Le Corbusier kehrt zurück
Eine Ausstellung in Marseille
Text: Kabisch, Wolfgang, Paris
Le Corbusier kehrt zurück
Eine Ausstellung in Marseille
Text: Kabisch, Wolfgang, Paris
An einem geschichtsträchtigen Ort im Hafen von Marseille findet zurzeit eine sehenswerte monografische Ausstellung statt. „LC im J1“ nennt sich die Schau im Schiffsterminal J1.
Von hier brach Le Corbusier im Juli 1933 per Schiff nach Athen auf, um mit Architekten und Stadtplanern auf dem 4. Kongress für neues Bauen (CIAM) die funktionale Stadt zu diskutieren und schließlich die Charta von Athen zu Papier zu bringen. Die Architektur des Terminals, eine zweistöckige Eisenkonstruktion mit rohen Betonstützen, liefert den idealen Rahmen für eine Auseinandersetzung mit Le Corbusier und dem sogenannten Brutalismus, um den es hier laut Untertitel geht.
Tatsächlich sieht man sich mit einer weit umfassenderen Präsentation der Werke Corbusiers konfrontiert. Architekturmodelle, Zeichnungen, Gemälde, Teppiche, Skulpturen, Fotos, Filme; kurz: Man sieht Ausschnitte aus dem gesamten Arbeitsleben eines vielseitigen Künstlers, der als Autodidakt begann und als Architekt und Stadtplaner berühmt wurde. Dem Brutalismus, wie ihn der englische Kritiker Reyner Banham in den 50er Jahren definierte, also der radikalen Fortsetzung der Vorkriegsmoderne mit Betonung auf der Materialtreue, rechnete sich „Corbu“ selbst nie zu. Er begründete zum Beispiel die Verwendung von Beton mit den niedrigen Budgets der Nachkriegszeit und nicht ideologisch. Dennoch wurde er, vor allem durch seine Wohnungsbauten der Cités Radieuses (Marseille, Rezé, Berlin, Briey, Firminy) zum geistigen Vater dieser Bewegung – die später nachhaltig in Verruf geriet.
Die Frage des Brutalismus wird also nur in einem Teil der Ausstellung thematisiert. Statt eines elitären akademischen Diskurses hat der Kurator Jacques Sbriglio, Architekt und Generalsekretär der Corbusierstiftung, ein hochkomplexes, gutverständliches Ausstellungskonzept entwickelt. In zurückhaltenden Einbauten für die zahlreichen beeindruckenden Exponate zeigt er die Vielseitigkeit Corbusiers, macht beinahe beiläufig Farbgebung, Lichtführung und Proportionen erfahrbar und schafft eine logische Gliederung. Dabei lässt er Platz für Ausblicke auf Marseille und die den Architekten prägende Mittelmeerlandschaft.
Der Ausstellungsbesuch ist ein reines Vergnügen! Unwillkürlich stellt sich die Frage nach der weiteren Verwendung von „J1“. Im Rahmen des europäischen Kulturhauptstadtprojekts „Marseille-Provence 2013“ ist das gesamte zweite Stockwerk des Abfertigungsterminals reaktiviert worden. Nun werden Forderungen nach einer konstanten Nutzung laut. Doch wie viele Orte der Kultur kann sich Marseille auf Dauer leisten? Wenn der Euphorie über den Erfolg des Ereignismarathons eine nüchterne ökonomische Bilanz folgt, ist es mit den Träumen von „J1“ als Kulturzentrum sicher vorbei. Die Fähren legten dann – 80 Jahre nach der Reise Corbusiers – von einem neuen Einkaufzentrum ab.
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