Mit leeren Händen die Krise bewältigen
Text: Adam, Hubertus, Basel; Kossovskaja, Elena, Basel
Mit leeren Händen die Krise bewältigen
Text: Adam, Hubertus, Basel; Kossovskaja, Elena, Basel
Ein Portrait des Architekten Toni Gironès, der sich zu einem Spezialisten in der Revitalisierung von Ausgrabungsstätten entwickelt hat. Durch seine extrem bescheidenen wie poetischen Projekte ist er zu einem herausragenden Vertreter einer neuen Generation spanischer Architekten geworden – 2014 wird er in Venedig den katalanischen Pavillon bespielen.
Toni Gironès Saderra ist seit 1993 als freischaffender Architekt in Barcelona tätig. Er startete seine Karriere zu einer Zeit, da die spanische Architektur von großen Investorenprojekten, spektakulärer Architektur und grenzenlosem Wachstum bestimmt zu sein schien. Dass ein junger Architekt mit kleinen Projekten beginnt, ist an sich nichts Ungewöhnliches. Doch für Gironès war es eine bewusste Entscheidung, sich seinen Weg jenseits des Starsystems und der mit vielen Millionen subventionierten Kulturprojekte zu suchen – und das lange vor der Wirtschaftskrise in Spanien, die seit 2008 andauert.
Die in seinen Bauten ständig weiterentwickelte Aufmerksamkeit für die lokale Realität des Bauens und deren Brüche wird durch einen Blick zurück verständlich. Einen Großteil seiner Kindheit verbrachte er in Cadaqués, dem Künstlerdorf an der katalonischen Küste. Eine Irrfahrt auf einem Fischerboot mit seinem Vater, die im Nebel zwar wieder zurück an Land aber nicht ans eigentliche Ziel führte, war eine ebenso prägende wie traumatische Kindheitserinnerung: Im Nebel existieren keine räumlichen Bezugspunkte mehr. Von „instabilen Geografien“ spricht Gironès, wenn er die Landschaft von Cadaqués seither immer wieder, obsessiv, in Zeichnungen aus der Erinnerung heraus festhält und sich die landschaftsprägenden Elemente dabei verschieben. Zeichnungen sind ein Mittel für ihn, Fragen zu stellen, Entwurfsthemen zu umkreisen.
Das Erlebnis Cadaqués bildet den zentralen Bezugspunkt des Werks von Toni Gironès. Und in Cadaqués arbeitet er seit 1995 an dem Projekt „Passanelles“, das er zusammen mit den Bewohnern des Ortes inzwischen fast jedes Jahr neu organisiert. Die Passanella ist ein dünner Stein aus Schiefer, den man in der Gegend findet. Das Projekt, das der Architekt gleich zu Anfang seiner Karriere erfunden hat, greift auf ein vertrautes Spiel zurück: zum Strand gehen, eine Passanella auflesen und diese möglichst oft über die Wasseroberfläche hüpfen lassen. Gironès hat dieses Ritual in eine kollektive Form gebracht: An einem Strandabschnitt hat er die Wasseroberfläche durch Bojen in einem Raster von 40x40 Metern gegliedert, innerhalb derer zehn, mit Seilen begrenzte „Alleen“ aufs Meer führen. Jeder Teilnehmer spielt auf seiner Allee, und jeder Steinwurf ist zugleich auch eine akustische Vermessung des Raumes. Die Abstände, in denen die Steine die Wasseroberfläche berühren, definieren Tonhöhen, die Anzahl der Berührungen Takt und Zeit. So entstehen Melodien – akustische Räume. Die temporäre physische Konstruktion mit den Bojen, den Seilen, den Alleen – Punkten, Linien und umschlossenen Flächen – bildet den Rahmen für die Handlungen der Teilnehmer.
Cadaqués ist aber auch als Zentrum der katalanischen Nachkriegsmoderne für Gironès von Bedeutung. Architekten wie José Antonio Coderch, Peter Harnden und Lanfranco Bombelli bauten hier in den sechziger Jahren Sommerhäuser, in denen sich der Funktionalismus der Moderne mit der lokalen Bautradition verband. Es sind Häuser die Gironès seit seiner Jugend kennt. José Antonio Coderch hat in einem seiner Häuser ein Fenster auf einen Felsen geöffnet und diesen weiß gestrichen, ganz im Sinne der Moderne. Auch Toni Gironès rahmt in einem von ihm in einem Olivenhain errichteten Haus in Cadaquès einen Felsen. Doch er streicht ihn nicht weiß an – für ihn ist der Felsen ein Gegenüber auf Augenhöhe, vergleichbar mit einem Tier, das sich im Haus befindet, aber nicht domestiziert ist. Toni Gironès arbeitet mit gewöhnlichen Materialien, verwendet sie aber auf ungewöhnliche Weise. Der rohe Armierungsstahl, der in vielen seiner Bauten auftaucht, ist ein Signifikant des Prozesshaften. Er steht für das Nicht-Repräsentative, er macht deutlich, dass sich Projekte weiterentwickeln.
Umgang mit den archäologischen Stätten
Aus diesem Grund findet der Armierungsstahl bei den Entwürfen für archäologische Ausgrabungsstätten, die den Großteil der realisierten Projekte des Büros ausmachen, in unterschiedlichen Formen seine Anwendung – als Bauelement, das Halt gibt, vergessene Formzusammenhänge wieder sichtbar macht und den Ort selbst strukturieren hilft, und das mit minimalem Arbeits- und Kostenaufwand. Die Grundfrage, wie historische Schichten, von denen sich nach mehreren Tausend Jahren nur Spuren und Fragmente erhalten haben, für heutige Besucher erlebbar werden können, beantwortet Girones generell nicht mit pseudohistorischen Rekonstruktionen. Er arbeitet mit abstrakten Mitteln, mit einer Formensprache, die sich als räumliche Andeutung versteht. Auf dem Plateau von Can Tacó im industriellen Umland von Barcelona zum Beispiel werden verschwundene Turmmauern mit Stahl nachgezeichnet. Die Reste der Befestigungsmauer im Archäologischen Park von Iesso im Nordosten Kataloniens sind mit Holzpfählen markiert. In Iesso werden die Ruinen der römischen Stadt nicht offengelegt, sondern als strukturelle Stadtform durch Erdaufschüttungen sichtbar gemacht. In Can Tacó bleiben die Fundamentstreifen des ehemaligen römischen Kastells unberührt, das übliche Prozedere wird umgekehrt: Die Leere der früheren Innenräume des Hauses wird aufgefüllt, die ehemaligen Mauern bleiben Leerstellen, sind Aussparungen zwischen den aufgeschütteten Flächen.
Basis dieser Projekte ist die intensive Zusammenarbeit mit den Archäologen: Sie erklären dem Architekten die Befunde, er ihnen seine Projekte. Aufwändige Interventionen, ob Rekonstruktionen oder Schutzbauten, schieden bei diesen beiden Projekten schon aus Budgetgründen aus. Das entspricht auch Girones’ Arbeitsweise, Rekonstruktionen erachtet er als historisch fragwürdig und spektakuläre Eingriffe im Sinne einer ostentativen Architektur hält er an diesen Orte für unangemessen.
Gironès’ Entwurf für die Ausgrabungsstätte Can Tacó betrachtet die römischen Ausgrabungen nicht mit sentimentalem Blick in die Vergangenheit. Zwar legt sein Konzept die 2000 Jahre alte Geschichte wieder frei; aber gerade auch in der Behandlung der Ränder berücksichtigt er die Erfahrungen der Besucher in einer Landschaft, die keine Idylle ist, sondern ein industriell geprägter Raum. Die Industriebauten der unmittelbaren Umgebung sind quasi Teil des Entwurfs, man hört den Lärm der Straßen. Der Architekt vermittelt zwischen verschiedenen Schichten: Er gibt Zeit, Geschichte, Material und unterschiedlichen Realitäten einen eigenen, gerade in der Sparsamkeit der Ausführung zusammenhängenden Rahmen. Das gilt auch für den Bau, in dem die neolithischen Steinfunde von Seró präsentiert werden. Dieser dient nicht nur als Ausstellungsort für die historischen Funde und als Dokumentationszentrum, sondern übernimmt zugleich soziale Funktionen, für die es in Seró bislang keinen Platz gab: Er ist Verkaufsraum der lokalen Weinkooperative, Dorfbar, Gemeinschaftszentrum.
Innerhalb der spanischen Architekturszene kommt Toni Gironès heute eine Sonderposition zu. Seine Architektur zielt auf eine möglichst direkte Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Ort und den lokalen Bautraditionen, selbst wenn diese längst nicht mehr auf ein umfassendes Handwerks-Know-how bauen können, sondern selbst sehr pragmatisch und praxisorientiert daherkommen. Vorbildlich sind seine Konzepte deshalb, weil sie diese pragmatischen Seiten des alltäglichen Bauens nicht nur akzeptieren und ihr dabei eine überraschende Poesie abgewinnen, sondern weil er immer auch die möglichen Aneignungsformen durch die Nutzer im Blick behält. Dies gilt für das eingangs erwähnte Projekt Passanelles in Cadaquès, dies gilt zum Beispiel auch für einen mehrgeschossigen Wohnbau in Salou, für den der Architekt in minutiösen Recherchen dokumentiert hat, wie unterschiedlich die Bewohner die von ihm entworfenen Standard-Wohnungen möblieren und wie sie mit ihnen umgehen. Gironès’ Konzepte sind keine kurzfristige Reaktion auf die Wirtschaftskrise, sondern eine in 20-jähriger Praxis entwickelte Haltung, die gerade nach der Krise relevante neue Wege aufzeigt. Dies auch, weil es ihm gelungen ist, Architektur unter widrigen Bedingungen mit anderen Funktionen zu verbinden und ihr so neue Bedeutung zu erschließen.
Can Tacó
Auf dem Hügel von Can Tacó bei Montornès del Vallès befinden sich die Reste eines befestigten römischen Wohnsitzes. Zwei Verteidigungsmauern umgaben einst eine von Türmen bekrönte Villa. Ein partieller Wiederaufbau der Mauern kam nicht infrage, da dieser die authentischen Fundamentreste überdeckt hätte. Auf die Herausforderung, wie etwas wiederaufgebaut werden kann, das nicht mehr existiert, reagiert Toni Gironès mit einer formal abstrakten Strategie. Durch Aufschüttungen wurden die Hohlräume innerhalb der Mauern zu materialisierten Volumina, während die Mauern selbst mit ihren Fundamentresten zu Leerstellen innerhalb dieses Gefüges geworden sind. Die durch die Topografie der Landschaft bedingte Höhenstaffelung der römischen Villa mit ihren unterschiedlichen Ebenen sollte so wieder erkennbar werden. Einen der beiden Türme hat Gironès durch ein abstraktes Stahlgerüst in seinen vermuteten Umrissen nachgezeichnet.
Aus Kostengründen beschränkte man sich nur auf die Teile der Anlage, die für ihre Lesbarkeit wichtig erschienen. 150.000 Euro standen zur Verfügung, davon flossen 120.000 Euro in die Aufwertung der 2500 Quadratmeter umfassenden Ausgrabungsfläche, mit dem Rest wurde der Hügel für die Besucher begehbar gemacht. Schlichte Pavillons fungieren als Dokumentationsgebäude, kleine Plateaus wurden als Besucherbereiche integriert.
Iesso
Die Überreste der 116 v.Chr. gegründeten antiken Stadt Iesso wurden bereits Mitte des 20. Jahrhunderts unter der Ortschaft Guissona in der Provinz Lleida entdeckt. Doch die Ausgrabungen begannen erst 50 Jahre später. Innerhalb von zehn Jahren hat man einen Teilbereich der antiken Stadt zutage gefördert, der heute den Außenbereich des Archäologischen Museums bildet. Die Grundmauern eines Tor-Turmes, eines Schwimmbads und zweier Häuser wurden freigelegt. Der Architekt hat das Volumen des Turms mit einem filigranen Stahlgerüst wieder sichtbar gemacht und die einstigen Thermen mit einem Schutzdach überdeckt. Die Stadtmauer, die die römische Siedlung begrenzte, wurde mit einer Reihe von Holzpfeilern nachgezeichnet.
Um das übrige Ruinenfeld vor den für die Gegend typischen starken Regenfällen zu schützen, wurde es durch präzise Erdaufschüttungen überdeckt. Die dabei entstandenen Wälle zeichnen die Lage der Insulae im römischen Straßensystem nach. Als Bassins dienen sie der kontrollierten Versickerung des Regenwassers und lassen gleichzeitig die Grundlinien der römischen Stadt erlebbar werden. Für alle Maßnahmen, die von der Gemeinde, der archäologischen Behörde und der katalanischen Regierung gemeinsam in Auftrag gegeben wurden, standen nur 150.000 Euro – teilweise aus EU-Mitteln – zur Verfügung. Das Budget wurde eingehalten.
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