Komplementäre Entsprechungen
Rethinking Mies
Text: Kerez, Christian, Zürich
Komplementäre Entsprechungen
Rethinking Mies
Text: Kerez, Christian, Zürich
Das architektonische Schaffen von Ludwig Mies van der Rohe hat viel mit Gegensätzen zu tun. Aber diese Gegensätze sind keine Widersprüche in sich oder Kontraste, die einen szenografischen Charakter haben. Diese Gegensätze bedingen sich gegenseitig. Erst durch sie erfüllt sich die Gegensätzlichkeit zur Architektur.
In diesem Sinne müsste man eher von komplementären Entsprechungen reden, auch wenn dieser Begriff etwas gesucht wirken mag.
Den Barcelona-Pavillon könnte man als eine Anlage lesen, die aus zwei Häusern besteht. Ein kleineres, geschlossenes, unterteilt in einzelne Räume, ein wenig im Abseits stehend. Um den profanen Charakter dieses Hauses zu unterstreichen, verletzt ein kleines, aber gut sichtbar gesetztes Fensterloch die reine Wandfläche. Das zweite Haus, welches wesentlich größer ist, steht im Zentrum der Anlage. Hier unterteilen die Wände den Innenraum nicht. Ein schmales Wasserbecken liegt quer zum Hauptbau, es beendet die Raumfolge und wird durch eine umlaufende Wand fest umschlossen. Im Gegensatz dazu führt das große Wasserbecken in Längsrichtung in die Tiefe des Außenraumes und wird erst am Ende räumlich eingefasst.
Die Gegensätzlichkeit der architektonischen Elemente werden durch die Materialisierung weitergeführt. Der große Hofraum wird einheitlich durch rohe Steinplatten eingefasst. Auch die Sitzgelegenheit ist hier ein Teil der Architektur und besteht aus dem gleichen Material wie die Wand oder der Boden. Im Gegensatz zu dieser ruhigen, homogenen Wirkung wird der Hauptraum durch eine Vielzahl unterschiedlicher Materialien gegliedert und durch den Glanz aller Oberflächen die Spiegelungen von Stein, Glas und Wasser aufgelöst.
Zwischen diesen gegensätzlichen Architekturen befindet sich der einzige nicht betretbare Raum des Barcelona-Pavillons, ein Lichthof. Dieser trennt beide Bereiche vollständig und erhellt gleichzeitig das Spiegelbild, welches die eigentliche Vervollständigung dieser beiden komplementären Raumvorstellungen bildet. Dieses Spiegelbild erscheint durch diese Aufhellung nebelhaft und weit entfernt.
Für den Hauptsitz der Holcim Ltd. haben wir untersucht, wie zwei unterschiedliche Ausprägungen des Skelettbaus ausgebildet werden können, einerseits für die Fassade und andererseits für die innere Tragstruktur. Beide Strukturen bauen auf einer einfachen Stützen- und Balkenkonstruktion auf.
Auf eine irrationale Art und Weise durchdringen Lichthöfe einen Stützen-Platten-Bau in unterschiedlichen Größen und Richtungen und schaffen schluchtartige, barocke Perspektiven in dem ansonsten horizontal geschichteten, rationalen Gebäude. Diese kreisrunden Öffnungen durchbohren die Bodenplatten in verschiedene Richtungen und schaffen innenräumliche Durchblicke zwischen Verwaltungs-, Forschungs- und Weiterbildungsbereichen. Diese von Geschoss zu Geschoss wechselnden Öffnungen in der Bodenplatte erlauben keine durchgehende, vertikale Tragstruktur. Deshalb sind die Stützen zwischen den Geschossplatten reine Pendelstützen, die nur Druckkräfte aufnehmen und das Gebäude nicht aussteifen.
Die äußere Konstruktion hingegen ist wie ein Käfig aufgebaut. Die Stützen kreuzen sich, um Steifigkeit zu erzeugen, mit jedem Kreuzungspunkt halbiert sich die Dimension dieser Stützen, die zugleich den Fluchttreppen des Gebäudes folgen. Das Äußere erhält dadurch einen figurativen Charakter und bezieht sich auf den größeren Maßstab der industriellen Anlagen der näheren Umgebung.
Die komplementäre Entsprechung zwischen der Tragstruktur im Inneren des Gebäudes und in der Fassadenebene bedingen sich nicht nur architektonisch-entwerferisch, sondern stehen in einer unmittelbaren physischen Abhängigkeit, trotz einer vollständigen Trennung durch die Gebäudeisolation. Erst durch das Zusammenspiel dieser beiden Ordnungen entsteht die eigentliche Tragstruktur.
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