O-Töne
von und über Hermann Muthesius im Werkbundarchiv
Text: Kasiske, Michael, Berlin
O-Töne
von und über Hermann Muthesius im Werkbundarchiv
Text: Kasiske, Michael, Berlin
"Er ist gut vernetzt", würde man heute über ihn sagen. Hermann Muthesius' Kommunikationsmittel waren Briefe. 8000 finden sich in seinem Nachlass: 1000 von ihm geschriebene und 7000 an ihn gerichtete.
Über Hermann Muthesius (1861–1927) kann man nicht sprechen, ohne Julius Posener zu erwähnen. Der 1906 geborene Kritiker, der bereits als Architekturstudent in Muthesius’ Landhaus Cramer ein „Paradise lost“ sah, erkor diesen zum Protagonisten des architektonischen Aufbruchs im wilhelminischen Deutschland und zum unverzichtbaren Vorläufer des Funktionalismus. Diese Zuschreibung lässt sich zurzeit in der Berliner Ausstellung „Schreiben & Bauen. Der Nachlass von Hermann Muthesius im Werkbundarchiv“ überprüfen.
Heute würde man Muthesius als „gut vernetzt“ bezeichnen; sein Kommunikationsmittel waren Briefe, von denen rund 8000 vorliegen – 1000 von ihm geschriebene und 7000 an ihn gerichtete. Anlass für die Präsentation im Werkbundarchiv ist die Restaurierung eines sogenannten „Letter-Book“; Muthesius schrieb Briefe mit Kopiertinte, um Abdrücke in Blindbänden anfertigen zu können. Ein Letter-Book dokumentiert die Korrespondenz seines Aufenthalts in Japan (1887–90), zwei weitere die Zeit als Attaché für das Bauwesen in der Deutschen Botschaft in London (1896–1903). Auszüge der Briefwechsel mit Charles Rennie Mackintosh, Richard Riemerschmid u.a. werden an Hörstationen vorgelesen.
Gegenüber Riemerschmid beklagt Muthesius den „Blödsinn, der an den Handelsschulen verzapft wird“; für diese ist Muthesius im Handelsministerium bis zum Eintritt in den Ruhestand 1926 zuständig. Um die ungetrübte Fortsetzung ihrer Freundschaft bittet er den Werkbundgefährten nach dem Streit 1914: Mit seiner Forderung nach Typisierung, die auf Industrieprodukte abzielte, war Muthesius in Konflikt mit Henry van der Velde geraten, der die individuelle künstlerische Freiheit betonte – und sich durchsetzte. „Der Werkbund liegt an einer Stelle, an der ich nicht rühren möchte“, klagt Muthesius, nach seinem unausweichlich gewordenen Austritt verletzt, er wünsche nunmehr, schreibt er weiter, „in der Stille der eigenen persönlichen Arbeit zu leben.“
Diese Haltung ist auch einem weiteren Hördokument zu entnehmen: In vitalem Tonfall berichtet Muthesius’ inzwischen nahezu hundertjährige Tochter Renata Stepanek von Empfängen und Gesellschaften ihrer Mutter Anna, die dem Vater ein Gräuel waren. Er, der neben seinem Dienst im Ministerium ein mit Aufträgen gut versorgtes Architekturbüro führte, zahlreiche Bücher publizierte und eine umfangreiche Korrespondenz unterhielt, zog sich im weitläufigen Haus in Berlin-Nikolassee lieber zurück.
Die heutigen Bewohner des Hauses, Anatol und Danka Gotfryd, berichten – begleitet von einer Projektion historischer und aktueller Bilder – über ihre seit 1971 andauernde Aneignung des Hauses als Heimat: In Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege stellten sie den Garten wieder her, der wie bei allen Muthesius-Häusern den Innenraum nach außen fortsetzt; mehr noch: Mit zunehmender Wertschätzung für die gesamte Anlage fügte sich das Ehepaar dem „Willen des Architekten, den Lebenslauf der Bewohner zu gestalten und die Menschen zu erziehen“.
Posener sprach einst von der „epischen Qualität“ bei Muthesius und meinte eine Architektur für den täglichen Gebrauch. Was wäre eine solche heute, wo sich die Gestaltung des Grundbedürfnisses Wohnen in scheinbarer Konkurrenz zur virtuellen Welt befindet? Die Ausstellung lässt die Antwort erahnen – im Sinne eines Mottos des Ingenieurs Francis Thomas Bacon, das Muthesius seinen Bauten vorangestellt hat: „Houses are built to live in, not to look at.“
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