kurswechsel der US-Regierung in der Stadt- und Verkehrspolitik beispielhaft zu verfolgen. Die Stadt hat sich im „Greenhouse Gas Reduction Plan“ das Ziel gesetzt, bis 2050 eine Null-Emissionsstadt zu werden. Angesichts des Startpunkts der totalen Autoabhängigkeit scheint dies fast utopisch, zumindest aber sehr ambitioniert. Das Ziel wird räumlich durch die Strategie des stadtregionalen Umbauplanes Metropolis 2020 und des Regionalplanes bis 2050 umgesetzt
(s. Seite 64). Eingehende Untersuchungen zur Verteilung der Treibhausgas-Emissionen in der Region lieferten die Argumente für die Strategie der „Absorption“ des Sprawl, der als Hauptverursacher der CO2-Gase gilt. Die Ausbreitung des Sprawl soll „aufgesogen“ werden, indem die Sprawlfunktionen Wohnen, Gewerbe, Dienstleistungen in verdichteten Vororten konzentriert werden. Diese sogenannten Intermodal Villages sind zugleich Kreuzungspunkte des öffentlichen Regionalverkehrs an Grünkorridoren. Im Plan sind bisher 23 derart verdichtete Vororte vorgesehen, vorrangig in den Gebieten des kritischen Wachstums, die einem erhöhten Sprawldruck ausgesetzt sind. Damit werden die alten, autobezogenen „Edgecities“ abgelöst. Die Intermodal Villages werden mit einer neuen Ringbahn nach Süden erschlossen. Das schienengebundene System wird ergänzt durch Lückenschlüsse im Highwaysystem (mit moderatem Ausbau) und sogenannte Intermodal Centres, Infrastrukturverbünde, die Schienen-, Straßen- und Luftverkehr verknüpfen.
Parallel zu dieser stadtregionalen Strategie hat Chicago eine zentrale Funktion beim Aufbau einer unter Barack Obama angeschobenen Hochgeschwindigkeitseisenbahn. In der Strategie „America 2050“ sind insgesamt elf Großräume für den Aufbau des Hochgeschwindigkeitsnetzes ausgewiesen. Chicago soll als einer dieser Großräume das Drehkreuz des Netzes im Raum der Großen Seen werden. Dafür wird im Stadtzentrum, dem Loop, ein neuer Verkehrsknoten gebaut. Im „West Loop Transportation Center“, einem Umsteigebahnhof auf mehreren Ebenen, sollen zukünftig die Hochgeschwindigkeitszüge ankommen.
Eine Verkehrswende?
Wenn es in den vier Metropolen wie geplant gelingt, der Eisenbahn eine Schlüsselrolle in der Verkehrsmittelwahl der Zukunft zuzuweisen, kann die Verkehrswende für eine klimagerechte stadtregionale Entwicklung gelingen. Die Modellstädte stehen für gegenwärtige Trends in den früh industrialisierten Ländern. Doch die nationalen Politiken sind ambivalent. Am deutlichsten wird dies – mit unterschiedlichen Vorzeichen und diametralen Ausgangsbedingungen – in Deutschland und den USA. Während die US-Administration die Eisenbahn massiv fördert, setzt Deutschland gegensätzliche Zeichen. In allen vier Städten stehen die Verkehrsmodelle nach wie vor für die längst nur noch eingeschränkt gültige Planung des Wachstums. Ihre Strategien weisen teilweise bereits darüber hinaus – der Nachweis der Gültigkeit unter Schrumpfungsbedingungen steht allerdings noch aus.
Doch in die Mobilitätsverheißungen mischt sich seit Jahrzehnten immer wieder Unbehagen. Die exorbitante Inanspruchnahme von Landschaft, der sich ausbreitende Lärm und die Sicherheitsrisiken sowie die Folgen für das Ökosystem rücken im Zuge der Klimadebatte wieder vermehrt in den Fokus der kritischen Auseinandersetzung. Auch die Sicherung der Mobilität innerhalb der Großstadtregionen verlangt nach neuen Wegen, sind doch die alltäglichen Staus zu einem Alptraum geworden, und öffentliche Verkehrsmittel stellen, da häufig völlig überfüllt, keine glaubwürdige Alternative dar. Erst langsam gewinnt das Verständnis einer integralen Mobilität, die flächen- und ressourcensparend sowie sozial verträglich ist, an Bedeutung in der stadtregionalen Planungspolitik.
Lange wurde Mobilität als separate, technische Struktur begriffen, der sich die Gestaltung des öffentlichen Raumes unterzuordnen hatte. Im Zuge des Rückgewinns der innerstädtischen öffentlichen Räume als Aufenthaltsorte für Bewohner und Besucher muss Mobilität als Teil eines neuen Städtebaus begriffen werden. Die neuen Räume des Verkehrs strukturieren – zusammen mit dem Großstadtgrün – auch die Großstadtregion von morgen. Die technischen Träger einer neuen Art von Mobilität werden zum Symbol für ein neues Verständnis von Stadtkultur. Die Renaissance urbaner Verkehrsmittel wie der Straßenbahn, der Einzug von Elektrobussen, der Neubau von Bahnhöfen im Zentrum oder die Urbanisierung von Flughäfen gehören ebenso dazu wie politische Maßnahmen wie die Innenstadtmaut, die Förderung des Fahrradverkehrs oder neue Raumgestaltungskonzepte wie Shared Space, die mit der räumlichen Gleichstellung aller Fortbewegungsformen den alleinigen Anspruch des Autos auf die Straße beenden und damit den Abschied von der autogerechten Stadt einläuten. In vielen Orten wird der Verkehr neu geordnet. Die Großstadt-Regionen sind Wegbereiter einer neuen Mobilität, die sich heute nicht mehr als fortschrittsverheißende Technik mit dem Auto als Speerspitze darstellt, sondern als Aneignung des gesellschaftlichen Raumes mit verschiedenen klima- und stadtgerechten Techniken und Verkehrsmitteln.
Die vier Modellstädte Berlin, Paris, London und Chicago stehen mit ihren realisierten und geplanten Großprojekten prototypisch für die Renaissance der Schiene und repräsentieren nationale Ambitionen im Verkehrssektor. Auch wenn gleichzeitig in die autobasierte Infrastruktur investiert wird und Großbrücken wie das Autobahnviadukt im südfranzösischen Millau von Norman Foster große Aufmerksamkeit auf sich ziehen – Bahnpolitik ist wieder Staatspolitik, und die Metropolen spielen dabei eine herausragende Rolle. In allen gewählten Beispielen ist die Bahnpolitik Teil der Regionalstrategie einer polyzentrischen Entwicklung, die auch als optimal für eine klimagerechte Perspektive angesehen wird.
Berlin – kleine Schritte und große Projekte
Kennzeichnend für die mobilitäts- und klimabezogene Politik Berlins ist ein eher pragmatisches denn visionäres Vorgehen. Mit dem Stadtentwicklungsplan Klima implementiert die deutsche Hauptstadt den Klimaschutz derzeit sehr konkret, aber zumeist durch „Sowieso-Maßnahmen“. Zu diesen kleinen Schritten – die sowieso auf der Agenda standen – gehören die Qualifizierung der innerstädtischen Grünflächen, die Einführung von Umweltzonen und die Stärkung des öffentlichen Verkehrs. Dass zur gleichen Zeit um den Ausbau der innerstädtischen Autobahn A100 gerungen wird, zeigt die Widersprüchlichkeit klimapolitischer Stadtentwicklungspolitik. Eine grundsätzliche öffentliche Debatte zum Klimaschutz, wie etwa in Chicago, findet in Berlin nicht statt. Die vorhandenen praktischen Fortschritte sind wichtig, können eine Strategie aber nicht aufwiegen.
Berlin hat aufgrund seiner historischen Struktur als kompakte und dennoch durchgrünte Stadt einen vergleichsweise günstigen ökologischen Fußabdruck von „nur“ 4,41 Hektar. (Dies ist weniger als der deutsche Durchschnitt von 5,32 Hektar, der halb so groß ist wie in Chicago.) Diese positive Ausgangslage wird durch stadtregionale Konzepte wie Regionalparks unterstützt, die die Hauptstadt mit dem Brandenburger Umland verzahnen. Sie sind entlang sogenannter Regionalachsen angeordnet, die im Landesentwicklungsplan fixiert sind, und schaffen zugleich ökologische wie funktional wertvolle Distanzzonen im ansonsten stark suburbanisierten Berliner Speckgürtel. Tragende Säule der vergleichsweise positiven Umweltentwicklung Berlins ist aber letztlich die Struktur der öffentlichen Mobilität. Flaggschiff ist der neue Hauptbahnhof, der neben der überregionalen verkehrspolitischen Bedeutung starke Symbolkraft für die Renaissance der Eisenbahn in Europa besitzt. Das weit gestaffelte Verkehrssystem, dessen Einzugsgebiet bis über die Landesgrenzen Brandenburgs reicht, schließt die Regionalbahnen mit ein. Es ist effektiv vernetzt und entlastet den motorisierten Individualverkehr. Dass es aber zum Beispiel noch immer fast keine Straßenbahnen im westlichen Teil der Stadt gibt, zeigt schlaglichtartig die Unvollkommenheiten in diesem ansonsten mustergültigen System.
Mit dem neuen Hauptstadtflughafen Berlin-Brandenburg International ist das nächste Flaggschiff schon im Bau. Zwar wurde hier ein eher urbaner Airport nicht weit ab der Stadt geplant, der ein Zeichen für die Reurbanisierung dieser Art von Großinfrastrukturen setzen kann. Dennoch passt ein Großflughafen eigentlich nicht in die klimapolitischen Notwendigkeiten des 21. Jahrhunderts. Eine verbesserte Anbindung des bereits ausgebauten und für Interkontinentalflüge bestens gerüsteten Flughafens Halle-Leipzig hätte womöglich den Zweck erfüllt, den nun ein neuer Großairport in nicht einmal einstündiger Entfernung von Halle-Leipzig wahrnehmen soll.
Paris – auf dem Weg zur Dezentralisierung
Die „Ile de France“ ist traditionell das Herz Frankreichs. Alle Verkehrsachsen sind radial auf die Hauptstadt orientiert, münden in Ringe und gliedern den Großraum Paris sozial-funktional. Derzeit wird auf drei Ebenen eine Weiterentwicklung und Neudefinition dieser Struktur vorgenommen. Basierend auf den Ergebnissen des Wettbewerbs „Grand Paris“ (Stadtbauwelt 182) soll das bisher ausschließlich zentralisierte Mobilitätssystem im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung auf drei Ebenen umgebaut werden.
Auf lokaler Ebene ist eine Schienen-gebundene „Große Acht“ geplant, bestehend aus zwei sich ergänzenden Ringen. Der eine verbindet die äußeren Vorstädte, der andere durchfährt das Zentrum von Paris und greift weit nach Südwesten aus. Auf 130 km Streckenlänge sollen 40 Stationen die wichtigsten Verkehrsknotenpunkte und Entwicklungsschwerpunkte mit einbeziehen: Flughäfen, Fernbahnhöfe, Stadtteile und Vororte wie La Défense, Marne-la-Vallée, Saclay und Saint-Denis, aber auch Versailles. Für die Durchführung sind innerhalb der nächsten zehn Jahre 21,4 Milliarden Euro veranschlagt. Darüber hinaus soll die neue Stadtschnellbahn „arc express“, deren Trassen weiter von der Kernstadt entfernt liegen, vor allem die „banlieue“-Gebiete verbinden. Der französische Staat sieht dafür in den nächsten fünfzehn Jahren ca. sechs Milliarden Euro vor.
Die Große Acht gehört zu den Motoren eines den gesamten Korridor zwischen Paris und Le Havre umfassenden Plans für eine „Post-Kyoto-Landschaft“. Auf regionaler Ebene sollen hier bestehende Siedlungs- und Nutzungsschwerpunkte zu Polen verdichtet werden. Diese Orte hoher baulicher und kultureller Dichte sollen in eine räumlich-funktionale Interaktion mit den umliegenden suburbanen Streugebieten der „light city“ gebracht werden, so dass ein Korridor mit polyzentraler Struktur entsteht. Ziel ist eine „multifunktionale Landschaft“ mit den Flussauen der Seine, Marne, Oise und Essonne, eine Art Seine Parc bis zum Kanal, der die gesamte Metropolregion von Ost nach West verknüpft.
Diese visionären Planungen widersprechen allerdings zum Teil der auf nationaler Ebene stattfindenden pragmatischen Raumordnung. Der „schéma directeur“ (Raumordnungsplan) von 2008, das Basisdokument für die Ile de France, beinhaltet durchaus noch die radiokonzentrische Entwicklung von Paris, die von den beiden anderen Strategien zumindest partiell überwunden wird. Abweichungen ergeben sich an den konkreten Schnittstellen der geplanten Infrastrukturen mit den vorhandenen Systemen. Mit der Großen Acht, dem Arc Express und dem Konzept der Pole sind allerdings bereits wichtige Bausteine der neuen Visionen in den Raumordnungsplan aufgenommen worden.
London – Schienenstränge und „Shared Spaces“
Auch in der britischen Hauptstadt wird eine neue Verkehrs- und Klimapolitik auf verschiedenen Ebenen umgesetzt: von Europas größtem Shared-Space-Projekt bis zu den langfristig angelegten Umbau- und Entwicklungskorridoren der Stadtregion London (diese sind Teil des transeuropäischen Nord-West-Korridors der Europäischen Union). Dem Leitbild der Urban Renaissance entsprechend ist es das ehrgeizige Ziel der Stadtregierung, das Wachstum der Metropole innerhalb des derzeitigen ökologischen Fußabdrucks zu halten (s. Seite 28).
Das Herzstück der neuen verkehrspolitischen Ausrichtung Londons ist die im Bau befindliche Hochleistungsregionalbahn Crossrail. Sie wird den Einzugsbereich der Millionenmetropole deutlich erweitern, da sie 1,5 Millionen Menschen im Umland in einer Fahrzeit von 60 Minuten mit dem Zentrum verbinden wird. Ab 2017 wird die neue Bahnlinie in West-Ost Richtung durch die Stadt verlaufen, teilweise in einem Tunnel. Heathrow Airport, das West End, die City of London und Canary Wharf werden so zukünftig direkt miteinander verbunden sein. Der Ost-West-Korridor wird durch einen „Y“-Korridor in Nord-Süd-Richtung ergänzt, welcher auch die Flughäfen im Norden anschließt. Das öffentliche Schienensystem bildet den Kern der Raumstrategie für „Greater London“ aus dem Jahr 2009. Der ehemals industriell genutzte Osten Londons, das Lower Lea Valley und Thames Gateway, soll als Cluster sogenannter grüner Industrien etabliert werden. Gemeinsam mit den gut an den öffentlichen Nahverkehr angebundenen Subzentren und „High Streets“ in den Korridoren bildet er die robuste Grundstruktur der Stadtregion.
Doch auch die öffentlichen Räume auf der Ebene des Alltagslebens spielen in diesem Planungsdenken eine tragende Rolle. Hatte Bürgermeister Ken Livingston 2003 mit der City-Maut eine kleine Revolution ausgelöst, setzt sein Nachfolger Boris Johnson diese Politik mit ambitionierten Shared-Space-Projekten in neuer Weise fort. Der Umbau der Exhibition Road in eine von allen Verkehrsmitteln gleichberechtigt genutzte Fläche ist das größte Projekt dieser Art in Europa. In den folgenden Jahren will London über 220 Millionen Pfund in die Qualifizierung der öffentlichen Räume investieren. Diese dienen der Verbesserung der Lebensqualität in London insgesamt und unterstreichen das Ziel des Bürgermeisters, London zu einer der schönsten Metropolen der Welt zu machen. „Greater“ geht es nicht, aber das Ansinnen wird sehr „smart“ vorangetrieben. So dürfte auch die Olympiade nicht zur Gigantomanie geraten, sondern eher zu einer intelligenten Supershow, die wie nebenbei die ersten Teile des neuen Korridorsystems mit Leben füllen wird.
Chicago – die „Absorption“ des Sprawl
Den weitreichendsten Ansatz der vier Städte verfolgt Chicago. In der Region ist der Kurswechsel der US-Regierung in der Stadt- und Verkehrspolitik beispielhaft zu verfolgen. Die Stadt hat sich im „Greenhouse Gas Reduction Plan“ das Ziel gesetzt, bis 2050 eine Null-Emissionsstadt zu werden. Angesichts des Startpunkts der totalen Autoabhängigkeit scheint dies fast utopisch, zumindest aber sehr ambitioniert. Das Ziel wird räumlich durch die Strategie des stadtregionalen Umbauplanes Metropolis 2020 und des Regionalplanes bis 2050 umgesetzt
(s. Seite 64). Eingehende Untersuchungen zur Verteilung der Treibhausgas-Emissionen in der Region lieferten die Argumente für die Strategie der „Absorption“ des Sprawl, der als Hauptverursacher der CO2-Gase gilt. Die Ausbreitung des Sprawl soll „aufgesogen“ werden, indem die Sprawlfunktionen Wohnen, Gewerbe, Dienstleistungen in verdichteten Vororten konzentriert werden. Diese sogenannten Intermodal Villages sind zugleich Kreuzungspunkte des öffentlichen Regionalverkehrs an Grünkorridoren. Im Plan sind bisher 23 derart verdichtete Vororte vorgesehen, vorrangig in den Gebieten des kritischen Wachstums, die einem erhöhten Sprawldruck ausgesetzt sind. Damit werden die alten, autobezogenen „Edgecities“ abgelöst. Die Intermodal Villages werden mit einer neuen Ringbahn nach Süden erschlossen. Das schienengebundene System wird ergänzt durch Lückenschlüsse im Highwaysystem (mit moderatem Ausbau) und sogenannte Intermodal Centres, Infrastrukturverbünde, die Schienen-, Straßen- und Luftverkehr verknüpfen.
Parallel zu dieser stadtregionalen Strategie hat Chicago eine zentrale Funktion beim Aufbau einer unter Barack Obama angeschobenen Hochgeschwindigkeitseisenbahn. In der Strategie „America 2050“ sind insgesamt elf Großräume für den Aufbau des Hochgeschwindigkeitsnetzes ausgewiesen. Chicago soll als einer dieser Großräume das Drehkreuz des Netzes im Raum der Großen Seen werden. Dafür wird im Stadtzentrum, dem Loop, ein neuer Verkehrsknoten gebaut. Im „West Loop Transportation Center“, einem Umsteigebahnhof auf mehreren Ebenen, sollen zukünftig die Hochgeschwindigkeitszüge ankommen.
Eine Verkehrswende?
Wenn es in den vier Metropolen wie geplant gelingt, der Eisenbahn eine Schlüsselrolle in der Verkehrsmittelwahl der Zukunft zuzuweisen, kann die Verkehrswende für eine klimagerechte stadtregionale Entwicklung gelingen. Die Modellstädte stehen für gegenwärtige Trends in den früh industrialisierten Ländern. Doch die nationalen Politiken sind ambivalent. Am deutlichsten wird dies – mit unterschiedlichen Vorzeichen und diametralen Ausgangsbedingungen – in Deutschland und den USA. Während die US-Administration die Eisenbahn massiv fördert, setzt Deutschland gegensätzliche Zeichen. In allen vier Städten stehen die Verkehrsmodelle nach wie vor für die längst nur noch eingeschränkt gültige Planung des Wachstums. Ihre Strategien weisen teilweise bereits darüber hinaus – der Nachweis der Gültigkeit unter Schrumpfungsbedingungen steht allerdings noch aus.
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