Ordem e Progresso
Text: Redecke, Sebastian, Berlin; Ballhausen, Nils, Berlin
Ordem e Progresso
Text: Redecke, Sebastian, Berlin; Ballhausen, Nils, Berlin
Das Grün der Staatsflagge Brasiliens wird in der Mitte von einer gelben Raute mit blauer Kugel geziert. Auf dieser Kugel ist neben einigen weißen Sternen unterschiedlicher Größe ein weißes Band zu erkennen. Darauf steht „Ordem e Progresso“ – Ordnung und Fortschritt.
Das Grün soll den Waldreichtum des Landes symbolisieren. Nimmt man es genau, dann müssten sich in diesem Grün auch einige weiße Flecken zeigen, denn die Abholzung des Tropenwalds im Amazonas-Gebiet durch legale und illegale Holzfäller und die, mit Blick auf den Klimawandel, bedrohliche Ausmaße annehmende Großlandwirtschaft sind nach wie vor brisant. Das Gelb indes steht für das Gold, das vor allem im Bundesstaat Minas Gerais zu großem Reichtum geführt hat. Man könnte es – wollte man die Flagge an die Gegenwart anpassen – um einige schwarzbraune Punkte ergänzen, die die gewaltigen Erdölvorkommen vor der Atlantiküste symbolisieren, die derzeit erschlossen werden. Das Blau schließlich soll das Firmament darstellen, genauer gesagt, den Himmel über Brasilien. Abgebildet ist eine Konstellation von Sternen, wie sie sich am 15. November 1889 über Rio de Janeiro zeigte. An diesem Tag wurde in Brasilien die Republik ausgerufen. Die Sterne stehen zugleich für die 27 Bundesstaaten.
Mit dem Wunsch nach Ordnung und Fortschritt auf seiner Flagge hatte sich das Land einiges vorgenommen. Brasilien war bereits seit dem frühen 19. Jahrhundert unabhängig von Portugal. Die große Zeit des Aufbruchs waren die fünfziger Jahre mit dem Staatspräsidenten Joscelino Kubitschek, der unter anderem den Bau der Hauptstadt Brasília im Landesinneren als staatliches Großprojekt initiierte und vorantrieb. Die jüngste Epoche des Fortschritts begann 2003 unter dem Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva von der brasilianischen Arbeiterpartei (PT). Er verknüpfte die wirtschaftliche Entwicklung mit einem bedeutenden Sozialhilfeprogramm, das ihn landesweit populär machte. Die Errungenschaften und Reformen unter Lula sollen unter seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff (seit 2011 im Amt) bewahrt und damit die Stabilität gesichert werden.
Ein Land im Umbruch
Offen, natürlich, herzlich – dies ist der erste Eindruck von der brasilianischen Gesellschaft mit ihrer Mischung aus Bevölkerungsgruppen, die von überall her eingewandert sind. Man spürt in Brasilien nicht nur eine tief verwurzelte Lebensfreude, sondern auch eine große Leidenschaft für das Land, ja sogar Liebe und Stolz. Doch dieses Bild der brasilianischen Lebensart wird getrübt, nicht nur durch die hohe Kriminalität und Gewalt in den Großstädten, sondern vor allem durch die Ungleichheit und die Ungerechtigkeit, die sich in der Struktur der Gesellschaft manifestiert hat und sie bis heute stabilisiert.
Nur wer das Land näher kennenlernt, einen wirklichen Einblick in die Lebensform bekommt, kann erahnen, in welcher Deutlichkeit sich die Gesellschaft in Gruppen untergliedert, die sich voneinander abgrenzen. Diese Segregation, die eine Gemeinschaft mit gravierenden sozialen Unterschieden offenbart, wird nach außen gern mit der sympathischen Lebensart überspielt und ist trotz vieler Bemühungen noch lange nicht überwunden.
Nun werden riesige Erwartungen an die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 und, zwei Jahre später, an die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro gestellt. Die Anstrengungen des Landes für diese Großereignisse waren und sind gewaltig. Die Kosten stehen für viele in keiner Relation zum eigentlichen Nutzen für die Allgemeinheit. Wichtiger als der Bau der Stätten für die Sportereignisse sind vielen Bewohnern die Umstände, unter denen sie errichtet wurden: „Top-Down“-Planung, undurchsichtige Vergaben und aufblühende Vetternwirtschaft. Man spricht von rein kommerziellen Interessen und von Geldverschwendung. Bei den Protesten im vergangenen Sommer war die Erhöhung der Busfahrscheine der Funke, der die Massen in den Großstädten in Bewegung brachte, doch es steckte viel mehr dahinter. Den immensen Ausgaben für die Großereignisse auf der einen Steite, steht auf der anderen Seite der Mangel an Geldern für die Bildung, das Gesundheitswesen und für den Ausbau der Verkehrswege gegenüber. Die öffentlichen Nahverkehrsmittel werden seit langem vernachlässigt. Die Verbesserung der Infrastruktur wurde trotz der wirtschaftlichen Entwicklung – Brasilien gehört weltweit zu den zehn wichtigsten Wirtschaftsstandorten – vielerorts außer Acht gelassen. Durch das Aufbegehern weiter Teile der Bevölkerung dazu gezwungen, betrachtet die Politik die Probleme nun mit weitaus größerer Aufmerksamkeit. Man kann auch sagen, es wurde überhaupt erst ein Bewusstsein dafür geweckt, sich diesen Themen zu nähern. Die Unruhen während des WM-Probelaufs, des Confed-Cup im Juni, waren ein ernstes Warnsignal. Sie zu ignorieren wäre auch mit Blick auf die Fußball-WM fatal und würde dem internationalen Ansehen schaden.
Die Lage scheint brisant zu sein, das zeigte die Veranstaltung zur Gruppenauslosung zur WM am 6. Dezember, die völ-lig abgeschirmt in einem millionenteuren Großzelt inmitten der Ferienwelt des exklusiven Badeorts Costa do Sauípe nördlich von Salvador da Bahia stattfand. Protestmärsche waren hier nicht möglich. Fußball-Legende Pelé zog bei der Zeremonie kein Los, da er nicht als Unglücksrabe dastehen wollte, falls er Brasilien zu schwere Gegner bescherte. Als im Juni die Proteste vor dem Maracanã-Stadion in Rio de Janiero eskalierten, provozierte er mit der Bemerkung, die Leute sollten besser die Spiele anschauen statt zu protestieren. Später distanzierte er sich von dieser Äußerung und beteuerte, „auf der Seite des Volkes“ zu sein.
Schlaglichter
Wir möchten mit dieser Stadtbauwelt ganz bewusst nicht die Klischees des Landes bedienen. Das Heft bietet eine Reihe von ungewohnten Einblicken, es sind eher aktuelle Schlaglichter auf Themen der Stadtentwicklung und auf die allgemeine gesellschaftliche Situation. Der in Berlin tätige Architekt Jens Brinkmann und der Bauwelt-Redakteur Florian Thein kamen im September mit positiven Eindrücken aus São Paulo zurück. Sie konnten ein Interview mit dem neuen Stadtbaudirektor führen (Seite 56). Die Beiträge im Heft konzentrieren sich jedoch nicht nur auf die Metropolen São Paulo und Rio de Janeiro, sondern betrachten auch hierzulande weniger bekannte Orte (Seite 56). Manche von ihnen werden bald durch die Großereignisse des Sports in den Fokus rücken. Unter den zwölf WM-Spielstätten haben wir uns für einen Besuch der Stadion-Baustellen in Cuiabá und in Manaus entschieden. Beide liegen weit im Landesinneren, haben mit besonderen klimatischen Bedingungen zu kämpfen und lassen die Fragwürdigkeit von kostspieligen Großprojekten für solche sportlichen Ereignisse erkennen (Seite 50).
So wie unsere Autoren sich ein persönliches Bild von der Lage gemacht haben, hat sich für diese Stadtbauwelt 200 auch der brasilianische Architekt und Grafiker Andrés Sandoval mit Stempelgrafiken in seiner ganz eigenen, sehr direkten aber auch spielerisch wirkenden Art den aktuellen Sorgen und Problemen des Landes genähert.
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