Bauwelt

Grenzdurchgangslager Friedland

Das Grenzdurchgangslager Friedland in Niedersachsen blickt auf eine 70-jährige Geschichte zurück. Wo, wenn nicht dort, sollte die Erstunterbringung vieler Flüchtlinge reibungslos laufen. Offiziell ist die Einrichtung für 700 Menschen ausgelegt, doch im Herbst 2015 mussten auf einmal 3500 unterkommen. Ein Ortsbesuch in Krisenzeiten

Text: Crone, Benedikt, Berlin

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    Die katholische Heimkehrerkirche St. Norbert entstand in den 50er Jahren nach den Plänen des Göttinger Architekten Friedrich Wagener
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    Die katholische Heimkehrerkirche St. Norbert entstand in den 50er Jahren nach den Plänen des Göttinger Architekten Friedrich Wagener

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    Die zweigeschossige Variante, eine mit Dämmstoff und hellen Platten ummantelte Holzkonstruktion
    Grafik: Deniz Keskin

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    Die zweigeschossige Variante, eine mit Dämmstoff und hellen Platten ummantelte Holzkonstruktion

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    Jede freie Rasenfläche auf dem Lagergelände ist derzeit mit Containern belegt
    Grafik: Deniz Keskin

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    Jede freie Rasenfläche auf dem Lagergelände ist derzeit mit Containern belegt

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    Bis heute prägen die Baracken aus den 50er Jahren das Lager Friedland.
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    Bis heute prägen die Baracken aus den 50er Jahren das Lager Friedland.

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    Sieben Etagenbettten stehen in einem Containerzimmer. Auf dem Tisch findet informeller Deutschunterricht statt.
    Grafik: Deniz Keskin

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    Sieben Etagenbettten stehen in einem Containerzimmer. Auf dem Tisch findet informeller Deutschunterricht statt.

    Grafik: Deniz Keskin

Grenzdurchgangslager Friedland

Das Grenzdurchgangslager Friedland in Niedersachsen blickt auf eine 70-jährige Geschichte zurück. Wo, wenn nicht dort, sollte die Erstunterbringung vieler Flüchtlinge reibungslos laufen. Offiziell ist die Einrichtung für 700 Menschen ausgelegt, doch im Herbst 2015 mussten auf einmal 3500 unterkommen. Ein Ortsbesuch in Krisenzeiten

Text: Crone, Benedikt, Berlin

Friedland, der kleine Ort im Drei-Länder-Eck von Niedersachsen, Hessen und Thüringen, ist die Miniaturausgabe eines im 20. Jahrhundert stehengebliebenen Deutschlands: ein Edeka, ein Landgasthaus im Fachwerkstil, ein Imbiss namens „Boxenstopp“, eine Backsteinkirche aus der Nachkriegszeit. Die Straßen sind menschenleer, bunte Keramikfiguren hocken neben den Eingangstüren der Einfamilienhäuser, die ringsherum von Hügeln und noch mehr Hügeln umgeben sind. In dieser Umgebung verbringen Menschen am Ende ihrer Flucht aus Syrien, Irak oder Eritrea zwei bis drei Wochen, maximal drei Monate. Dann wird ihnen eine Wohnung in einer anderen Gemeinde Niedersachsens zugewiesen – oder sie werden abgeschoben.
Hinter den Hügeln versteckt, ist die niedersächsische Erstaufnahmeeinrichtung Friedland gut zu erreichen: Vom Hauptbahnhof Göttingen dauert die Bahnfahrt keine zehn Minuten zum Bahnhof Friedland. Von hier bis zur Anmeldestelle im Lager sind es nur weitere sieben Minuten Fußweg. Er führt am Gleis entlang bis zu einem Baustellenzaun, an dem ein mit Klarsichtfolie geschützter Zettel hängt: „Zum Grenzdurchgangslager Friedland“, daneben hängt ein Schild mit arabischen Schriftzeichen. Grenzdurchgangslager, diese immer noch aktuelle, offizielle Bezeichnung stammt aus der Zeit, als in Friedland Aussiedler und Flüchtlinge aus der DDR und Spätheimkehrer aus den Sowjetstaaten die Deutsch-Deutsche Grenze „überquerten“. Heute ist das Grenzdurchgangslager Friedland aber vor allem eine von vier Erstaufnahmeeinrichtungen in Niedersachsen. Während offiziell von Einrichtung gesprochen wird, benutzen viele, so auch der Leiter Heinrich Hörnschemeyer, den Begriff „Lager“.
Der mit Klarsichtfolie geschützte Zettel weist auf einen asphaltierten Weg und eine Betonrampe. Sie führt eine Böschung hoch und eh man sichʼs versieht stolpert man aus dem Schatten einer Baumgruppe auf eine Seitenstraße des Lagers Friedland. Erstaunlich einfach ist der Zutritt: kein meterhoher Zaun, keine strenge Kontrolle. Am Parkplatz sitzt ein Pförtner, der ermutigend nickt, wenn man zögerlich sein Häuschen passiert. Männer lehnen an einer Hauswand, wärmen sich in der Morgensonne und machen das, was die meisten Menschen an diesem Ort machen: warten. Sie sitzen auf Bänken, stehen vor Bürozimmern oder schlendern über das Gelände. Andere drängen sich mit Dokumenten in der Hand an administrativen Knotenpunkten wie der Anmeldestelle, die in der Mitte des östlichen Teils des Lagers leicht zu finden ist. Neben Arabisch, Persisch und Russisch sind hier auch englische Wortfetzen zu hören: „You have to wait here, this is all I can do for you“, sagt eine Studentin der Uni Göttingen, die wie andere Kommilitonen den Flüchtlingen bei der Orientierung hilft. Ihr Hinweis gilt einem Mann mit Rucksack, der sich bedankt, ans Ende einer Schlange stellt – und wartet.
Friedliches Miteinander
Wer das Lager Friedland betritt, steht in einer ziemlich grünen Siedlung aus etwa 20 Baracken, Containern und privaten Wohnhäusern, dazwischen ein Spielplatz, Birken und Büsche. Das 6,5 Hektar große Areal ist längst mit dem 1300-Einwohner-Ort Friedland verwachsen.
Im Westen befinden sich die meisten Unterkünfte und Freizeithäuser, im Osten die Verwaltung, Versorgung und Essensausgabe. Getrennt werden die beiden Bereiche durch einen Parkplatz und die Heimkehrerstraße, die nach Friedland hinein und wieder heraus führt. Die Flüchtlinge queren täglich diese Straße über einen Zebrastreifen und erreichen dann das Nadelöhr des Lagers: einen Backsteindurchgang unterhalb des Glockenturms der Heimkehrerkirche St. Norbert, entworfen in den fünfziger Jahren vom Göttinger Architekten Friedrich Wagener. Das glänzende Kreuz, das auf dem Turm von einem Metallgestell getragen wird, ist von allen Teilen des Lagers aus sichtbar. Kirchliche Institutionen haben in Friedland einen festen Sitz: Die Caritas, das evangelische Hilfswerk „Innere Mission“, das Deutsche Rote Kreuz, der Verein Friedlandhilfe.
Friedland ist so etwas wie die Mutter der deutschen Flüchtlingslager. Im September 1945 wurde es auf Anordnung der britischen Besatzungsmacht eingerichtet. Die ersten Heimkehrer nächtigten in Ställen, die der Tierversuchsanstalt der Universität Göttingen gehörten und von der britischen Besatzungsmacht beschlagnahmt, daraufhin desinfiziert und weiß gestrichen wurden. Männer, Frauen und Kinder schliefen auf Heidekraut, später in gestapelten Betten. Provisorische Zelte der Nachkriegstage wurden durch 19 Nissenhütten ersetzt – halbrund gebogene Blechbaracken, die mit einem knappen Meter Abstand aneinander gerückt wurden. In den fünfziger Jahren, als schon über 800.000 Menschen das Tor zur Freiheit passiert hatten, wurden die Nissenhütten gegen Baracken getauscht. Bis heute prägen diese, mit Dämmstoff und hellen Platten ummantelten Holzkonstruktionen mit Satteldach das Lager. Ihr Aufbau ähnelt sich: Je nach Höhe führt entweder eine Metalltreppe ins Obergeschoss oder auf eine Veranda oder es geht direkt in einen tiefen Flur, der bei den eingeschossigen Gebäuden durch Oberlichter erhellt wird. Links und rechts reihen sich die Zimmer auf. Die Namen ihrer Bewohner werden mit schwarzem Stift an eine Tafel geschrieben. An Fluranfang und -ende befinden sich Bäder und Küchenräume – selten mit Tisch und Stuhl, dafür mit Platz zum Kochen. Wertsachen werden in einem Spint verstaut, der am Ende des Flurs steht. An Hab und Gut besitzen die Flüchtlinge nicht viel. Sie teilen sich hier, je nach Familie und Geschlecht, ein Zimmer oder – das betrifft fast nur Männer, denn allein reisende Frauen sind selten – einen Schlafsaal. Bei normaler Belegung gibt es pro Person: einen Stuhl, einen Spint, ein Bett und pro Zimmer einen Tisch. Gebrauchte Wäsche wird von einer Reinigungsfirma abgeholt. Dennoch waschen die Bewohner auch zusätzlich: An Zäunen, Fenstern und Gittern hängen T-Shirts, Socken und Kinderkleidung in der Sonne.
Schritte und Kinderstimmen sind zu hören. Es riecht nach Curry, Kräutern und Tee. Ein Mann in Flipflops steht in der Küche und spült Teller. Gegenüber springt ein Jugendlicher mit schwarzem T-Shirt aus der Tür und ruft „Germany! Germany!“, als er mich sieht. „Big heart!“, wiederholt er mit strahlenden Augen. „Germany has a big heart!“ In gebrochenem Englisch versucht er seine Flucht zu schildern, die ihn aus Pakistan über Sizilien nach Europa führte: „Very slowly!“ Er verabschiedet sich mit einem kräftigen Händedruck zur Essensausgabe. Es ist Mittag. Vor der Kantine, in der jeder Flüchtling eine Portion warmes Essen bekommt, bilden sich zwei Schlangen. „Hier haben wir alle dazu gelernt“, sagt Heinrich Hörnschemeyer, Leiter der Einrichtung. Früher gab es eine Schlange, an der sich die Menschen bereits etliche Minuten vor Ausgabenbeginn sammelten, was zu langen Wartezeiten führte. Nun gibt es zwei Schlangen mit Absperrungen, und die Flüchtlinge wurden gebeten, sich erst kurz vor Ausgabe anzustellen.
Sobald das Wetter schön ist, verteilen sich die Menschen im Außenraum. Privatsphäre findet ein Flüchtling in Friedland am ehesten im Freien. Es ist ein Vorzug des abgelegenen Friedlands, in dem Junge wie Alte bei Sonnenschein in die Hügel oder in die Ruhe des kleinen Ortes verschwinden können.
Auf Hochtouren
Schwer lässt sich erkennen, wo der Wohnort Friedland anfängt und das Lager Friedland aufhört. Die Grenze verläuft diffus. Mal ein paar Meter Zaun, mal eine Hecke, dann ein Gitter. Nur die Akustik gibt Orientierung: Leere und Stille neben den Einfamilienhäusern, Gerede und Gedränge neben den Unterkünften der Flüchtlinge. Die Anwohner hätten keine Probleme damit, dass Flüchtlinge an ihren 50er-Jahre-Häuschen mit gestutzten Hecken, Glasstein-Windfang und verhängten Küchenfenstern vorbei schlenderten, sagt Hörnschemeyer. Wer mit den Flüchtlingen ein Problem habe, sei längst weg oder ziehe gar nicht erst her. Das Lager ist der größte Arbeitgeber im Ort – in einer strukturschwachen Region bedeutet das viel und erhöht unweigerlich die Akzeptanz. Doch in den letzten Monaten ist die Flüchtlingszahl auf das Fünffache der Kapazität gestiegen. 3500 Schutzsuchende sind an diesem Herbsttag in Friedland verzeichnet, drei Mal so viel, wie Friedland Einwohner hat.
Matratzen liegen in den Fluren des Verwaltungstraktes, unter Treppen, neben Glastüren und im Freizeitheim, in dem man sonst Billard spielen kann. Auf dem Bolzplatz wurden Zelte aufgestellt, auf einer anderen Wiese zweigeschossige Container. Zehn Menschen schlafen da auf etwa 18 Quadratmetern. „Schlafen vor Freizeit“ lautet der Leitsatz. Das war schon immer so in Friedland. Doch nun reicht selbst der Platz in den Freizeiteinrichtungen nicht mehr aus, um neue Ankömmlinge unterzubringen. „So etwas habe ich in meiner 25-jährigen Laufbahn als Leiter noch nicht erlebt“, sagt Hörnschemeyer. „Weder Ort noch Einrichtung halten diesen Zustand auf Dauer aus.“
Dennoch wirkt der hoch gewachsene Mann mit Brille, Schlips und grauem Schnurrbart entspannt, als könne er nur mit Gelassenheit dem Gedränge und Durcheinander vor seinem Bürozimmer begegnen. Beim Gang übers Gelände wird Hörnschemeyer von Flüchtlingen respektvoll gegrüßt, manche sprechen ihn auf Probleme an, die sie bei der Essensausgabe oder in der Unterbringung haben. Er hört zu und antwortet mit Namen oder Nummern von Räumen, in die sie ihre Probleme tragen sollen. Zu Sonderwünschen sagt er Nein. Auch die RTL-Reporterin, die ihn für ein Interview abfangen will, schickt er fort. Ohne Drehgenehmigung geht nichts. Die Medienanfrage ist groß. Hörnschemeyer redet routiniert, als hätte er seine Sätze so schon Dutzende Mal erzählt. „Aber die Berichte bewegen auch etwas“, sagt er. Es gäbe mehr finanzielle Mittel, mehr Aufmerksamkeit von vielen Seiten und die Polizei sei inzwischen fest im Lager stationiert.
Container mit Ausblick
Moaz, ein Flüchtling aus Syrien, erreichte vor eineinhalb Jahren Friedland. Er wurde anschließend in eine Wohnung in Niedersachsen verlegt, lernte Deutsch und macht inzwischen sein Abitur in Göttingen. Regelmäßig kommt der in Palästina geborene 20-Jährige zurück ins Lager, um anderen Flüchtlingen bei der Aufnahme zu helfen. Möglich ist das, weil der Zutritt zum Lager nicht kontrolliert wird und der Weg von Göttingen, wo Moaz wohnt, kurz ist. Der junge Mann mit Brille und Stoppelbart huscht über eine Rasenfläche zu den Containern. Die Treppe hoch und den Laubengang entlang öffnet er eine Tür: Sieben Etagenbetten aus Metall stehen darin, Holzstühle an der Wand; in der Mitte ein Tisch. Die Papierdecke ist mit arabischen Schriftzeichen, deutschen Wortfetzen und Zahlenspielen bekritzelt. Moaz nutzt sie für Deutschunterricht. „Ganz informell“, sagt er und lächelt. Durch das Fenster sind Wiesen und Hügel zu erkennen. Zwei Pferde grasen in der Sonne.
Während auf dem Lagergelände jede freie Rasenfläche bebaut oder mit Containern vollgestellt ist, scheint es drum herum reichlich Platz zu geben. Doch Hörnschemeyer winkt ab: Dafür müsste der Flächennutzungsplan geändert werden, das dauert. Im Süden grenzt das Lager an die Fläche eines Ziegelwerks, im Norden an Privatgrundstücke. Die Lösung heißt daher: schnellere Weiterverteilung der Flüchtlinge.
Hörnschemeyer, der am liebsten vom Lager redet, wie es einmal war – mit intaktem Fußballplatz und mit Freizeiträumen, die den Namen „Bravo“ und „Kakadu“ tragen – will nicht den Anschein erwecken, der Ausnahmezustand könnte ein verträglicher Normalzustand werden. Friedland hat nicht nur eine lange Geschichte mit Flüchtlingen. Der Ort scheint über die Jahrzehnte auch von der Außenwelt vergessen und einer Routine verfallen. Eine Routine, die bisher halbwegs lief und jetzt auf Hochtouren beansprucht wird. Aus dieser längst vergessenen Zeit scheint hier vieles: das Kreuz der Kirche, das über dem Lager in den Himmel ragt, der Name der Heimkehrerstraße, die durch den Ort führt, die 50er-Jahre-Baracken, die Heinrich Hörnschemeyer gerne sanieren würde, „aber sie sind ja durchgängig belegt“, die ruhigen Straßen, auf denen kaum ein Auto fährt und der verlassene Gewerberaum eines Wohnhauses, in dem vielleicht mal ein Handwerker oder ein Frisör saß. Der Besitzer ist in Rente gegangen, verstorben oder längst weitergezogen. Das lässt bei allen hier Vorbeikommenden den Eindruck entstehen: Viel wird in Friedland nicht mehr passieren.
Fakten
Architekten Wagener, Friedrich
Adresse Heimkehrerstraße 18, 37133 Friedland


aus Bauwelt 48.2015
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