Bauwelt

Können wir von Theodor Fischer lernen?

Wohnen in München

Text: Wolfrum, Sophie, München

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Können wir von Theodor Fischer lernen?

Wohnen in München

Text: Wolfrum, Sophie, München

Theodor Fischer hat über lange Zeit die Stadtplanung Münchens geprägt. Er war von 1893 bis 1901 im damals neu gegründeten Stadterweiterungsbüro tätig und entwickelte ein differenziertes Bebauungskonzept, das viele Freiheiten bot: „Im übrigen möge innerhalb gewisser Grenzen jeder bauen, wie es sein Bedürfnis erheischt mit der ein­zigen Auflage, daß er weder den Nachbarn noch den öffentlichen Geschmack beleidige.“
Von besonderer Bedeutung ist die von ihm festgelegte Staffelbauordnung, die von 1904 bis 1979 rechtskräftig war. Heute wird in München über diese Bauordnung, die vor allem auf die Qualität der öffentlichen Räume hin konzipiert war, neu nachgedacht. 

München wird von vielen als „schöne Stadt“ angesehen, ohne dass man sich über die Gründe im Klaren ist. Es kommt das prächtige München als Residenzstadt in den Sinn, vor allem die entscheidenden städtebaulichen Setzungen durch Ludwig I. und Leo von Klenze. Oder einzelne historische Stadträume, der kleinteilige Stadtgrundriss der Altstadt in Verbindung mit dem riesigen Komplex der Residenz mit ihren Höfen. Zur Olympiade 1972 erfolgte mit den Dächern der Stadien und mit dem Olympiapark der Umbau zur „Stadt der Zukunft“. Im Bewusstsein sind außerdem die Isarauen und die sichtbare Gegenwart der Alpenkulisse. Aber alles das wäre nicht genug, wäre es nicht in ein kleinteiliges Gewebe der Stadtteile Münchens eingebunden, in ein tessuto urbano, das die Monumente der Stadt trägt und das überaus alltagstauglich ist.

Die für München charakteristischen Quartiere entstanden über die letzten hundert Jahre auf Grundlage eines dezidierten städtebaulichen Entwurfs, der das in der Gründerzeit einsetzende rasante Wachstum zur Großstadt bewältigte. Schwabing, Bogenhausen, Nymphenburg, Giesing, Sendling, um nur einige bekannte Quartiere zu nennen, wurden für diesen Wandel vom Residenzstädtchen zur Großstadt entworfen. Es sind heute die beliebtesten Wohnorte der Stadt, mit denen München identifiziert und deren Gentrifizierung beklagt wird, in denen Wohnen und Arbeiten, Kneipen und Universitäten, Krankenhäuser und Theater dicht an dicht liegen. Nur Experten ist bekannt, dass sie das Resultat systematischer Planung sind, wirken sie doch wie zufällig gewachsen: Vielfältig, dicht, unterschiedlich, ohne offensichtliches geometrisches System oder erkennbare Form auf dem Plan.

Die Staffelbauordnung

Nach einem Stadterweiterungswettbewerb 1892, der ohne eindeutiges Ergebnis ausging, richtete der damalige Münchner Stadtbaurat Wilhelm Rettig ein „Stadterweiterungsbüro“ ein, das systematische Pläne erarbeiten und mit einzelnen Baulinienplänen Bauprojekte ermöglichen sollte. Der Druck der Immobilienwirtschaft war groß, das Wohnungselend in der überfüllten Stadt eklatant, es musste schnell und pragmatisch Abhilfe geschaffen werden. Der junge Architekt Theodor Fischer wurde mit der Leitung dieses kleinen Amtes (ein Architekt und zwei Zeichner) betraut. Ohne ihn wäre München heute eine andere Stadt. Das Ergebnis seiner prägenden Tätigkeit im Stadterweiterungsbüro von 1893 bis 1901 war die Staffelbauordnung, die von 1904 bis 1979 rechtskräftig war. Dieses lokale Planungsrecht wurde mit einer Fülle größerer und kleinerer Plänen vorbereitet, mit denen Fischer in seiner achtjährigen Tätigkeit das damalige Stadtgebiet und dessen Erweiterungen über seine Grenzen hinaus systematisch überzog. Es entstand ein langlebiges und sowohl präzises als auch großzügiges Planwerk mit vielfältigen lokalen Verhältnissen.

Theodor Fischer war ohne Zweifel von Camillo Sittes 1889 erschienenem Buch „Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“ geprägt, das er aber keinesfalls dogmatisch als eine Stillehre begriff. Als solches war es auch nicht konzipiert. Wesentlich neu war die ästhetische Wahrnehmung von Stadträumen. Im 19. Jahrhundert machten wissenschaftliche Erkenntnisse im Hinblick auf die Natur des räumlichen Sehens und physiologisch-psychologische Forschungen große Fortschritte. Diese flossen in die Architekturtheorie ein, auch Camillo Sitte war davon entscheidend geprägt. Wenngleich er den Begriff „künstlerisch“ benutzte, wurden damit weder freie künstlerische Kriterien oder gar individueller Geschmack in die entstehende Disziplin des Städtebaus eingeführt. Sitte schloss vielmehr an den Stand der Architekturtheorie an, welche die Gestaltung und Wahrnehmung räumlicher Sachverhalte in der Architektur im Unterschied zur Skulptur und zum Bild betont. Vor diesem Hintergrund wirkten in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine Reihe von Planern, die Städtebau als Architektur im Sinne von Gestaltung von Stadträumen begreifen. Theodor Fischer war einer von ihnen.

Die Hohenzollernstraße

Fischer war kein Theoretiker, er schrieb nicht viel. Die „Sechs Vorträge über Stadtbaukunst“, 1920 publiziert, geben jedoch einigen Aufschluss. Im zweiten Vortrag, der den Straßen der Stadt gewidmet ist, heißt es: „Wir stoßen hier zum ersten Mal auf ein Erfordernis der Ästhetik, auf ein Mittel, das man der Augen wegen anwendet, d. i. der richtige Schluß einer Straßenstrecke, um den Eindruck des Räumlichen herzustellen, aber mit der ganz besonderen Betonung der Bewegungsform. Nicht das Verweilen, der Aufenthalt in diesen langen Straßenzügen liegt in unserer Absicht und in der Natur des gegebenen Raumes, sondern die Bewegung in einer Richtung. Es ist also eine psychologisch sehr naheliegende Forderung, dass ich diesem Raum ein die Augen des Wandelnden beschäftigendes Ziel gebe. Und darin kann man wohl einen ersten ästhetischen Grundsatz des Städtebaus erkennen, ohne fürchten zu müssen, auf unsicheren theoretischen und hypothetischen Boden zu treten.“

Ein Beispiel macht das anschaulich: Die Hohenzollernstraße führt mit leichtem Schwung und Gegenschwung vom Hohenzollernplatz nach Osten. Nur ein Schritt beiseite getan, und es öffnet sich ein neuer Blick in die Tiefe der Straße, jeder Schritt nach vorne verändert die Perspektive. Geht man mit einem Blick für diese Gestaltungsmittel durch die Stadt, erkennt man die Handschrift Fischers an vielen Orten, in vielen Raumsequenzen. Es ist eine Stadt, deren Räume Bewegung verlangen, die erst im Durchwandern ihren ganzen Reiz offenbaren. Entscheidend sind die performativen Qualitäten dieses Städtebaus. Man bezeichnet diese Viertel gerne auch als das „malerische München“, in Abgrenzung zum „prächtigen München“ der Residenzstadt. Es ist der falsche Begriff, denn entscheidend sind nicht die malerischen Bilder, sondern die Folge der räumlichen Sequenzen.

Fischer war ein Architekt, der eine praktische Ästhetik verfolgte, wie er es selbst nannte. Er verachtete spitze Winkel und das Linealschema, das schwierig zu bebauende Parzellen erzeugt.  Er befürwortete rückwärtige Baulinien und die Hierarchie von Straßen, um gut belichtete und ruhige Wohngebiete zu schaffen. Er plädierte für die Orientierung am Gelände, an alten Wegen und Parzellenstrukturen, um den Grundstückserwerb zu erleichtern und einfache Umlegungen zu befördern. Vorher waren einige Planungen gerade daran gescheitert. Das alles machte seine Entwürfe so erfolgreich, sie waren einfach umzusetzen. Aber über diese praktischen Beweggründe hinaus schätzte er das kollektive räumliche Gedächtnis, das sich in den topologischen Spuren der Landschaft niederschlägt: „Die Jahrhunderte haben unserem Boden Linien und Runzeln aller Art eingegraben, die ehrwürdig sein sollten“. Man sollte sie nicht leichtfertig opfern „damit der Geometer leicht Arbeit hat“.

In München wird darüber nachgedacht, ob und wie man den Ansatz der Staffelbauordung in ein zeitgemäßes Planungsrecht nach der Moderne transportieren könnte, das Städtebau nicht primär über Funktionen, sondern über stadträumliche Parameter steuert. Die Staffelbauordung operierte mit einem System von zehn Baustaffeln, die über Baulinien und -grenzen, über Bauhöhen und  Bauweisen ein sehr einfaches aber vor Ort differenziertes Reglement schufen, das immer auf die Qualität der öffentlichen Räume hin konzipiert war. Fünf Baustaffeln sahen geschlossene Bauweisen vor, die anderen fünf offene Bauweisen. Konzipiert war eine Verdichtung im Inneren der Stadt und an den Hauptverkehrsstraßen sowie eine sukzessive Auflockerung zu den Rändern hin oder ins Innere der Stadtteile, ohne festgelegten Schemata zu folgen.  Nördlich des Prinzregentenplatzes zum Beispiel stoßen acht der zehn Baustaffeln dicht aufeinander und bewirken ein charmantes scheinbares Durcheinander kleiner, geschlossen wirkender Straßenräume. Die Staffeln regelten die Dichte über die Höhe von Vorder- und Hinterhäusern, über die Breite der Straßen, über Vorgärten und Größe der Baublöcke. Mit Baulinien wurden die Straßen präzise vorgezeichnet, über die Bauhöhe wurden sie zu Straßenräumen gestaltet, über die differenzierte Setzung der Baustaffeln Raumsequenzen erzeugt.

Nach der Einführung des Bundesbaugesetzes wurden dessen Übergangsregelungen bis 1979 in Anspruch genommen, um weiter mit der Staffelbauordnung arbeiten zu können. Eine ganze Reihe von Festsetzungen sind danach in ein System einfacher Bebauungspläne überführt worden, sie sind damit weiterhin rechtlich wirksam. Wir vermissen jedoch heute ein Planungsrecht, das in ähnlicher Weise räumlich wirksam, langfristig tragfähig, extrem flexibel für Investitionen Einzelner und instrumentell sparsam ist.

Das Boot ist voll

Diese Planung griff zudem weit über die damaligen kommunalen Grenzen hinaus. Heute wäre es undenkbar, dass die Umlandgemeinden selbstbewusst auf ihre Planungshoheit bedacht sind. Sie wollten damals nicht Großstadt sein. Heute ist auch die Stimmung innerhalb der Stadt München anders. Wachstum wird als Bedrohung empfunden. Das Boot sei voll, heißt es bei vielen. Die Stadtplanung hat es dabei schwer, geeignete Strategien der Nachverdichtung zu entwickeln. Gleichzeitig sind die dichten Stadtteile Fischers, aber auch die älteren geometrischen Planungen des 19. Jahrhunderts die beliebtesten der Stadt. Die Konflikte bleiben keineswegs aus. Es sind die üblichen: Um 10 Uhr abends kommt die Polizei und bringt die Klage eines Anwohners, der sich gestört fühlt von dem Sommerfest, von den Gesprächen an Außentischen der Wirtschaft, von dem studentischen Workshop, von den Jugendlichen auf dem Platz, von diesem und jenem. Aber was ist das gegen eine gute Balance von Arbeitsplätzen, Wohnorten und Bildungseinrichtungen aller Altersstufen, wo man alles mit dem Fahrrad oder zu Fuß erledigen kann, wo der Englische Garten oder der Olympiapark nicht weit ist: Walkable City – Nachhaltige Stadt.

Dichte ist eine relative Größe. Als GFZ wird die Wohnfläche auf das Grundstück bezogen. Innerhalb einer Stadt ist es ein Vergleich der Stadtteile untereinander. Was ist in München schon dicht, im Vergleich zum Eixample in Barcelona. Unsere Gäste von dort finden München offen, etwas zu locker, grün. Kommt man von einer Reise zurück nach München (oder in irgend eine andere deutsche Stadt), wundert man sich, dass so wenig Menschen auf der Straße sind. Geht man dagegen an einem Sommer-Samstag in die Altstadt, muss man vor lauter Menschen vom Fahrrad absteigen, scheinbar sind alle dort. Aber es wohnen nur noch 10.000 Einwohner innerhalb des Altstadtrings, im Vergleich zu 50.000 noch vor wenigen Jahrzehnten. Dichte beginnt problematisch zu werden, wenn sie nicht einfach die Ereignisdichte einer alltäglichen Stadt ausmacht, sondern wenn Teile der Stadt zum Eventraum mutieren. Die kleine Altstadt Münchens ist nur noch Eventspace. Eine gute Balance im Gebrauch der Stadt, den Ausgleich zwischen Ereignisdichte und den diversen banalen Aspekten des Alltags, das bieten dagegen jene Stadtviertel heute, die Theodor Fischer entworfen hat.

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