Situation Holz
Riga 2014
Text: Büchel, Jonas, Riga
Situation Holz
Riga 2014
Text: Büchel, Jonas, Riga
Vom Baumaterial zum Kulturwert und Imageträger – die Geschichte eines erfolgreichen Wahrnehmungswandels
Die Holzhausarchitektur zählte zu den großen Verlierern der Moderne. Vor allem in den skandinavischen Ländern wurde das Image des Holzbaus, zumindest im Wohn- und Geschäftsbereich, spätestens seit den sechziger Jahren massiv diskreditiert. Im Baltikum galt die sowjetische Lesart: „In Holz“ lebt der sozial nicht integrierte Teil der Gesellschaft. Die Zukunft der sozialistischen Gesellschaft wurde in den Mikrorayons der Neubaugebiete gesucht, hinter den morschen Bohlenwänden dagegen moderte die „dunkle Vergangenheit“. Unabhängig von der politischen Lesart, hat ein Umdenken in den Regionen Nord- und Nordosteuropas dann mehr oder weniger gleichzeitig begonnen. Nachdem die Innenstädte von Stockholm und Helsinki, noch tragischer in Tampere, von Holz „befreit“ waren, regten sich ab den achtziger Jahren Fachleute, die auf den kulturhistorischen Wert der Holzhäuser oder ganz allgemein auf die „Situation Holz“ aufmerksam machten. Aus politisch-historischen Gründen zog sich dieser Umdenkprozess im Baltikum etwas länger hin, genauer gesagt bis nach der Unabhängigkeit. Danach, also ab 1991, haben einige lettische Architekten ihre ganze Kraft dareingesetzt, den Holzhäusern, von denen gerade in Riga eine sehr große Zahl erhalten geblieben war, ihre gesellschaftliche Anerkennung zurückzugeben.
Diese Leistung einzelner Vorkämpfer – hier sollte man vor allen Peteris Blums nennen – ist umso mehr zu würdigen, wenn man bedenkt, dass nach der Unabhängigkeit die lettische Gesellschaft einen Bauboom globaler Investoren erlebte, für die Denkmalschutz eher ein Hindernis darstellte und die auch vor den berüchtigten „heißen Sanierungen“ nicht zurückschreckten. Es bedurfte äußerer Einflüsse, um neues Denken in Gang zu setzen, wie etwa das EU-Beitrittsverfahren, in dem viel kulturelle Erfahrung und planerisches Knowhow transferiert wurde. Fast noch wichtiger für ein verändertes Bewusstsein war 1997 die Aufnahme der Rigaer Altstadt in die Liste des Weltkulturerbes. Ähnlich folgenreich wirkten Vorbilder in den Nachbarländern, etwa die historisierende Revitalisierung der Altstadt von Vilnius oder jene Tallinner Bürgerinitiative, die ihren aus Holz gebauten Stadtteil Kalamaja mit Selbsthilfeprojekten und einem „Holzhauszentrum“ neu zu beleben versucht.
Den wohl entscheidenden Startschuss gab allerdings 2001 die in Riga ausgerichtete Konferenz von Europa Nostra, einer europäischen Vereinigung für Kultur- und Denkmalschutzfragen. Auf dieser Tagung wurde die Deklaration „Holzarchitektur in Städten“ verabschiedet, und unter dem Eindruck dieses Expertenvotums verständigten sich die Stadt und die Denkmalschutzbehörde auf eine Beispielrestaurierung. Die Wahl fiel auf ein klassizistisches Schulgebäude aus dem 18. Jahrhundert. Die Arbeiten verzögerten sich immer wieder, bis der renovierte Bau im Jahr 2014 (!) als ein wahres Schmuckstück übergeben werden konnte.
In der Folgezeit haben sich in verschiedenen Stadtteilen einzelne Projekte mit dem Thema Holz auf unterschiedliche Weise und mit recht unterschiedlichen Ergebnissen auseinandergesetzt. In der Moskauer Vorstadt, einem immer schon ärmlichen und durch viele Gebäudeverluste stark perforierten Viertel südlich der Altstadt, versuchte die Bezirksverwaltung mit massiver Förderung Stadterneuerung anzuschieben. In der Murnieku-Straße wurden einige ansehnliche Holzwohnhäuser repariert und mit kräftigen Farben in einen einladenden Zustand versetzt. Darüber hinaus unterzog man den gesamten Straßenraum mit nostalgischer Pflasterung und Beleuchtung einer „urbanen Aufwertung“. Das Resultat dieser konventionellen, auf Ensemblewirkung zielenden Initiative ist hübsch anzuschauen. Allerdings fanden sich im unverändert prekären Umfeld nirgendwo Nachahmer. Bis heute glänzen die sorgfältig restaurierten Holzfassaden als einsame Ausnahmeerscheinung im weiteren städtischen Raum.
Dann gibt es seit einigen Jahren „Koka Riga“ (Holz-Riga). Die von der Stadtverwaltung betriebene Gründung versteht sich als Informationszentrum, das nicht nur Touristen anspricht, sondern vor allem Veranstaltungen zum Thema Holzarchitektur bietet. Mitten in einem alten Arbeiterviertel wurden zwei ruinierte Eckhäuser umfunktioniert, es gibt unter anderem einen Saal, der für Ausstellungen und Praxisvorführungen geeignet ist. Trotz aufwändiger Ausstattung hat sich noch keine Projektstruktur gefunden, die, nach dem Vorbild der Tallinner Kollegen, sanierungswillige Eigentümer nicht nur mit Rat, sondern möglichst auch mit Tat unterstützt.
Und schließlich Kipsala: Auf der langen Flussinsel hatte sich in den siebziger Jahren die Technische Universität mit einigen Abteilungen, auch der Architekturfakultät, niedergelassen. Nach dem Wandel zur Marktwirtschaft entdeckte der Unternehmer (und vormalige Premierminister) Maris Gailis die wertvolle Wohnlage mit Altstadtblick, während seine Frau, die Architektin Zaiga Gaile, in den Resten des alten Fischerdorfes beachtliche Relikte einer hölzernen Volksarchitektur fand, von der sie für eine zahlungskräftige Klientel mehrere Objekte vorbildlich restaurierte, andere nach neuzeitlichem Bedarf umbaute, ein besonders ansehnliches sogar translozierte. Als Folge dieses privat-professionellen Engagements entstand entlang der Uferpromenade eine Art Bauausstellung „in Holz“, die die öffentliche Wahrnehmung dieser Architektur deutlich ins Positive gewendet hat.
Zum Schluss wäre noch die Geschichte des Kalnciema-Quartiers zu erzählen. Dieses einzigartige klassizistische Holzhausensemble liegt am linken Ufer der Daugava, an der Ausfallstraße zum Flughafen. Die insgesamt 23 Holzhäuser mit weiteren Nebengelassen bieten eine seltene, weil komplette Kollektion von Wohngebäuden der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der kulturelle Hintergrund der einstigen Bewohner gibt ein Bild der vielfältigen Metropole jener Zeit: Deutsche, Russen, Juden, Polen, Esten und Letten haben das Leben und auch die bauliche Gestalt des Viertels geprägt. Postkarten aus dem frühen 20. Jahrhundert zeigen urbanes Leben: Großzügige Läden in den Erdgeschossen, üppiges Grün entlang der Straße. Mit Passanten, Kutschen und Pferdegespannen entsteht fast das anmutige Bild einer Gartenstadt – ein Eindruck, der sich erstaunlicherweise bis heute bewahrt hat, obwohl man in sowjetischer Zeit die Häuser enteignet und in vielzimmerige „Kommunalkas“ (Gemeinschaftswohnungen) aufgeteilt hat. Vom Büro der Architektin Zaiga Gaile wurde im Jahre 2002 eine erste Bauaufnahme des Gebietes erstellt, um den architekto-nischen Wert des Ensembles zu definieren und damit die Verwaltung zu bewegen, an dieser wichtigen Straße eine sensible, vor allem aber sozial integrierende Erneuerung in Gang zu setzen. Anfangs hatte es in den Ämtern durchaus Bestrebungen gegeben, sich der Denkmalprobleme durch schnelle Privatisierung zu entledigen; einer möglichen Gentrifizierung des Quartiers sahen manche hoffnungsvoll entgegen. Genau dieser soziale Verdrängungsprozess stellte sich dann auch ein, und zwar schneller als erwartet: Gegen Ende der offiziellen Projektlaufzeit 2006 befand sich nur noch knapp ein Drittel der Gebäude im öffentlichen Besitz. Während die Planungsvorbereitungen liefen, meldete sich die Präsidentin der Republik zu Wort. Lettland sollte den NATO-Gipfel 2006 ausrichten, und Frau Vik¸e-Freiberga beklagte öffentlich den Anblick, der sich den Staatsgästen auf dem Weg vom Flughafen ins Zentrum entlang der Kalnciema-Straße bieten würde: „Wie ein sibirisches Dorf!“ Ein Vorwurf, dessen Wucht nur angesichts der stalinistischen Deportationen vieler Letten nach Sibirien zu verstehen ist. Allerdings erinnerte auch die folgende Aktion an sowjetische Zeiten mit ihren potemkinhaften Protokollstrecken: Das Präsidialamt drängte die Stadtverwaltung zur „Sofort-Verschönerung“. Ohne Vorwarnung wurden öffentliche Gebäude angestrichen, marode Balkone kurzerhand mit der Motorsäge bearbeitet. Zum Glück konnte zumindest am Kalnciema-Quartier das Kettensägen- und Lackiermassaker von Fachleuten gestoppt werden. Unnötig zu sagen, dass am Ende kaum eine Staatskarosse hier durch kam – es gab schnellere und sicherere Wege.
Im Nachhinein stellte sich heraus, dass alle Fördergelder für die Kalnciema-Planungen aus dem Fonds des NATO-Gipfels stammten, die Stadt also gar nicht in das Projekt involviert war. Daraufhin ergriffen zwei Eigentümer die Initiative. Deren Vorstellungen einer „urbanen Attraktivität“ haben die soziale Umschichtung des Gebiets wesentlich befördert. Ihnen ist aber auch sein heutiger Ruhm zu danken: Die Straße wurde zu einem Hotspot der Kulturszene und allmählich auch zu einem Zentrum der Kreativindustrie. Jeden Samstag zieht ein privat organisierter Markt Menschen von weither an. Bleibt anzumerken, dass diejenigen, die heute hier wirken, starken Einfluss auf die Zukunft der Stadt Riga insgesamt haben. Nur eben nicht immer so im Sinne des Gemeinwohls, wie gerne herausgestellt wird ...
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