Bauwelt

Risikoraum Dhaka

Von guten und schlechten Überschwemmungen im größten Deltagebiet der Erde

Text: Braun, Boris, Köln

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Risikoraum Dhaka

Von guten und schlechten Überschwemmungen im größten Deltagebiet der Erde

Text: Braun, Boris, Köln

Kolkata und Dhaka sind zwei der am stärksten vom Klimawandel bedrohten Städte der Erde. Durch ihre Lage im Ganges-Delta sind sie schon heute regelmäßig von Überflutungen betroffen. Besonders hart trifft es die Menschen in Dhaka: Während die Altstadt auf einer erhöhten Flussterrasse liegt, leben inzwischen fast 50 Prozent der Einwohner in den Niederungen auf ehemaligen Feuchtgebieten. Wie meistern Menschen, deren Alltag ohnehin schon am Existenzminimum stattfindet, ohne staatliche Unterstützung solche Extremsituationen?
Das dicht besiedelte Tiefland von Bengalen mit den Mega-Städten Dhaka und Kolkata gehört zu den Regionen der Erde, die am stärksten von extremen Naturereignissen betroffen sind. Immer wieder wird das von den Strömen Ganges, Brahmaputra und Meghna gebildete Flussdelta großflächig überschwemmt. Aber auch Erdbeben und verheerende tropische Wirbelstürme sind nicht selten. Was macht das bengalische Tiefland zu einem so ausgeprägten Risikoraum? Was bedeutet dies für die dort lebenden Menschen? Und welche Vorkehrungen werden gegen Überschwemmungen getroffen?
Das Einzugsgebiet der drei Ströme ist über 1,5 Millionen Quadratkilometer groß; hier fallen die größten Niederschlagsmengen der Erde, insbesondere in den sich im Nordosten an die bengalische Schwemmlandebene anschließenden Meghalaya Hills. An der international bekannten Wetterstation Cherrapunji etwa werden über 11.000 mm Niederschlag im langjährigen Mittel gemessen (zum Vergleich: in Berlin knapp 600 mm, in Frankfurt rund 650 mm). Da die Wassermassen dem Golf von Bengalen über eine vergleichsweise kleine Fläche zugeführt werden müssen, treten die Flüsse in der Zeit des Sommermonsuns, zwischen Juni und September, regelmäßig über die Ufer. Bangladesch hat dabei mit Wassermassen zu tun, die in einem Einzugsgebiet niedergehen, das etwa zwölf Mal so groß ist wie das Land selbst.
Vor allem im April und Mai sowie im Oktober und November entwickeln sich zudem tropische Wirbelstürme über dem Golf von Bengalen, die anschließend nach Nordosten ziehen. Kolkata, in Küstennähe gelegen, ist von den Stürmen und den Sturmfluten, die mit diesen einhergehen, unmittelbarer bedroht als Dhaka. Jedoch sind die Auswirkungen in Dhaka mittelbar zu spüren: Die Land-Stadt-Wanderung aus den betroffenen Küstenregionen nimmt zu.
Die Topografie in Dhaka ist, wie in ganz Bengalen, flach. Die Altstadt wurde wohlweislich auf einer erhöhten Flussterrasse errichtet, doch seit den siebziger Jahren ist die Stadt gleich in mehrere Richtungen über die Terrassenränder hinausgewachsen. Dhaka liegt heute zwischen einem Meter und zwölf Metern über dem Meeresspiegel, zu mehr als zwei Dritteln unterhalb der Fünf-Meter-Marke. Vor allem Slums, aber auch neue Geschäftsviertel und Apartmenthäuser dehnen sich auf Niederungsgebiete aus oder werden unmittelbar an Wasserläufen gebaut (siehe auch Seite 36). Etwa die Hälfte der Einwohner lebt in ehemaligen Feuchtgebieten, die für Überschwemmungen besonders anfällig sind.
Dhaka befindet sich zwar etwas abseits der großen Ströme, ist aber allseitig von kleineren Flüssen umgeben. Und sind die Pegel von Brahmaputra, Ganges und Meghna hoch, können auch die kleineren Flüsse ihr Wasser nicht mehr abführen: Es ergießt sich auf breiter Front in die Siedlungsgebiete. Darüber hinaus führt auch der als „water logging“ bezeichnete Wasserstau nach örtlichen Regenfällen zu Überschwemmungen; das Abwasser-System ist durch wilde Müllentsorgung verstopft und kann die Starkniederschläge während des Sommermonsuns nicht mehr rasch genug abführen. Lange Zeit waren Einkaufstüten aus Polyethylen ein besonderes Problem; sie wurden 2002 verboten.
Zu viel Wasser – zu wenig Wasser
Katastrophale Überschwemmungen ereignen sich in Bengalen nicht nur häufig, sie haben auch für europäische Verhältnisse fast unvorstellbare Ausmaße. Wenn man die letzten 60 Jahre betrachtet, ist kein eindeutiger Trend zu schwereren Überschwemmungen zu erkennen – auch wenn diese Vermutung im Zusammenhang mit der Klimaveränderung oft geäußert wird. Im langjährigen, recht stabilen Durchschnitt sind es rund 20 Prozent des Staatsgebiets von Bangladesch, die im Sommer maximal überschwemmt werden. Allerdings sind die Unterschiede zwischen trockenen und nassen Jahren extremer geworden; eine problematische Entwicklung – denn nicht nur zu viel, sondern auch zu wenig Wasser hat katastrophale Folgen. Für die Landbevölkerung sind Überschwemmungen lebensnotwendig, weil sie bis in die winterliche Trockenzeit hin­ein die Bodenfeuchte sichern und der auf die Felder getragene Schlamm die Bodenfruchtbarkeit erhöht. Bis zu einer überschwemmten Landesfläche von 20 Prozent spricht man in Bangladesch deshalb von einer guten Überschwemmung („barsha“) im Gegensatz zu einer katastrophalen, „bonna“ genannten Überschwemmung.
Die schwerste Katastrophe der jüngeren Geschichte ereignete sich 1998, als Bangladesch zweieinhalb Monate lang zu mehr als zwei Dritteln unter Wasser stand. In Dhaka war die Überschwemmung von 1988 besonders verheerend. Sie setzte über 85 Prozent der Stadt bis zu über 4,5 Meter unter Wasser und forderte 150 Menschenleben. Das traumatische Ereignis gab den Anstoß für einen großangelegten Ausbau der technischen Schutzmaßnahmen. Bis dahin existierte nur eine kurze Uferbefestigung aus dem 19. Jahrhundert zwischen dem Buriganga und der Altstadt. Nun schüttete man im Westen der Stadt einen rund 30 Kilometer langen Deich auf. Hier ist ein etwa 136 Quadratkilometer großes Gebiet entstanden, das zumindest vor Wasser, das von außen eindringt, relativ gut geschützt ist. Der Osten hingegen bleibt weitgehend schutzlos. Pläne aus den neunziger Jahren, auch dort einen Deich zu bauen, sind bis heute nicht umgesetzt.
Die Aktivitäten konzentrieren sich jedoch nicht nur auf bauliche Maßnahmen: Nach dem Schock von 1988 wurde auch das 1972 eingerichtete Hochwasserfrühwarnsystem modernisiert. Während der Jahrhundert-Überschwemmung von 1998 verhinderte es Schlimmeres. Allerdings offenbarten sich auch die Grenzen des technischen Hochwasserschutzes und des Überschwemmungsmanagements. So wurden 1998 fast der gesamte Osten Dhakas und gut ein Fünftel der westlichen Stadtteile mehrere Meter hoch überschwemmt. Rund 262.000 Wohngebäude wurden teilweise oder komplett zerstört, zwei Drittel davon einfache Hütten. Mehr als zwei Millionen Menschen mussten ihr Heim verlassen. Die rund 300 Notunterkünfte waren völlig überfüllt, ein Teil der ärmeren Bevölkerung wurde mehrere Wochen lang obdachlos.
Bewältigungsstrategien der Slum-Bewohner
Eine Befragung, die der Autor im Jahr 2009 mit dem Geographen Tibor Aßheuer in Slums in Dhaka durchführte, belegt, dass Überschwemmungen für die Menschen in diesen Siedlungen eine regelmäßige Erfahrung sind. Neben dem eher kurzfristigen „water logging“ haben sie im Schnitt alle vier Jahre mit Überschwemmungen zu tun, bei denen das Wasser für mehr als vierzehn Tage mehrere Dezimeter oder sogar Meter hoch in den Wohnräumen steht. Die Menschen versuchen dann zunächst, in den Hütten oder auf den Dächern zu bleiben und Möbel oder Wertgegenstände mit aufgestapelten „Türmen“ aus Ziegeln zu schützen. Falls das nicht ausreicht, suchen sie Unterschlupf in Notunterkünften, bei Verwandten und Bekannten oder in Rohbauten mehrgeschossiger Häuser, auf Deichen und am Rand höher gelegener Straßen. In aller Regel können die Haushaltsvorstände dann über mehrere Wochen keiner Erwerbsarbeit nachgehen. Viele Slum-Bewohner sind im informellen Sektor oder als Tagelöhner beschäftigt, so bedeutet jeder verlorene Arbeitstag finanzielle Einbußen. Hunger, katastrophale hygienische Bedingungen, kontaminiertes Trinkwasser und Krankheiten sind häufige Folgen.
Um ihre Lebensgrundlage zu erhalten bzw. wieder herzustellen, sind die meisten betroffenen Haushalte auf Kredite angewiesen, die Nachbarn, NGOs oder informelle, lokale Geldverleiher geben. Die Rückzahlung der Kredite mit oft hohen Zinsen ist eine erhebliche Belastung. Jedoch zeigen die Menschen eine erstaunliche Fähigkeit, mit den dramatischen Bedingungen umzugehen und sich rasch wieder zu erholen. Hierzu tragen insbesondere die in aller Regel gut funktionierenden sozialen Netzwerke bei. Nicht nur der Familienverbund, sondern auch Nachbarn, wohlhabendere Grund- und Hauseigentümer oder Arbeitgeber leisten finanzielle und materielle Hilfe. Damit wird das soziale Kapital eine wichtige Ressource im Umgang mit Überschwemmungen und anderen externen Schocks.
Die Menschen besitzen eine bewundernswerte Fähigkeit, sich auf veränderte Bedingungen einzustellen und flexible Problemlösungen zu finden. So gaben etwa 70 Prozent der Betroffenen an, dass innerhalb von zwei Monaten nach dem Rückzug des Wassers die wesentlichen Reparaturen an den Wohngebäuden abgeschlossen waren und die übliche Alltagsroutine wieder aufgenommen werden konnte. Auch waren die meisten Haushalte in der Lage, zerstörte und verlorene Besitztümer wieder zu ersetzen: in 29 Prozent der Fälle innerhalb eines Monats, in 87 Prozent der Fälle innerhalb von sechs Monaten. Fast zwei Drittel der befragten Haushalte hatten innerhalb eines Jahres ihre Kredite zurückgezahlt.
Aus Sicht des offiziellen Katastrophenmanagements und entsprechender Präventionsmaßnahmen erscheint es sinnvoll, die erheblichen Potenziale sozialer Netzwerke zu nutzen und gezielt zu fördern. Die enorme Kreativität der Menschen und ihre Fähigkeit zur Improvisation dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Einzelne zwar überlebt, er aber kaum Chancen für einen sozio-ökonomischen Aufstieg und eine dauerhafte Risikominimierung hat.

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