Soldat und Zeichner
Bilder des Architekten Henri Derée in Brüssel
Text: Redecke, Sebastian, Berlin
Soldat und Zeichner
Bilder des Architekten Henri Derée in Brüssel
Text: Redecke, Sebastian, Berlin
Die Archives d’Architecture Moderne im Architekturzentrum CIVA in Brüssel zeigen zum ersten Mal die Zeichnungen des belgischen Architekten Henri Derée, die während des Ersten Weltkriegs in deutschen Gefangenenlagern entstanden sind.
Zum hundertsten Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs werden uns in zahlreichen Ausstellungen die Bilder des unvorstellbaren Grauens auf den Schlachtfeldern mitten in Europa vor Augen geführt. Die Zahl der Toten, 18,6 Millionen in den vier Kriegsjahren, bleibt unfassbar.
In dieser Zeit gab es aber auch kleine, bescheidene Lichtblicke, wie es die eindrucksvollen Zeichnungen aus der Gefangenschaft des belgischen Soldaten Henri Derée bezeugen. Derée, 1888 geboren, hatte 1909 sein Studium der Architektur an der Akademie der Schönen Künste von Brüssel absolviert und arbeitete, noch vom Art déco geprägt, erfolgreich als Architekt. Zu Beginn des Krieges wurde er einberufen, geriet aber schon drei Wochen später in Gefangenschaft. Während der gesamten Kriegszeit war er in verschiedenen deutschen Lagern untergebracht, wo er Zwangsarbeit verrichten musste. Nach seinem Tod 1974 gelangten die rund 300 kleinformatigen, zum Teil aquarellierten Zeichnungen und Skizzen in das Archiv des belgischen Architekturzentrums (CIVA). Zum großen Jahrestag hat Maurice Culot, der Leiter des CIVA, das Werk nun aus den Schubladen geholt, neu gesichtet, den verschiedenen Orten zugeordnet und für die Ausstellung zusammengestellt, die am 13. Juni vom deutschen Botschafter eröffnet wurde.
Die Zeichnungen und Bilder vermitteln einen anschaulichen Eindruck der Bauten, vor allem der Wohnbaracken und Lazarette aber auch der Industrieanlagen, in denen Henri Derée arbeiten musste. Sie sind damit kostbare zeithistorische Dokumente. Derée war in Lagern in Munster in der Lüneburger Heide, in Göttingen, Hameln-Volpriehausen und in Kassel untergebracht. Zuletzt gelangte er wegen einer Erkrankung mit viel Glück nach Aeschi bei Spiez in die Schweiz.
Je nach Derées Gemütszustand sind die Zeichnungen atmosphärisch von großer Direktheit, erfuhr er eine leichtere Zeit, sind sie sogar erfüllt von gro-ßer Lebendigkeit, fast schon Freude an den Beobachtungen. Dies zeigt sich besonders deutlich in der Schweiz, wo er akribische Studien von Fassadendetails alter Chalets vornahm und farbige Landschaftsbilder anfertigte.
Neben den Zeichnungen von Häusern und Höfen in seiner Umgebung sind die Skizzen des Lageralltags mit detaillierten Beobachtungen zu den verschiedenen Charakteren im Kreis der Gefangenen hervorzuheben. In all dem Elend bewahrt er sich den Blick für die Menschen neben ihm und porträtiert sie mit wenigen Strichen. Dabei arbeitete er nicht ohne Humor die Unterschiede zwischen Belgiern, Engländern, Serben, Russen und Italienern heraus. Besonders die Russen müssen ihn beschäftigt haben, sie skizzierte er am häufigsten. Auch den Deutschen hat er sich gewidmet, und er meinte, dass man sie, wie auch die Russen, an ihrer Haltung und Mimik in seinen Skizzen gleich erkennen kann. Damit gelingt ihm auf ganz eigene Art in einem kleinen Rahmen ein Bild Europas, das nicht von Hass erfüllt ist. Ob Derée dies mit seinen Arbeiten intendierte? Die Zeichnungen werden in der Ausstellung durch Erläuterungen und Dokumentationen zu den Lagern ergänzt.
Nach dem Ersten Weltkrieg hat sich Henri Derée in Brüssel als Architekt mit der Planung von Wohnbauten, Gartenstädten – und zahlreichen Denkmälern für den Ersten Weltkrieg hervorgetan. Der Krieg und die vielen Erinnerungen an seine lange Gefangenschaft haben ihn nie losgelassen.
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