Riga – Kulturhauptstadt ohne Baustellen
Riga 2014
Text: Kil, Wolfgang, Berlin
Riga – Kulturhauptstadt ohne Baustellen
Riga 2014
Text: Kil, Wolfgang, Berlin
Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat architektonische und stadtplanerische Ausrufezeichen verhindert. Doch die Bürger der lettischen Metropole sind selbst aktiv geworden und lenken die Aufmerksamkeit auf die Leerstellen des Stadtgefüges
Am 18. Januar 2014, einem Samstag mit strahlendem Sonnenschein und klirrender Kälte, gab es in Riga wieder eine Menschenkette. An die 14.000 Freiwillige standen bereit, um den Bücherbestand der alten Nationalbibliothek in den Neubau am anderen Ufer der Daugava wandern zu lassen. Von Hand zu Hand, von Leser zu Leser. Was für ein begeisterndes Bild: Nach fast 25 Jahren des Hoffens und Bangens, des Planens und Bauens sollte nun endlich das riesige, pyramidengleich aufragende Bauwerk in Funktion gehen. In allererster Linie jedoch war mit dieser symbolträchtigen Veranstaltung der offizielle Startschuss für RIGA2014 gegeben. In diesem Jahr darf sich Riga, neben dem schwedischen Umeå, Kulturhauptstadt Europas nennen.
Es blieb vorerst bei der symbolischen Handlung, denn so richtig fertig war der Bau zum Jahresbeginn noch immer nicht. Um ganz sicher zu gehen, wurde die offizielle Eröffnung erst für den 29. August angesetzt. Und damit ist schon eine Besonderheit des diesjährigen Kulturhauptstadt-Sommers berührt: Bis auf die neue Nationalbibliothek – mehr zum Gebäude ab Seite 18 – muss das Rigaer Festivalprogramm ganz ohne spektakuläre Bauprojekte auskommen. Die Restaurierung der alten Burg zum Beispiel kam vorigen Herbst durch einen Baustellen-Großbrand tragisch zum Erliegen. Für die unterirdische Erweiterung des Kunstmuseums nach Plänen des litauischen Architekturbüros Processoffice ist noch kein Bauende absehbar, und auch der „Bücherhügel“ ist ja im Grunde gar kein Kulturhauptstadtprojekt, sondern ein Prestigevorhaben aus besseren Zeiten. Aber darin liegt auch der Realismus dieses lettischen Kulturhauptstadt-Auftritts: Natürlich war Riga mit ehrgeizigen Projekten ins neue Jahrtausend gestartet. Internationale Architekturberühmtheiten standen unter Vertrag, brachgefallene Industrie-, Militär- und vor allem Hafenanlagen sollten sich zu Kultur- und Geschäftszentren mausern. Links der Daugava, gegenüber der 1997 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärten Altstadt, sollte eine Hochhaus-City, ein „Riga von morgen“, entstehen. Doch dann kam das Jahr 2007, und seitdem stehen sämtliche Kräne still.
Krisenerfahrung
Die Herauslösung der drei baltischen Republiken aus dem großen sowjetischen Wirtschaftsraum hatte deren Volkswirtschaften heftige Turbulenzen beschert. Um neue Märkte im Westen zu finden, wurde die Schwerindustrie aufgegeben, da-für wurden Holzverarbeitung und Konsumgüterindustrie gefördert, dazu Dienstleistung und Tourismus. Die Reformen griffen schnell, günstige Steuersätze lockten Investoren, bald waren Wachstumsraten von über sechs Prozent, nach dem EU-Beitritt 2004 sogar zehn Prozent jährlich zu vermelden, was Lettland den Ruf eines „Baltischen Tigers“ einbrachte. Weniger Beachtung fanden dabei die Schulden, auf denen das rasante Wachstum beruhte und für die die Finanzkrise 2007 dann die Quittung präsentierte. Die Regierung reagierte mit Ausgabenkürzungen, entließ fast ein Drittel der Staatsangestellten, senkte die Gehälter im öffentlichen Dienst um vierzig Prozent. Um eine Staatspleite zu verhindern, vermittelte die EU Kredite in Höhe eines Drittels des Bruttoinlandsprodukts, die dafür geforderten Sparmaßnahmen trieben das Land in eine schwere Rezession. Aus Europas Wachstumsmeister wurde ein Sorgenkind. In Riga kam es zu Plünderungen und Straßenschlachten aufgebrachter Bürger mit der Polizei. Inzwischen pendelt die Arbeitslosigkeit landesweit um die zwanzig Prozent. Immerhin wurden seit 2012 die Maastricht-Kriterien erfüllt, weshalb man in Lettland seit dem 1. Januar dieses Jahres mit dem Euro bezahlt.
Hinwendung zum Bestand
Braucht eine Europäische Kulturhauptstadt überhaupt neuzeitliche Architektur? Noch dazu, wenn sie mit Historie und Kulturschätzen so reich gesegnet ist wie diese? Hansestadt, nordische Festung, humanistischer Bildungsort und Industriemetropole, bedeutender Handelsplatz, Schnittpunkt vieler Kulturen, russische und deutsche Vorherrschaften, stolze Kapitale des 1918 gegründeten lettischen Staates; und selbst von 1944 bis 1989, als unfreiwilliger Teil der Sowjetunion, von den „Brudervölkern“ um seine europäische Atmosphäre beneidet. Heute hat der Kreuzfahrt- und Städtetourismus Riga entdeckt, neben hanseatischen Stufengiebeln und verwinkelten Konventshöfen warten viele Attraktionen: die Eskapaden eines zügellosen Jugendstils, mit „Kaiserwald“ die erste Gartenstadt des Kontinents (1901), ein riesiger Markt in ehemaligen Luftschiffhallen, die größte Zahl an innerstädtischen Holzhäusern, auf einer Flussinsel Europas zweithöchster (und wahrscheinlich elegantester) Fernsehturm ...
Sollte zeitgenössische Kultur – wie ja auch das zeitgenössische Bauen – sich nicht besser im Bestand entfalten? Interessanterweise kam beim einzigen tatsächlich der Kulturstadt gewidmeten Bauprojekt, der überwiegend privat finanzierten Revitalisierung eines historischen Speicherviertels hinter den berühmten Markthallen, die Janusköpfigkeit solchen Vorgehens ans Licht: Zum einen hat eine snobistische Kulturschickeria die einst hier wuselnde Freie Szene mit ihren Open-Air-Partys und Flohmärkten verdrängt. Andererseits wurde zwischen den elitären Kulturspeichern auch in neue Freiräume investiert; dank deren aufwändiger Gestaltung konnte das Flussufer, bislang hinter einer Ausfallstraße weggesperrt, zur beliebten Flanierpromenade werden.
Wirklich an den Puls der Zeit gelangte das Kulturhauptstadtprogramm jedoch mit einem Projekt, das erst spät und überraschend an die Öffentlichkeit gelangte: „Free Riga“ nennt sich eine Bürgerinitiative (mittlerweile eine anerkannte NGO), die mit phantasievollen Aktionen auf die demografische Schrumpfung der lettischen Gesellschaft und den katastrophalen Gebäudeleerstand aufmerksam macht. Durch Abwanderung und Geburtendefizit hat das ohnehin kleine Volk seit 1991 seine Zahl um 25 Prozent reduziert, und die Arbeitsmigration hält weiter an. Von den 2,1 Millionen Letten lebt die Hälfte in der Metropolregion Riga, doch auch diese hat ein Viertel ihrer Bewohner verloren – mit den bekannten Folgen: Tote Erdgeschosse und zugenagelte Fenster sind selbst in der Innenstadt kein Einzelfall. In der Moskauer Vorstadt lassen sich Lehrfilme zum Thema der perforierten Stadt drehen. Und anders als in Deutschland mit seiner gut vernetzten Wohnungswirtschaft steht im postsozialistisch durchprivatisierten Lettland jeder betroffene Eigentümer mit seinem Problem allein. Entsprechend groß ist die Ratlosigkeit. Da haben nun junge Aktivisten gelbe Sticker mit der Aufforderung „Occupy me!“ an die verlassenen Gebäude geklebt und so in der Presse erstmals eine Debatte zum Leerstand entfacht. Dutzende von Freiwilligen kartierten Eigentumsverhältnisse, sammelten Nutzungsideen, suchten nach Verbündeten. Es dauerte nicht lange, da nahmen Besitzer vakanter Immobilien ersten Kontakt mit der Bewegung auf.
Diesen Diskurs in der städtischen Öffentlichkeit in Gang gesetzt und so Verwaltung wie Politik überhaupt zur Anerkennung des Problems bewegt zu haben, darf mit Sicherheit als die entscheidende Initiative dieses Kulturhauptstadtsommers RIGA2014 gelten. Wie bei allen Kulturhauptstädten bisher, wird auch in Riga der bleibende Wert dieser Idee sich erst nach dem Ende des laufenden Programms erweisen; wenn mit dem Rückenwind besonderer Aufmerksamkeit und Förderung Institutionen und Strukturen entstanden sind, die auch den Mühen der Ebene standhalten. Initiativen, die wie „Free Riga“ von den Bürgern selbst ausgehen, haben da eigentlich die besten Chancen. Womöglich besteht also der Hauptgewinn dieses Rigaer Kulturhauptstadtjahres in einer breiten, fundierten und strategisch kreativen Schrumpfungsdebatte?
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