Neue Nischen?
Sanierungsbedürftige Gebäude, Leerstand, Preisverfall – was nach Krise klingt, könnte auch zu einer zweiten Chance für alternde Einfamilienhausgebiete werden. Unsere Autoren wagen ein Gedankenexperiment: Was wäre, wenn in der Vorstadt genau die Nischen schlummern, die in den Innenstädten nach und nach verschwinden? Wie könnte man dieses Potenzial aktivieren?
Text: Dechow, Philipp, Stuttgart; Jehling, Mathias, Leipzig
Neue Nischen?
Sanierungsbedürftige Gebäude, Leerstand, Preisverfall – was nach Krise klingt, könnte auch zu einer zweiten Chance für alternde Einfamilienhausgebiete werden. Unsere Autoren wagen ein Gedankenexperiment: Was wäre, wenn in der Vorstadt genau die Nischen schlummern, die in den Innenstädten nach und nach verschwinden? Wie könnte man dieses Potenzial aktivieren?
Text: Dechow, Philipp, Stuttgart; Jehling, Mathias, Leipzig
Lange Zeit begegneten viele Architekten und Planer dem suburbanen, von Einfamilienhäusern geprägten Raum mit Spott, Ablehnung oder Nichtachtung. Die heute viel diskutierte Renaissance der Stadt – der Siegeszug der urbanen Lebensstile und die in den letzten Jahren sprunghaft gestiegene Nachfrage nach Wohnraum in den Kernstädten – scheint diese Haltung zu bestätigen. Die Abwendung von den als spießig verschrienen Vororten ist nun offenbar in der breiten Masse angekommen. Doch für manche werden die Vororte gerade durch solche Entwicklungen interessant. Denn hier kündigt sich ein Umbruch an, der zu einer Krise des Suburbanen werden kann – der aber auch als Chance genutzt werden könnte, Suburbia neu zu erfinden.
Aus der Traum vom Haus im Grünen?
Anhand des Beispiels Karlsruhe lassen sich die aktuelle Entwicklung und ihre Begleiterscheinungen gut aufzeigen. Die Stadtregion Karlsruhe wächst. Die Zuwanderung wird bisher im zentralen Bereich der Stadt Karlsruhe oder in den Wohnorten in mittlerer Pendeldistanz aufgefangen – eine Entwicklung, die zunehmend soziale, aber auch immobilienwirtschaftliche Fragen aufwirft. Denn der Wohnraum im Zentrum ist knapp, die Mieten in der Innenstadt steigen beständig. Direkt an die alten Gründerzeitstadtteile schließt der erste suburbane Ring aus den 1950er bis 70er Jahren an, der neben Einfamilienhäusern vor allem durch Zeilenbauweise geprägt ist. Er ist flächendeckend recht gut durch den öffentlichen Verkehr erschlossen und bietet zudem besonders in den heißen Sommern durch seine geringere Bebauungsdichte und viel Grün ein angenehmeres Klima als die Innenstadt. Trotzdem stagniert dort die Bevölkerungsentwicklung, und viele der Stadtteile überaltern.
Ein Blick auf den Stadtteil Nordweststadt zeigt ein weiteres Phänomen: Die ursprünglichen Stadtteilzentren funktionieren in den Quartieren nur bedingt, viele Läden stehen leer oder werden nur teilweise genutzt. Stattdessen werden an Verkehrsknoten neue Supermärkte errichtet. Diese gewährleisten zwar die Nahversorgung des Quartiers, haben aber kaum die Qualitäten eines öffentlichen Raums. Bereiche, an denen so etwas wie ein öffentliches Leben stattfinden kann, entstehen so nicht.
Dramatisch ist die Situation in Karlsruhe heute sicher noch nicht. Aber zeichnet sich hier ein allgemeiner Trend ab, der sich in den kommenden Jahren beschleunigen könnte? Werden die Kernstädte immer attraktiver, vielfältiger, lebendiger und beliebter, während die Suburbias ärmer werden und ausbluten? Eine solche Entwicklung erscheint zumindest nicht abwegig, denn die Vorstädte – vor allem im innersten suburbanen Ring – wirken heute hoffnungslos altmodisch: autozentriert, monofunktional, monostrukturell.
Zwar wurde in den meisten Quartieren seit ihrer Entstehung die Erschließung mit dem öffentlichen Verkehr grundlegend verbessert, doch aufgrund der langen Wege scheint ein eigenes Auto in der Regel unverzichtbar. Den meist überdimensionierten Straßen merkt man deutlich die Vorrangstellung des Autos an, vor allem, wenn sie seitlich von Garagenhöfen, Garageneinfahrten, Stützmauern, undurchdringlichem Buschwerk oder sonstigen abweisenden Barrieren umgeben sind. Dadurch – wie durch die einseitige Nutzung als „Schlafstadt“– kann es keine Belebung von öffentlichen Räumen geben. Die einseitige Ausrichtung der Einfamilienhausquartiere auf Familien weckt zudem sofort Assoziationen zu dem fordistischen Rollenmodell des erwerbstätigen Mannes und der Frau als Hausfrau. Nicht zuletzt deswegen wirken solche Quartiere heute so unzeitgemäß. Dabei ist es gar nicht so entscheidend, ob und in welchem Maß die Familie statistisch zurückgeht, sondern eher, dass sie schon seit langem nicht mehr das unangefochtene gesellschaftliche Ideal ist. Längst haben sich daneben andere Lebensstile emanzipiert, seien es die früher seltenen oder verdrängten (Alleinerziehende, Singles, homosexuelle Paare, Wohngemeinschaften etc.) oder die in den letzten Jahren neu hinzugekommenen Lebensformen wie multilokale Haushalte (arbeitsbedingte mehrere Wohnsitze), LAT („living-apart-together“), Netzwerk-Familien, junge Alte und Ähnliches. Ein Quartier, das diese Vielfalt nicht widerspiegelt oder aufnehmen kann, entfernt sich zunehmend von der gesellschaftlichen Realität.
Die gentrifizierte Innenstadt – Suburbias Chance?
Auf der anderen Seite entfernen sich auch die Innenstädte von Teilen der Gesellschaft, die sich in den zunehmend gentrifizierten Bilderbuchquartieren nicht mehr wohl fühlen oder sich eine Wohnung dort schlicht nicht mehr leisten können. Vor diesem Hintergrund stellen sich die Vorstädte plötzlich anders dar, die Rückständigkeit wird zur Chance. Der erste suburbane Ring ist die zentralste Alternative zur Kernstadt – oder aber die naheliegende Erweiterungsmöglichkeit. Und der suburbane Raum hat nicht nur das Preisargument auf seiner Seite, sondern er weist auch viele „urban voids“ auf, jene ungehobenen Flächenpotenziale und Nischen, wie sie in der Kernstadt kaum noch zu finden sind: Neben dem schon angesprochenen Leerstand der Ladenzentren sind dies die versteckteren Formen von Leerstand, beispielsweise nur temporär genutzte Kirchenräume und die teilweise stark untergenutzten Einfamilienhäuser. Hinzu kommen viele unbebaute und funktionslose Flächen. Hier geht es nicht darum, die grünen Qualitäten der Vororte abzuschaffen. Vielmehr rücken planerische Restflächen in den Fokus. Die Aufmerksamkeit ziehen besonders die „inneren Ränder“ der Quartiere auf sich, beispielsweise nicht gefasste Übergangsräume zwischen verschiedenen Bebauungsstrukturen wie Einfamilienhäusern und Zeilenbauten oder manche aus heutiger Sicht überdimensionierte Abstands- und Reserveflächen für Infrastrukturmaßnahmen.
Alle diese Flächenpotenziale sind ein wertvolles Gut, wenn es darum geht, Suburbia für die Zukunft bereit zu machen. Dabei darf man sich nicht allein auf die Anziehungskraft niedriger Wohnkosten verlassen oder die Flächen für eine blind dem Markt folgende Nachverdichtung einsetzen. Diese Potenziale müssen genutzt werden, um einen grundlegenden Wandel anzustoßen, an dessen Ende eine neue Suburbia stehen könnte. Doch wenn wir am Beginn eines Umbruchs im suburbanen Raum stehen – und das ist unsere These –, wie müssen wir von planerischer Seite dann diesen Umbruch steuern? Mehr noch, sollten wir als Planer und Architekten in einer solchen Situation, in der die Rahmenbedingungen sich neu formieren, nicht eine Chance sehen, mögliche Fehlentwicklungen der Vergangenheit zu korrigieren und unseren Vorstädten eine neue Ausrichtung zu geben, ja vielleicht sogar eine neue Vision für Suburbia zu entwickeln? Die folgenden Thesen umreißen skizzenhaft, welche Weichenstellungen nötig erscheinen und in welche Richtung eine solche Entwicklung gehen könnte.
Nischen für eine Nutzung öffnen | Die Nischen in den Vorstädten sind derzeit nicht genutzt, obwohl die Nachfrage nach Nischen in der Stadt da ist. Eine Flexibilisierung des Immobilienmarktes nach dem Beispiel von Initiativen wie Raumaufzeit.de oder die ZwischenZeitZentrale (www.zzz-bremen.de), die mit ihrem Konzept kurzfristig zu mietender und zu kündigender Flächen neue Märkte geschaffen haben, könnte helfen, Dienstleistungsflächen wie Ladenzentren mit neuem Leben zu füllen. Auch aus dem Feld des „space sharings“ gibt es Ansätze, wie die üppigen Wohnflächen besser zu nutzen sind: „Wohnen für Hilfe“ steht für Projekte in deutschen Universitätsstädten, die Studierende auf Wohnungssuche und ältere Personen mit einem großen Haus zusammenbringen. Die Studenten können für wenig Geld mitwohnen und engagieren sich im Gegenzug in Haushalt und Garten. Und auch für die Freiflächen gibt es bereits Modelle, die sich einfach übertragen lassen, beispielsweise im Sinne eines„(sub)urban gardening“ oder für Konzepte wie „eatable city“, wo auf Restflächen Kräuter oder Obst angebaut werden.
„Suburban pioneers“ anlocken | Die vorhandenen Nischen in den Nachkriegssiedlungen brauchen Pioniere, die neue Personengruppen in die Gebiete bringen, die dort neue Orte definieren und Nachahmer anziehen. Teils können diese Nischen auch neu geschaffen werden, beispielsweise durch „office pavillions“, kleine Büroboxen, die in die bestehende Struktur eingefügt werden können, ohne den Baumbestand zu beeinträchtigen.
Multimodale Mobilität auch in Suburbia ermöglichen | Für die Vorstädte mit ihrer geringen Dichte müssen neue Mobilitätskonzepte und „sharing“-Angebote entwickelt werden, die sinnvolle Alternativen zum Auto schaffen. Schon eine erweiterte Kapazität für die Mitnahme von Fahrrädern im öffentlichen Verkehr könnte den autofreien Einzugsbereich suburbaner Gebiete erheblich ausweiten.
Die öffentlichen Räume aufwerten | Ein Grund für die neue Attraktivität der Kernstädte ist der Rückbau der Verkehrsanlagen und die Wiedergewinnung von Aufenthaltsräumen. Käme ein solcher Prozess auch in den Einfamilienhausgebieten in Gang, könnten hier ganz neue Qualitäten öffentlicher Räume entstehen. So könnten zum Beispiel Wegeverbindungen gebündelt, die Trennung von Fußwegen und Straßen aufgehoben oder neue Hierarchien in das meist sehr gleichförmige Straßensystem eingeführt werden.
Nutzungsdichte erhöhen | Orte, die der Soziologe Ray Oldenburg als „third places“ bezeichnet (nach der Wohnung, dem „first place“, und der Arbeitsstelle, dem „second place“), sind als Orte des informellen Treffens für das Leben im Quartier entscheidend. Durch Nachverdichtung können solche Dienstleistungen, zum Beispiel Gastronomie oder Sportstudios, das Wohnen ergänzen. Damit werden nicht nur Wege kürzer, es wird auch eine ausgewogenere Tag-Nacht-Nutzung erzielt.
Für neue Lebensstile öffnen | In Einfamilienhausgebieten finden sich bei Veränderung der Lebenssituation kaum alternative Wohnungsformen. Wo Nachverdichtungspotenziale für Wohnungsbau genutzt werden, sollten gezielt neue Lebensstile und deren Bedürfnisse berücksichtigt werden.
Suburbia sichtbar machen und neu codieren | Um eine wirkliche Öffnung für neue Personenkreise zu erreichen, muss die neue Suburbia ins Bewusstsein der Menschen rücken. Insbesondere die oben angesprochenen inneren Ränder der Stadt eignen sich dafür, dass die Vorstadt Gesicht zeigt, beispielsweise an den Einfallstraßen, denen die Wohnquartiere heute nur ihre Rückseite zuwenden oder gegen die sie sich mit Lärmschutzwällen abschotten. Hier können durch Nachverdichtung nicht nur neue Flächen geschaffen, sondern auch Stadteingänge gestaltet werden und die Quartiere eine neue Adresse erhalten. Unterstützen können diesen Prozess kleinere Leuchtturmprojekte – ein Biergarten in einer besonders schönen Lage etwa –, die die Qualitäten der Vorstadt nutzen, um Menschen aus anderen Quartieren und der Kernstadt anzulocken.
Ziel dieser Eingriffe kann aber nicht sein, dem suburbanen Raum eine kernstädtische Urbanität überzustülpen. Wenn Ellen Dunham-Jones in ihrem Buch „Retrofitting Suburbia“ (2011) straßenbegleitende Bebauung empfiehlt, um urbane Stadträume im suburbanen Raum zu schaffen, muss das nicht unbedingt ein Vorbild für Europa sein. Stattdessen sollten wir uns bemühen, für den suburbanen Raum eine eigene, neue Form des Städtischen zu finden, welche die Qualitäten dieser Gebiete erhält, sie aber dennoch modernisiert und mit den urbanen Lebensstilen versöhnt. Der deutsch-kanadische Stadtforscher Roger Keil berichtet aus New York bereits von einer solchen Entwicklung: In dem von ihm herausgegebenen Buch „Suburban Constellations“ (2013) beschreibt er, wie die „Cosmopolitan bohemia“ ihre Suche nach Raum auf die suburbanen Gebiete ausdehnt, sich die Peripherie aneignet und dadurch in den Wohnvorstädten einen Wandel vom durchgrünten, geschützten Ort der Kleinfamilie zum durchgrünten Ort der Kreativität und des Ausprobierens neuer Lebensstile in Gang bringt.
Dass manche Paradigmen des Urbanen nicht in Stein gemeißelt sind, belegen aber auch die suburbanen Räume Deutschlands. Im eingangs angeführten Beispiel Karlsruhe zieht derzeit die Konversion militärischer Liegenschaften in der Nordstadt „urbanes“ Leben in die Stadtrandlage. Ähnliches zeigen die zunehmenden temporären Nutzungen von Brachen in den Randlagen der Städte, die darüber hinaus deutlich machen, dass es nicht immer von Raumkanten umschlossene Stadträume braucht, um eine Urbanität eigener Qualität zu erzeugen.
Beispiele wie diese mögen Einzelfälle sein, doch vielleicht kündigt sich in ihnen so etwas wie ein neues Verständnis des Städtischen an, das nicht mehr nur vom Ideal der historischen europäischen Stadt geprägt ist, sondern darüber hinaus mit offeneren, wenig klar gefassten Raumsituationen und polyzentrischen Strukturen umzugehen vermag. Vorbilder wie diese braucht es, um mit dem Erbe der Nachkriegszeit umzugehen und ihm neue Qualitäten abzuringen – und damit Suburbia zu einer eigenen, einer suburbanen Urbanität zu verhelfen.
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