Nichts für Kontrollfreaks
Text: Dransfeld, Agnes, Copiapó
Nichts für Kontrollfreaks
Text: Dransfeld, Agnes, Copiapó
Niemand sonst hat so bildhafte Selbstbauprojekte entworfen wie Elemental mit ihren halben Häusern zum Weiterbauen. Seit mehr als zehn Jahren planen und betreuen die Chilenen partizipativen Sozialwohnungsbau in Lateinamerika. Eine Lektion mussten sie dabei lernen: Immer kommt alles ein wenig anders, als am Zeichentisch erdacht.
In einem Seminar an der Harvard University, wo Alejandro Aravena, einer der Gründer von Elemental, 2001 unterrichtet, entsteht die Idee für das erste Projekt, „Quinta Monroy“ in der nordchilenischen Hafenstadt Iquique. In dessen Verlauf wandelt sich die Universitätsinitiative zum Architekturbüro. 2004 wird Quinta Monroy gebaut, 2008 gewinnt Elemental dafür den Silbernen Löwen auf der Architekturbiennale in Venedig und erlangt internationale Bekanntheit. Heute sind die Projekte der Chilenen weltweit Referenzen für sozialen Wohnungsbau – vor allem wegen ihres spielerischen Umgangs mit der Typologie des wachsenden Hauses.
Sozialer Wohnungsbau in Chile unterscheidet sich fundamental vom sozialen Wohnungsbau in Deutschland: Die Bewohner sind Eigentümer ihrer Wohnungen. Der Eigenanteil, den es braucht, um die Förderung eines Hauses zu beantragen, liegt bei 0,02 Prozent der Baukosten, die verbleibenden 99,98 Prozent gibt der Staat. Heute beträgt die Mindestwohnfläche eines geförderten Eigenheims 45 Quadratmeter; als Quinta Monroy entstand, war das Budget für sozialen Wohnungsbau geringer, weshalb zu dieser Zeit wesentlich kleinere Sozialwohnungen gebaut wurden. Alle begünstigten Familien eines Projekts bekommen dieselbe Förderung und das selbe Haus – unabhängig von der Familiengröße oder ihren individuellen Bedürfnissen (außer im Falle einer körperlichen Behinderung.) Die Wohneinheiten werden als sogenannter bewohnbarer Rohbau übergeben, mit kompletter Strom- und Wasserinstallation, jedoch, mit Ausnahme des Bads, ohne jeglichen Innenausbau. So lassen sich Baukosten sparen, und den Bewohnern werden die Arbeiten überlassen, die sie leicht in Eigenleistung erbringen können.
Ein halbes gutes, statt ein ganzes zu kleines Haus
Jedes Sozialwohnungsbau-Projekt in Chile hat mit dem sehr eingeschränkten Förderbudget auf der einen und den hohen Preisen für günstig gelegene Grundstücke auf der anderen Seite zu kämpfen. Im Fall von Quinta Monroy sollen auf 3620 Quadratmetern 93 Wohneinheiten entstehen. Elemental präsentiert anstelle der gängigen Reihenhaustypologie ein Gebäudekonzept, das eine höhere Dichte ermöglicht: Zwei Wohneinheiten sollen übereinander gestapelt werden. Die untere Wohnung befindet sich im Erdgeschoss, die obere wird über eine Außentreppe in der ersten Etage erschlossen und verteilt sich auf zwei Geschosse. Um den Familien trotz des geringen Budgets von nur 7500 US-Dollar pro Wohnung eine angemessen große Wohnfläche zu bieten, schlägt Elemental vor, das Haus in zwei Etappen zu bauen. In der ersten, von einem Bauunternehmen ausgeführten Etappe werden in der unteren Wohnung 36 Quadratmeter gebaut, die obere Wohnung hat zunächst nur 25 Quadratmeter. In der zweiten Etappe können die Familien ihre Einheiten auf 70 beziehungsweise 72 Quadratmeter erweitern. Die Idee funktioniert: Obwohl die Bewohner nur über geringe finanzielle Mittel verfügen, erweitern alle Familien innerhalb der ersten zwei Jahre ihre nach der ersten Bau-Etappe bezogene Wohnung – größtenteils in Eigenleistung.
Manöverkritik
In Quinta Monroy sind die Häuser so angeordnet, dass sie eine Reihe von halböffentlichen Höfen bilden. Sie bieten Raum etwa für gemeinsame Feiern der in der Mehrzahl indianisch-stämmigen Bewohner, sollen mithin das nachbarschaftliche Zusammenleben fördern. Elemental nimmt nach eineinhalb Jahren gemeinsam mit den Bewohnern eine Bewertung des Projekts vor. Neben einer Menge positiver Resonanz wird kritisiert, dass die Innenhöfe nicht funktionieren, da sie hauptsächlich zum Parken genutzt würden. Zudem sind die Leute teilweise unzufrieden mit den Anbauten, die in der zweiten Etappe entstanden sind. Die Qualität der überwiegend im Selbstbau angefertigten Konstruktionen entspricht weder den Sicherheitsstandards noch den ästhetischen Vorstellungen der Eigentümer und Nachbarn. Ein besonderes Problem sind die Dächer der Erweiterungsbauten, die die Bewohner mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln nur selten wirklich dicht bekommen.
Die An- und Ausbauten variieren je nach technischem Können, finanzieller Situation und persönlichem Geschmack. Das führt zu einem optischen Chaos, das Architekten als Ausdruck spontanen Gestaltungswillens schätzen: ein Missverständnis. Die Bewohner von Quinta Monroy stammen aus sehr ärmlichen Verhältnissen, in denen sie von jeher mit dieser Art chaotischer Bauten konfrontiert waren. Die strenge Grundordnung des Entwurfs von Elemental war es, die ihre Hoffnung auf eine bessere, geordnete Zukunft widerspiegelte; ihre neue Siedlung sollte ordentlich und mittelständisch aussehen und nicht das Durcheinander und die „Pi mal Daumen“-Architektur abbilden, der sie zu entkommen hofften.
Schützende Hülle
Elemental nimmt sich die Kritik zu Herzen. Für das Projekt Renca, das 2006 in Santiago de Chile gebaut wird, entwerfen die Architekten eine neue Reihenhaustypologie. Die 170 nur viereinhalb Meter breiten Reihenhäuser gruppieren sich um Wohngassen, haben jedoch einen eigenen Vorgarten und einen Patio hinter dem Haus. Auch in Renca sieht das ursprüngliche Konzept den Bau der Häuser in zwei Etappen vor: Von jeder Wohneinheit soll zunächst die komplette Hülle fertiggestellt werden, die sich im zweiten Schritt im Inneren ausbauen lässt. So wollen die Architekten ein homogenes Bild der Siedlung und vor allem die konstruktive Qualität der Hülle garantieren. Im Innern soll das Haus zunächst tatsächlich leer sein, mit Ausnahme von Küche und Bad. Das über der Küche liegende Bad soll über eine Treppe erreichbar sein, die auch den Rest des Obergeschosses erschließen wird, wenn die Bewohner den Fußboden eingezogen haben. Die Erhöhung der Förderung im sozialen Wohnbaus just im Jahr 2006 und die damit verbundenen erweiterten gesetzlichen Mindestansprüche verlangen die Änderung des Zwei-Stufen-Konzepts: Gefordert ist nun ein komplett ausgebautes, dreigeschossiges Haus.
Obwohl die Wohnfläche der Häuser mit 67 Quadratmetern vergleichweise groß ist, erweitern viele Bewohner schon bald. Die meisten Vorgärten sind inzwischen überbaut, vor allem entlang der Hauptstraße wurden kleine Geschäfte oder Werkstätten eingerichtet. Die intendierte homogene Erscheinung der Siedlung hat sich weitgehend aufgelöst.
In chilenischen Familien mit geringem Einkommen ist es nicht unüblich, dass erwachsene Kinder mit ihren eigenen Kindern zunächst bei den Eltern wohnen bleiben. Daher kann der beim Einzug großzügig erscheinende Wohnraum schnell knapp werden und die Bewohner bauen an – weit über das von den Architekten vorgesehene Maß hinaus. Und so sehr unterscheidet sich der chilenische Häuslebauer nicht vom deutschen: In den eigenen vier Wänden ist er König und will sich nicht vom Nachbarn reinreden lassen, sich nicht in Gestaltungsfragen mit ihm absprechen oder aufgrund unterschiedlicher finanzieller Möglichkeiten den eigenen Anbau aufschieben. Die individuellen Vorstellungen und Bedürfnisse der 170 Eigentümer in Renca scheinen am Ende stärker zu sein als die am Reißbrett gezeichnete Architektur.
Halbe Hülle unter ganzem Dach
Nichtsdestotrotz findet der Grundgedanke der „schützenden Hülle“, die den Umfang des Anbaus beschränken soll, Anklang bei den Bewohnern in Renca und in den Siedlungen, die in der Folge entstehen, sowie – nicht ganz unwesentlich für den Erfolg von Elemental – beim Wohnbauministerium. Das aktuelle Sozialwohnungsbauprojekt des Büros, „Villa Verde“ in Constitución, ist im Grunde eine Mischform der beiden Typologien aus Quinta Monroy und Renca. 2009 erhält Elemental von der Holzfirma Arauco den Auftrag, Wohnhäuser für die Arbeiter des Unternehmens zu entwerfen. Wieder kommen die bekannten Elemental-Grundsätze zum Tragen: Der Bau in zwei Etappen; eine städtebauliche Gruppierung der Wohneinheiten, um Gemeinschaftsflächen zu schaffen; ein vergleichsweise hoher An- und Ausbaustandard, der für Wohn- und Schlafräume angemessene Größen vorsieht.
Die Siedlung Villa Verde umfasst 484 Wohnungen. Die erste – die „offizielle“ – Bau-Etappe steht kurz vor dem Abschluss. Da der Auftraggeber sein Geld in der Holzwirtschaft verdient, sollen auch die Arbeiterwohnungen in Holz konstruiert sein. Die Reihenhäuser bilden mit ihren Satteldächern auf geradezu symbolhafte Weise den klassischen Umriss eines Hauses nach. Jedoch ist nur die eine Hälfte des Umrisses „gefüllt“, während die andere Hälfte, der Erweiterungsteil, vorerst leer bleibt – bis auf drei Deckenbalken. Auf diese Weise sind den Bewohnern zum einen ein dichtes Dach und eine stabile Konstruktion garantiert. Zum anderen ist ein deutlicher Rahmen gesetzt für die Freiheiten, die sie sich bei der Gestaltung ihres Anbaus im Laufe der Zeit ganz sicher nehmen werden.
0 Kommentare