Jenseits des Baubooms
Das Wiener MAK nimmt sich der Architektur Ostasiens an
Text: Schulz, Bernhard, Berlin
Jenseits des Baubooms
Das Wiener MAK nimmt sich der Architektur Ostasiens an
Text: Schulz, Bernhard, Berlin
Hand aufs Herz: Unser Bild von ostasiatischen Städten ist geprägt von Hochhäusern und Straßenschluchten, von Übervölkerung und Garküchen, von Abrisswut und gedankenlosem Neubau.
So wie man von „Tigerstaaten“ spricht und damit unter anderen Südkorea und Taiwan meint, so kommt einem zumindest die dortige städtische Gesellschaft hinsichtlich ihrer Bautätigkeit durchweg raubtierhaft vor. Oder aber man richtet seinen Blick auf die feinsinnigen Ausnahmen in Gestalt besonderer Architekturen, in Japan ohnehin, aber zunehmend auch in China, man denke nur an Wang Shu, den Pritzker-Preisträger des vergangenen Jahres (Bauwelt 12.12).
Dass unser Bild mit der Wirklichkeit nicht oder jedenfalls nicht mehr übereinstimmt, versucht die Ausstellung „Eastern Promises“ im Wiener Museum für Angewandte Kunst (MAK) zu zeigen. „Mehr als zwei Jahre lang unterzogen Christian Teckert und Andreas Fogarasi die dominanten, auch medial geprägten Images über das ostasiatische Architekturgeschehen einer kritischen Revision“, heißt es seitens des Museums. Und die Kuratoren Teckert und Fogarasi erläutern: „Wir haben versucht, eine vielschichtige Landschaft von Akteuren zu porträtieren, die Architektur weniger als Produktion ikonischer Objekte und spektakulärer Formen sehen als vielmehr als einen Katalysator für eine strukturelle Neuausrichtung der Gesellschaft in ihren räumlichen Dimensionen.“
Neue soziale Ästhetik
Es geht um eine „neue soziale Ästhetik“. Dabei sind die Bedingungen in den untersuchten Ländern China, Taiwan, Japan und Südkorea denkbar unterschiedlich. „In jedem der vier in der Ausstellung vertretenen Länder“, so die Kuratoren, „führen verschiedenste Zwänge und Dynamiken – von der autoritären Radikalurbanisierung Chinas über die intensiv umkämpfte Verdrängungsdynamik Südkoreas bis hin zur Extremverdichtung von Lebensraum in Japans und Taiwans Metropolen – geradezu zwangsläufig zur Freisetzung architektonischer Intelligenz und zu neuen räumlichen Strategien.“ Wer nun denkt, die Ausstellung bestätige beispielsweise das Vorurteil von den kaninchenstallkleinen Wohnungen Japans, wird überrascht jene Statistik zur Kenntnis nehmen, die im Hauptsaal des MAK angebracht ist. Der zufolge unterscheidet sich der Urbanisierungsgrad Japans nicht von dem Österreichs, und die Wohnfläche pro Einwohner ist in Japan mit 35,7 und in China mit 32,7 Quadratmetern gar nicht so weit vom österreichischen Standard, 43,3 Quadratmeter, entfernt. Anders sieht es da in Tokio aus, wo tatsächlich nur 14,8 Quadratmeter pro Kopf zur Verfügung stehen.
So haben denn die Kuratoren in Japan „Mikroarchitekturen“, „urbane Akupunkturen“ und „offene Plattformen“ besonders in den Blick genommen. Die durch Realteilung immer kleiner werdenden Grundstücke zwingen dort seit jeher zu kleinen, enorm angepassten Baustrukturen. Im Inneren städtischer, von Durchgangsstraßen gefasster Areale hat sich so eine beinahe dörfliche Struktur erhalten. Die geringe Lebensdauer von rund 25 Jahren, für die japanische Privathäuser berechnet sind, hat eine Fülle einfallsreicher und teils auch skurriler Lösungen hervorgebracht. Gezeigt werden beispielsweise „Haus H“ und „Haus NA“ von Sou Fujimoto (Bauwelt 47.09). Fujimotos Strukturen, mehr offen als geschlossen, eher schwebend als fest, stellen den Begriff des Hauses überhaupt in Frage. Auch das zwischen Tokioter Hochhäuser eingeklemmte Stadthaus „Garden and House“ von Ryue Nishizawa, dem Partner von Kazuyo Sejima im Büro SANAA, verleugnet die Tektonik des Bauens in Opposition zu den hochgetürmten Nachbarn, die es als „geliehene Fassaden“ gleichwohl einbezieht.
In China interessierten sich die Kuratoren besonders für die Probleme auf dem Land, die schlechte Infrastruktur und die schrumpfende Bevölkerung durch Migration in die Städte. Der Pekinger Architekt Li Xiaodong, längst auch im Westen bekannt, verwendet in der Liyuan-Dorfbücherei in Jiaojiehe/Huairou als Lichtschutz Äste – ein übliches Baumaterial in der Region. Seine in Gestalt einer Brücke errichtete Schule in Xiashi/Fujian verbindet die beiden Teile des Dorfes über den Fluss hinweg und dient zugleich als Bibliothek und Auditorium (Bauwelt 48.10). Das von John Lin aus Taiwan und dem Briten Joshua Bolchover gegründete Büro Rural Urban Framework mit Sitz in Hongkong hat in abgelegenen Dörfern der Provinz Guangdong Schulen und Dorfzentren errichtet, die auf die Erhaltung der zumeist von Subsistenzwirtschaft lebenden Dörfer abzielen. Beim Dorfzentrum von Jintao unweit von Shanghai greift Zhu Xiao- feng mit seinem Büro Scenic Architecture Office insbesondere auf die traditionellen hölzernen Türen und Fenstergitter zurück. Ebenfalls an lokalen Bautra-ditionen orientiert ist das Niyang River Visitor Center, das das Pekinger Büro standardarchitecture entworfen hat. Im Grenzgebiet zwischen Sichuan und Tibet gelegen, ist dieses öffentliche Gebäude allerdings auf die Bedürfnisse des wachsenden Tourismus ausgerichtet.
Tiefgreifende Umwandlungsprozesse
In Taiwan geht es eher darum, Lücken aufzuspüren, die der Bauboom und die verdichtete Wohnweise übrig lassen. Temporäre Projekte wie die Ruin Academy von Marco Casagrande und die Illegal Architectures von Hsieh Ying-chun und Wang Shu wollen Anstoß zur gesellschaftlichen Diskussion sein, der sich der „Tigerstaat“ Taiwan im Interesse ungebremsten Wirtschaftswachstums lange verschlossen hat.
Ähnliches gilt für Südkorea. Allerdings haben die Kuratoren dort vor allem städtische Projekte ausgemacht. Das auffälligste ist „Boutique Monaco“ von Minsuk Cho und seinem Büro Mass Studies: ein 117 Meter hohes Wohnhochhaus auf einem fünfgeschossigen Sockel mit Ladengeschäften. Dasselbe Büro entwarf aber auch das Pixel House, ein kleines Wohnhaus aus Ziegeln mit einer charakteristischen Eckrundung im Heyri Art Valley nördlich von Seoul, wo zumeist Kulturschaffende leben.
Gewiss, was die aktuelle Architektur angeht, lassen sich die vier untersuchten Länder nicht auf einen Nenner bringen. Zumindest aber vermag die Ausstellung, die auf ein vertieftes Verständnis sozialer und urbaner Zusammenhänge zielenden Projekte zu verdeutlichen. Es handelt sich durchweg um Projekte der jüngsten Zeit, keines entstand vor 2008; es handelt sich um Projekte jenseits des Baubooms, der aus einer tiefgreifenden Umwandlung der jeweiligen Gesellschaft erwuchs und der eine solche seinerseits wiederum provoziert. Die im MAK vorgestellten Büros haben sich zur Aufgabe gemacht, diese Wandlungsprozesse wenigstens zu thematisieren.
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