Sozialer Wohnungsbau der Moderne – Umbau oder Abriss?
Text: Gräwe, Christina, Berlin
Sozialer Wohnungsbau der Moderne – Umbau oder Abriss?
Text: Gräwe, Christina, Berlin
Der soziale Massenwohnungsbau der Moderne ist die Mietskaserne des 20. Jahrhunderts. Galten die von großzügigen Grünanlagen umgebenen Hochhäuser einst als fortschrittlich und zukunftsfähig, sind die Großsiedlungen inzwischen zu Wahrzeichen
des Scheiterns avanciert. Sowohl in den Banlieues von Paris als auch den Projects
von Chicago wird abgewogen: Können die vorhandenen Strukturen angepasst werden, oder soll man sie abreißen und neu anfangen? Meist überwiegt der Reiz der Tabula rasa. Das Konzept der Moderne wird durch beliebte traditionelle Modelle wie Reihenhäuser oder Blöcke ersetzt.
des Scheiterns avanciert. Sowohl in den Banlieues von Paris als auch den Projects
von Chicago wird abgewogen: Können die vorhandenen Strukturen angepasst werden, oder soll man sie abreißen und neu anfangen? Meist überwiegt der Reiz der Tabula rasa. Das Konzept der Moderne wird durch beliebte traditionelle Modelle wie Reihenhäuser oder Blöcke ersetzt.
Nach fast einem Jahrhundert des sozialen Wohnungsbaus hat die „Wohnungsfrage“, lange Schlüsselfrage des Städtebaus, an Aufmerksamkeit verloren. In den letzten Jahren hat sie sich aber ungefragt zurückgemeldet – ausgerechnet dort, wo die letzten „Antworten auf die Wohnungsfrage“ gebaut wurden, in den Großsiedlungen des sozialen Wohnungsbaus in West- und Mitteleuropa und in den USA. Entstanden in der Nachkriegszeit, sind diese inzwischen zu einer der größten Herausforderungen nicht nur des Städtebaus geworden. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken dabei zwei Städte, die in der Regel eher mit schönen Dingen und Bauwerken assoziiert werden: Paris und Chicago.
Das Stigma der Großsiedlungen
In dem Film „Wesh-wesh“ (in der Umgangssprache der maghrebinischen Einwanderer: „Was geht ab?“) porträtiert der Regisseur und Stadt-Anthropologe Rabah Ameur-Zaïmeche eine Großsiedlung und ihre Bewohner 15 Kilometer östlich von Paris. Hier ist er selbst aufgewachsen. Der Protagonist, vom Regisseur dargestellt, durchläuft eine Karriere, die mit Bewohnern der Banlieue gerne in Verbindung gebracht wird: Er kehrt nach Gefängnisstrafe und Abschiebung illegal zurück. Die Kulisse: trostlose, gleichförmige Hochhäuser, zwischen denen arbeitslose, gewalttätige Jugendgangs auf überforderte, aggressive Polizeistreifen treffen. Spätestens seit den Krawallen in den Vororten französischer Großstädte im Jahr 2005 ist dieses Szenario auch international zu dem „Schreckbild Massenquartier“ schlechthin geworden. Aber Ameur-Zaïmeche zeigt auch den Zusammenhalt seiner Familie und die Einbindung in eine Solidargemeinschaft, die über den eigenen Wohnblock hinausgeht.
Dieses filmische Porträt steht stellvertretend für zahlreiche Großsiedlungen weltweit. Seit den 1950er Jahren als Massenarbeiterquartiere häufig in Industrienähe am Stadtrand, aber auch zentrumsnah in rationeller Bauweise mit vorgefertigten Betonbauteilen hochgezogen, galten solche Siedlungen zunächst als fortschrittlichste Form des sozialen Wohnungsbaus. Zumindest aus Sicht der Stadtplaner und Kommunalpolitiker waren Hochhäuser, umgeben von großzügigen Grünstreifen, die zukunftsfähige Antwort auf den starken Zustrom von Arbeitern in die Städte und den daraus resultierenden massiven Wohnungsbedarf. Gebaut wurde das Gegenmodell zur überbelegten Mietkasernenstadt der Jahrhundertwende. Vorgegebene Programme bestimmten Ausstattungsstandards für Wohnungen und infrastrukturelle Einrichtungen; häufig stellten diese für die arbeitssuchenden Ein- und Zuwanderer eine Verbesserung ihres bisherigen Lebensstandards dar.
Inzwischen gelten Großsiedlungen als Brennpunkte der Kriminalität. Aus den „Schlafstädten“ der Arbeiter sind nach dem Niedergang vieler Industriezweige „Armenghettos“ geworden. Strikte Sparauflagen und der Rückzug aus staatlicher Verantwortung sorgten dafür, dass die Qualität der Gebäude und die Ausstattung der Wohnungen abnahm und Gestaltung zum vermeintlich entbehrlichen Luxus wurde. Soziale und kulturelle Einrichtungen wurden immer weniger gebaut, wo noch vorhanden, sank das Engagement oder verschwand sogar, wie in US-amerikanischen Großsiedlungen, ganz. Gebäude und Infrastruktur wurden vernachlässigt. Familien, die es sich leisten konnten, zogen in andere Stadtviertel oder bürgerliche Vororte. Die Lebensbedingungen der zurückbleibenden Bewohner, meist mit sinkendem Haushaltseinkommen, sind durch eine hohe Belegungsdichte der Wohnungen, einen überdurchschnittlichen Anteil (arbeitsloser) junger Menschen und ein niedriges Bildungsniveau gekennzeichnet. Die Banlieues von Paris sowie die Projects in Chicago sind nur zwei Beispiele dieser Entwicklung.
Der Vergleich zwischen französischen und US-amerikanischen Großsiedlungen zeigt auf den ersten Blick Parallelen in einem Teufelskreis aus Diskriminierung, Arbeits- und Perspektivlosigkeit, verbunden mit Reaktionen wie Gewalt, Kriminalität und Drogenkonsum. Ein zweiter Blick legt aber deutliche Unterschiede frei. Dabei besteht eine auffällige Diskrepanz zwischen dem Bild, welches die Medien vermitteln, und dem, das die Bewohner selbst schildern. Anders als oft dargestellt, haben sich die nordafrikanischen Einwanderer in den französischen Städten gut assimiliert. Nicht sie werden intern als Bedrohung wahrgenommen, sondern die heterogen zusammengesetzte Gruppe der Jugendlichen, deren Wut sich in kriminellen Handlungen und körperlicher Gewalt äußert. Die Bewohner werden nicht in erster Linie wegen ihrer Herkunft ausgegrenzt, sondern aufgrund ihres Wohnorts stigmatisiert. Anders in Chicago: Der überwiegende Teil der Bewohner sind hier Afroamerikaner, die wegen ihrer Hautfarbe diskriminiert werden. Kriminalität spielt eine größere Rolle als in Frankreich. Der Drogenhandel ist zu einem eigenen ökonomischen Zweig geworden, physische Gewalt fordert in manchen Gegenden Todesopfer. Während in Frankreich die ungleichen Chancen als Angriff auf persönliche Rechte angesehen werden, hat die Diskriminierung Schwarzer in der US-amerikanischen Gesellschaft Tradition. Sie gehört – ungeachtet eines schwarzen Präsidenten – immer noch zum Alltag und wird, wenn auch nicht klaglos, als Teil des eigenen Schicksals angesehen.
Public Housing in Chicago
Chicago ist ein Zentrum des public housing, des US-amerikanischen sozialen Wohnungsbaus. Nach 1945 hatte die Stadt mit massiver Wohnungsnot zu kämpfen: Die Veteranen des Zweiten Weltkriegs kehrten zurück, die black migration (die Zuwanderung afroamerikanischer Arbeitssuchender in den Industriestandort Chicago) setzte ein. In den 1950er und 1960er Jahren wurden durch den innerstädtischen Bau von Highways Bewohner aus dem Zentrum vertrieben. Die Chicago Housing Authority (CHA) reagierte mit dem Bau von Siedlungen, sogenannten Projects, in Industrie- und Zentrumsnähe. Die lokale politische Elite setzte schon zu Beginn durch, dass die Projekte nicht über die Stadt verteilt, sondern südlich von Downtown konzentriert wurden, wo große, überwiegend von armen Afroamerikanern bewohnte Areale zu Slums erklärt und zum Abriss freigegeben wurden.
Ihren Anspruch an die Gestaltung der Gebäude und deren Umgebung konnte die CHA nicht halten. Die Hochhäuser wuchsen aus Rentabilitätsgründen höher als ursprünglich geplant, wohingegen die Qualität der Materialien und der Ausstattung abnahm. Instandhaltung wurde vernachlässigt oder gar ganz eingestellt. Der Ruf dieser Großsiedlungen litt von Anfang an – sie galten als Orte des baulichen und sozialen Verfalls. Wer es sich leisten konnte, zog in bürgerliche Quartiere, eine Tendenz, die 1969 mit der Einführung einer Fehlbelegungsabgabe noch forciert wurde. Die Situation verschärfte sich durch den massiven Verlust von Arbeitsplätzen im Zuge der Deindustrialisierung und den drastischen Abbau der Sozialausgaben unter der Regierung Ronald Reagans. Von der Konsolidierung einer neuen urban underclass, dem dauerhaften Verharren in Armut, ist die schwarze Bevölkerung nach wie vor besonders betroffen.
Unter dem Druck, ihre Sozialwohnungen sichtbar und grundlegend zu sanieren, legte die CHA 1999 den „Plan for Transformation“ vor, programmatisch mit CHAnge überschrieben. Kern des Plans ist es, der sozialen, rassistischen und räumlichen Segregation mit attraktiven und bezahlbaren Wohnungen in sozial und ethnisch gemischter Nachbarschaft (Mixed-income Developments) entgegenzuwirken. Dafür griffen die CHA und das Bundesprogramm HOPE VI (Home Ownership and Opportunity for People Everywhere) auf drei Instrumente zurück: die Sanierung und Aufwertung von erhaltenswerten Wohnungen, den großflächigen Abriss von Gebäuden und die Neubebauung durch private Investoren sowie die Umverteilung von public-housing-Bewohnern auf den freien Wohnungsmarkt mit Hilfe einer Art Wohnberechtigungsschein. Das „Housing Choice Voucher“- Programm soll Haushalten, deren Einkommen unter 50 Prozent des Durchschnittseinkommens liegt, einen Zuschuss zur Miete und damit mehr Freiheit in der Wohnungswahl bieten. Allerdings ist die Zahl dieser Vouchers sehr begrenzt. Die Programme werden hauptsächlich über Steuersubventionen finanziert. Neben der CHA sind private Investoren und Not-for-Profit-Organisationen für die Umsetzung der Pläne zuständig. Bewohnerorganisationen haben keinen sehr großen Einfluss auf die Sanierungsmaßnahmen.
Die Mixed-income Developments orientieren sich am Leitbild des traditionellen Städtebaus mit niedrigen Apartment- und Reihenhäusern – ein gebautes Symbol der Neuorientierung anstelle der „vertical ghettos“. Obwohl die CHA hier ein Drittel des Wohnraums für Sozialwohnungen bereitstellen muss, richtet sich das Angebot stärker an die Mittelschichten als an sozial und wirtschaftlich schwache Haushalte.
Cabrini Green & Robert Taylor Homes
Eines der Umstrukturierungsgebiete in Chicago ist Cabrini Green, zwischen dem teuren Wohnviertel „Gold Coast“ und einem neuen Luxus-Wohnquartier nördlich von Downtown. Die Siedlung bestand aus Reihen- und Hochhäusern mit ursprünglich gut 3000 Sozialwohnungen und ist heute durch Brachflächen, neue Wohnhochhäuser und ehemalige Fabriken (zukünftige Lofts) geprägt. Die Reihenhäuser werden teilweise saniert, alle Hochhäuser abgerissen. 700 der rund 2600 neuen Wohnungen sollen Sozialwohnungen werden. Entstanden sind bisher eine Siedlung mit Reihenhäusern und die Quartiere North Town Park und Old Town.
Inmitten der South Side Chicagos liegen die Robert Taylor Homes, direkt daneben die Siedlung Stateway Gardens, eine Autobahn trennt beide von einem bürgerlichen Viertel der weißen Mittelschicht. Die von Armut und Verfall gezeichneten Quartiere im Süden und Osten des Gebiets haben der South Side Chicagos den Ruf einer No-Go-Area beschert und sie über die Stadtgrenzen hinaus als Problembezirk bekannt gemacht. Nördlich davon trifft man auf eine ganz andere Welt, den Campus des renommierten Illinois Institute of Technology (IIT). Die beiden Siedlungen umfassen insgesamt knapp 5900 Wohnungen. Durch Abriss- und Neubau soll auf dem Gelände der Robert Taylor Homes das Viertel Legends South mit 851 Sozialwohnungen, je 800 geförderten Wohnungen und solchen für den freien Markt entstehen. Unmittelbar angrenzend an das IIT wird mit Park Boulevard ein weiteres Quartier mit 439 Sozialwohnungen, 437 Wohnungen des „affordable housing“ (d.h. die Mieten sollten unter 30 Prozent eines durchschnittlichen Haushaltseinkommens liegen), 438 zu marktüblichen Preisen sowie Büro- und Einzelhandelsflächen gebaut werden. Um die unterschiedlich geprägten Viertel stärker miteinander zu verbinden, wird das vorhandene Straßenraster bis an die Autobahnschneise herangeführt.
Der Umbau der South Side ist Teil des ehrgeizig betriebenen Imagewandels der Stadt, die auf ihrem Weg zur attraktiven Metropole die Urban Renaissance über das Zentrum hinaus ausweitet. Mit der derzeitigen Strategie werden die bestehenden Probleme allerdings nicht gelöst, sondern lediglich geschickt an den Rand des Blickfelds verlagert. Aus Investorensicht ist ein Verhältnis von 80 Prozent freier Markt zu 20 Prozent geförderter Markt für den Erfolg der Mixed-income Developments notwendig. Dahinter steckt die Forderung der urbanen Mittelschichten, nicht durch drogensüchtige oder kriminelle Nachbarn beeinträchtigt zu werden. Mit dieser Politik lässt sich aber die soziale, rassistische und stadträumliche Ausgrenzung nicht wirkungsvoll bekämpfen. Eine Umverteilung armer Haushalte hat zwar stattgefunden, allerdings nicht in stabilere Viertel, sondern in „unkontrollierbare Ghettos“ am Stadtrand.
Logement social in Frankreich
In Frankreich wurden schon Anfang der 1980er Jahre besondere Zonen für die schrittweise Verbesserung der schulischen Versorgung festgelegt. Auch damals waren gewalttätige Krawalle der Auslöser. 1985 widmete sich ein Planvertrag zwischen Staat und Region der „sozialen Stadtteilentwicklung“ in 148 betroffenen Vierteln. Die soziale Durchmischung von Wohngebieten galt schon damals als Heilmittel zur Auflösung reiner Armenviertel. Allerdings wurde sie von denen, die den Sprung in die nächsthöhere soziale Liga geschafft hatten, misstrauisch betrachtet oder sogar bekämpft. Seit 1991 verpflichtet ein Gesetz jede Kommune mit mehr als 200.000 Einwohnern, mindestens 20 Prozent ihres Bestandes als Sozialwohnungen auszuweisen. Seit 1996 wurden im Rahmen einer städtischen Integrationspolitik weitere Zonierungen vorgenommen. Darunter sind rund 750 „Zones Urbaines Sensibles“, stark sanierungsbedürftige Großsiedlungen, die durchschnittlich 6000 Bewohner umfassen. Insgesamt liegt der Anteil an Sozialwohnungen in diesen Siedlungen mit durchschnittlich 62 Prozent dreimal höher als im gesamten Land. Als wirksam hat sich die Einrichtung von steuerlichen Sonderzonen erwiesen: In hundert ausgesuchten Gebieten wurden Unternehmensgründer von der Gewerbesteuer und weiteren Abgaben befreit. 2003, nach fünf Jahren Laufzeit, waren bereits 12.000 Unternehmen mit 46.000 Arbeitsplätzen (davon zwei Drittel neu geschaffenen) gegründet. Die Versuche zur Verbesserung der schulischen Versorgung brachten hingegen weder einen messbaren Anstieg der schulischen Leistungen noch positivere Bedingungen für Lehrer und Schüler. Kritiker führen dies auf die Förderung nach dem Gießkannenprinzip und den Mangel an modellhaften Pilotprojekten zurück.
La Courneuve
La Courneuve im Nordosten von Paris wurde zwischen 1956 und 1964 von der städtischen Wohnungsbaugesellschaft gebaut. Der Vorort gehört zu den größten Siedlungen Frankreichs und ist städtebaulich und architektonisch ein typisches Beispiel der Nachkriegsmoderne. Die rund 4000 Sozialwohnungen gaben ihm den Beinamen „Quatre mille“. In den bis zu 15–geschossigen Häusern leben über 15.000 Menschen. La Courneuve gehört zu 22 Quartieren, die in der Region Paris als sozial gefährdet eingestuft sind. Die einseitige Belegungspolitik der 1970er Jahre hat dafür gesorgt, dass hier überwiegend Menschen mit Migrationshintergrund leben, die Arbeitslosigkeit hoch und das Einkommen entsprechend gering ist. Fast die Hälfte der Bewohner ist unter zwanzig Jahre alt, für sie stehen kaum Sport- und Freizeiteinrichtungen oder kulturelle Angebote zur Verfügung. Das einzige Kino schloss 1973, viele Läden gaben Anfang der 1980er Jahre auf.
Schon 1982 war ein Wettbewerb zum Umbau des Viertels ausgeschrieben worden. Seit 1986 wurden in unregelmäßigen Abständen Wohnblöcke abgerissen. Der Bau neuer Wohnungen wurde allerdings immer wieder verschoben – es fehlte das Geld. 2005 fanden auch in La Courneuve Krawalle statt. Bei der Suche nach den Ursachen wurde der negative baulich-räumliche Einfluss auf das Verhalten der Jugendlichen hervorgehoben. Als Reaktion sieht die Nationale Agentur für Stadterneuerung im Rahmen eines „Wiederaufschwung-Plans“ nun zwölf Projekte vor: 263 Wohnungen, Sport- und Spielplätze sowie eine neue Schule sollen entstehen, die öffentlichen Räume und das Zentrum sollen aufgewertet werden. Die Bewohner sind in Planungswerkstätten an diesem Prozess beteiligt; auch in der Jury ist ihre Stimme mitentscheidend. Erste Planungen wurden bereits realisiert.
Le Plessis-Robinson
Ein anderes Modell des sozialen Wohnungsbaus mit eigenem Gesicht und eigener Geschichte findet sich in Le Plessis-Robinson. Der Vorort im Ballungsraum von Paris liegt zehn Kilometer südlich des Stadtzentrums und hat rund 26.000 Einwohner. Zwischen 1924 und 1939 wurde hier ein am Neuen Bauen orientierter Typ der Gartenstadt errichtet. Diese umfasste die „cité basse“ (niedrige Stadt) mit Ein- und Mehrfamilienhäusern und die „cité haute“ (hohe Stadt) mit zentraler Straßenachse und deutlich höherer Dichte in überwiegend fünfgeschossigen Wohnblöcken. Hier befindet sich bis heute das Zentrum der Gemeinde. Zwischen den beiden Teilen lag der nach dem Erbauer benannte Park Henri Sellier.
Während die Einfamilienhäuser meist gut gepflegt wurden, zeigten sich in den dichteren Baublocks die typischen Schäden durch mangelnde Instandhaltung. Die 2000 Wohnungen dort waren nach heutigen Kriterien zudem zu klein, die Ausstattung entsprach nicht mehr dem Standard. Dies führte zu langen Auseinandersetzungen: rehabilitation oder renovation urbaine – Sanierung oder Abriss? Unter den Auflagen des Denkmalschutzes und der Wohnungspolitik, wieder eine Gartenstadt mit Sozialwohnungen zu bauen, entschied man sich für die zweite Variante. Den Wettbewerb für den Masterplan gewann das Atelier Xavier Bohl. Auf dem 21 Hektar großen Areal der „cité haute“ entstanden zwischen 2006 und 2009 1300 Wohnungen – 250 davon Sozialwohnungen –, Schulen, ein Krankenhaus und Läden. Die traditionelle, „malerische“ Architektur beider Neubauquartiere knüpft an die Haussmann-Ära an; das Stadtbild ist von Grünanlagen und einem künstlichen Wasserlauf bestimmt. Die rationelle Bauweise der „Gartenstadt der Moderne“ ist auch hier durch ein traditionelles Modell abgelöst geworden. 2008 wurde den Gesamtplanungen in Le Plessis-Robinson von der Fondation pour l’Architecture der europäische Preis für „die beste urbane Siedlung, die in den letzten 25 Jahren gebaut wurde“, in der Katagorie „Urban Renaissance in a sub-urban City“ verliehen.
Paris und Chicago – Rezepte für die Wohnungsfrage des 21. Jahrhunderts?
Ob in Paris oder Chicago, in beiden Städten schaffen baulich-räumliche, soziale und wirtschaftliche Programme den Rahmen für Abriss-, Umbau- und Aufwertungsmaßnahmen im sozialen Wohnungsbau. Beide Städte können Erfolge vorweisen – allerdings nur punktuell und eher in baulicher als in sozialer Hinsicht. Ein übertragbares Modell gibt es bisher nicht, und angesichts der sehr unterschiedlichen Probleme kann es dies vermutlich auch nicht geben. Trotz der außerordentlichen quantitativen wie qualitativen Bedeutung der Großsiedlungen für die Zukunft der westlichen Großstädte werden die derzeitigen Programme und Maßnahmen nur von wenigen Spezialisten wahrgenommen und diskutiert. Die Wohnungsfrage des 21. Jahrhunderts scheint in der allgemeinen Städtebaudiskussion noch nicht angekommen zu sein.
Das Stigma der Großsiedlungen
In dem Film „Wesh-wesh“ (in der Umgangssprache der maghrebinischen Einwanderer: „Was geht ab?“) porträtiert der Regisseur und Stadt-Anthropologe Rabah Ameur-Zaïmeche eine Großsiedlung und ihre Bewohner 15 Kilometer östlich von Paris. Hier ist er selbst aufgewachsen. Der Protagonist, vom Regisseur dargestellt, durchläuft eine Karriere, die mit Bewohnern der Banlieue gerne in Verbindung gebracht wird: Er kehrt nach Gefängnisstrafe und Abschiebung illegal zurück. Die Kulisse: trostlose, gleichförmige Hochhäuser, zwischen denen arbeitslose, gewalttätige Jugendgangs auf überforderte, aggressive Polizeistreifen treffen. Spätestens seit den Krawallen in den Vororten französischer Großstädte im Jahr 2005 ist dieses Szenario auch international zu dem „Schreckbild Massenquartier“ schlechthin geworden. Aber Ameur-Zaïmeche zeigt auch den Zusammenhalt seiner Familie und die Einbindung in eine Solidargemeinschaft, die über den eigenen Wohnblock hinausgeht.
Dieses filmische Porträt steht stellvertretend für zahlreiche Großsiedlungen weltweit. Seit den 1950er Jahren als Massenarbeiterquartiere häufig in Industrienähe am Stadtrand, aber auch zentrumsnah in rationeller Bauweise mit vorgefertigten Betonbauteilen hochgezogen, galten solche Siedlungen zunächst als fortschrittlichste Form des sozialen Wohnungsbaus. Zumindest aus Sicht der Stadtplaner und Kommunalpolitiker waren Hochhäuser, umgeben von großzügigen Grünstreifen, die zukunftsfähige Antwort auf den starken Zustrom von Arbeitern in die Städte und den daraus resultierenden massiven Wohnungsbedarf. Gebaut wurde das Gegenmodell zur überbelegten Mietkasernenstadt der Jahrhundertwende. Vorgegebene Programme bestimmten Ausstattungsstandards für Wohnungen und infrastrukturelle Einrichtungen; häufig stellten diese für die arbeitssuchenden Ein- und Zuwanderer eine Verbesserung ihres bisherigen Lebensstandards dar.
Inzwischen gelten Großsiedlungen als Brennpunkte der Kriminalität. Aus den „Schlafstädten“ der Arbeiter sind nach dem Niedergang vieler Industriezweige „Armenghettos“ geworden. Strikte Sparauflagen und der Rückzug aus staatlicher Verantwortung sorgten dafür, dass die Qualität der Gebäude und die Ausstattung der Wohnungen abnahm und Gestaltung zum vermeintlich entbehrlichen Luxus wurde. Soziale und kulturelle Einrichtungen wurden immer weniger gebaut, wo noch vorhanden, sank das Engagement oder verschwand sogar, wie in US-amerikanischen Großsiedlungen, ganz. Gebäude und Infrastruktur wurden vernachlässigt. Familien, die es sich leisten konnten, zogen in andere Stadtviertel oder bürgerliche Vororte. Die Lebensbedingungen der zurückbleibenden Bewohner, meist mit sinkendem Haushaltseinkommen, sind durch eine hohe Belegungsdichte der Wohnungen, einen überdurchschnittlichen Anteil (arbeitsloser) junger Menschen und ein niedriges Bildungsniveau gekennzeichnet. Die Banlieues von Paris sowie die Projects in Chicago sind nur zwei Beispiele dieser Entwicklung.
Der Vergleich zwischen französischen und US-amerikanischen Großsiedlungen zeigt auf den ersten Blick Parallelen in einem Teufelskreis aus Diskriminierung, Arbeits- und Perspektivlosigkeit, verbunden mit Reaktionen wie Gewalt, Kriminalität und Drogenkonsum. Ein zweiter Blick legt aber deutliche Unterschiede frei. Dabei besteht eine auffällige Diskrepanz zwischen dem Bild, welches die Medien vermitteln, und dem, das die Bewohner selbst schildern. Anders als oft dargestellt, haben sich die nordafrikanischen Einwanderer in den französischen Städten gut assimiliert. Nicht sie werden intern als Bedrohung wahrgenommen, sondern die heterogen zusammengesetzte Gruppe der Jugendlichen, deren Wut sich in kriminellen Handlungen und körperlicher Gewalt äußert. Die Bewohner werden nicht in erster Linie wegen ihrer Herkunft ausgegrenzt, sondern aufgrund ihres Wohnorts stigmatisiert. Anders in Chicago: Der überwiegende Teil der Bewohner sind hier Afroamerikaner, die wegen ihrer Hautfarbe diskriminiert werden. Kriminalität spielt eine größere Rolle als in Frankreich. Der Drogenhandel ist zu einem eigenen ökonomischen Zweig geworden, physische Gewalt fordert in manchen Gegenden Todesopfer. Während in Frankreich die ungleichen Chancen als Angriff auf persönliche Rechte angesehen werden, hat die Diskriminierung Schwarzer in der US-amerikanischen Gesellschaft Tradition. Sie gehört – ungeachtet eines schwarzen Präsidenten – immer noch zum Alltag und wird, wenn auch nicht klaglos, als Teil des eigenen Schicksals angesehen.
Public Housing in Chicago
Chicago ist ein Zentrum des public housing, des US-amerikanischen sozialen Wohnungsbaus. Nach 1945 hatte die Stadt mit massiver Wohnungsnot zu kämpfen: Die Veteranen des Zweiten Weltkriegs kehrten zurück, die black migration (die Zuwanderung afroamerikanischer Arbeitssuchender in den Industriestandort Chicago) setzte ein. In den 1950er und 1960er Jahren wurden durch den innerstädtischen Bau von Highways Bewohner aus dem Zentrum vertrieben. Die Chicago Housing Authority (CHA) reagierte mit dem Bau von Siedlungen, sogenannten Projects, in Industrie- und Zentrumsnähe. Die lokale politische Elite setzte schon zu Beginn durch, dass die Projekte nicht über die Stadt verteilt, sondern südlich von Downtown konzentriert wurden, wo große, überwiegend von armen Afroamerikanern bewohnte Areale zu Slums erklärt und zum Abriss freigegeben wurden.
Ihren Anspruch an die Gestaltung der Gebäude und deren Umgebung konnte die CHA nicht halten. Die Hochhäuser wuchsen aus Rentabilitätsgründen höher als ursprünglich geplant, wohingegen die Qualität der Materialien und der Ausstattung abnahm. Instandhaltung wurde vernachlässigt oder gar ganz eingestellt. Der Ruf dieser Großsiedlungen litt von Anfang an – sie galten als Orte des baulichen und sozialen Verfalls. Wer es sich leisten konnte, zog in bürgerliche Quartiere, eine Tendenz, die 1969 mit der Einführung einer Fehlbelegungsabgabe noch forciert wurde. Die Situation verschärfte sich durch den massiven Verlust von Arbeitsplätzen im Zuge der Deindustrialisierung und den drastischen Abbau der Sozialausgaben unter der Regierung Ronald Reagans. Von der Konsolidierung einer neuen urban underclass, dem dauerhaften Verharren in Armut, ist die schwarze Bevölkerung nach wie vor besonders betroffen.
Unter dem Druck, ihre Sozialwohnungen sichtbar und grundlegend zu sanieren, legte die CHA 1999 den „Plan for Transformation“ vor, programmatisch mit CHAnge überschrieben. Kern des Plans ist es, der sozialen, rassistischen und räumlichen Segregation mit attraktiven und bezahlbaren Wohnungen in sozial und ethnisch gemischter Nachbarschaft (Mixed-income Developments) entgegenzuwirken. Dafür griffen die CHA und das Bundesprogramm HOPE VI (Home Ownership and Opportunity for People Everywhere) auf drei Instrumente zurück: die Sanierung und Aufwertung von erhaltenswerten Wohnungen, den großflächigen Abriss von Gebäuden und die Neubebauung durch private Investoren sowie die Umverteilung von public-housing-Bewohnern auf den freien Wohnungsmarkt mit Hilfe einer Art Wohnberechtigungsschein. Das „Housing Choice Voucher“- Programm soll Haushalten, deren Einkommen unter 50 Prozent des Durchschnittseinkommens liegt, einen Zuschuss zur Miete und damit mehr Freiheit in der Wohnungswahl bieten. Allerdings ist die Zahl dieser Vouchers sehr begrenzt. Die Programme werden hauptsächlich über Steuersubventionen finanziert. Neben der CHA sind private Investoren und Not-for-Profit-Organisationen für die Umsetzung der Pläne zuständig. Bewohnerorganisationen haben keinen sehr großen Einfluss auf die Sanierungsmaßnahmen.
Die Mixed-income Developments orientieren sich am Leitbild des traditionellen Städtebaus mit niedrigen Apartment- und Reihenhäusern – ein gebautes Symbol der Neuorientierung anstelle der „vertical ghettos“. Obwohl die CHA hier ein Drittel des Wohnraums für Sozialwohnungen bereitstellen muss, richtet sich das Angebot stärker an die Mittelschichten als an sozial und wirtschaftlich schwache Haushalte.
Cabrini Green & Robert Taylor Homes
Eines der Umstrukturierungsgebiete in Chicago ist Cabrini Green, zwischen dem teuren Wohnviertel „Gold Coast“ und einem neuen Luxus-Wohnquartier nördlich von Downtown. Die Siedlung bestand aus Reihen- und Hochhäusern mit ursprünglich gut 3000 Sozialwohnungen und ist heute durch Brachflächen, neue Wohnhochhäuser und ehemalige Fabriken (zukünftige Lofts) geprägt. Die Reihenhäuser werden teilweise saniert, alle Hochhäuser abgerissen. 700 der rund 2600 neuen Wohnungen sollen Sozialwohnungen werden. Entstanden sind bisher eine Siedlung mit Reihenhäusern und die Quartiere North Town Park und Old Town.
Inmitten der South Side Chicagos liegen die Robert Taylor Homes, direkt daneben die Siedlung Stateway Gardens, eine Autobahn trennt beide von einem bürgerlichen Viertel der weißen Mittelschicht. Die von Armut und Verfall gezeichneten Quartiere im Süden und Osten des Gebiets haben der South Side Chicagos den Ruf einer No-Go-Area beschert und sie über die Stadtgrenzen hinaus als Problembezirk bekannt gemacht. Nördlich davon trifft man auf eine ganz andere Welt, den Campus des renommierten Illinois Institute of Technology (IIT). Die beiden Siedlungen umfassen insgesamt knapp 5900 Wohnungen. Durch Abriss- und Neubau soll auf dem Gelände der Robert Taylor Homes das Viertel Legends South mit 851 Sozialwohnungen, je 800 geförderten Wohnungen und solchen für den freien Markt entstehen. Unmittelbar angrenzend an das IIT wird mit Park Boulevard ein weiteres Quartier mit 439 Sozialwohnungen, 437 Wohnungen des „affordable housing“ (d.h. die Mieten sollten unter 30 Prozent eines durchschnittlichen Haushaltseinkommens liegen), 438 zu marktüblichen Preisen sowie Büro- und Einzelhandelsflächen gebaut werden. Um die unterschiedlich geprägten Viertel stärker miteinander zu verbinden, wird das vorhandene Straßenraster bis an die Autobahnschneise herangeführt.
Der Umbau der South Side ist Teil des ehrgeizig betriebenen Imagewandels der Stadt, die auf ihrem Weg zur attraktiven Metropole die Urban Renaissance über das Zentrum hinaus ausweitet. Mit der derzeitigen Strategie werden die bestehenden Probleme allerdings nicht gelöst, sondern lediglich geschickt an den Rand des Blickfelds verlagert. Aus Investorensicht ist ein Verhältnis von 80 Prozent freier Markt zu 20 Prozent geförderter Markt für den Erfolg der Mixed-income Developments notwendig. Dahinter steckt die Forderung der urbanen Mittelschichten, nicht durch drogensüchtige oder kriminelle Nachbarn beeinträchtigt zu werden. Mit dieser Politik lässt sich aber die soziale, rassistische und stadträumliche Ausgrenzung nicht wirkungsvoll bekämpfen. Eine Umverteilung armer Haushalte hat zwar stattgefunden, allerdings nicht in stabilere Viertel, sondern in „unkontrollierbare Ghettos“ am Stadtrand.
Logement social in Frankreich
In Frankreich wurden schon Anfang der 1980er Jahre besondere Zonen für die schrittweise Verbesserung der schulischen Versorgung festgelegt. Auch damals waren gewalttätige Krawalle der Auslöser. 1985 widmete sich ein Planvertrag zwischen Staat und Region der „sozialen Stadtteilentwicklung“ in 148 betroffenen Vierteln. Die soziale Durchmischung von Wohngebieten galt schon damals als Heilmittel zur Auflösung reiner Armenviertel. Allerdings wurde sie von denen, die den Sprung in die nächsthöhere soziale Liga geschafft hatten, misstrauisch betrachtet oder sogar bekämpft. Seit 1991 verpflichtet ein Gesetz jede Kommune mit mehr als 200.000 Einwohnern, mindestens 20 Prozent ihres Bestandes als Sozialwohnungen auszuweisen. Seit 1996 wurden im Rahmen einer städtischen Integrationspolitik weitere Zonierungen vorgenommen. Darunter sind rund 750 „Zones Urbaines Sensibles“, stark sanierungsbedürftige Großsiedlungen, die durchschnittlich 6000 Bewohner umfassen. Insgesamt liegt der Anteil an Sozialwohnungen in diesen Siedlungen mit durchschnittlich 62 Prozent dreimal höher als im gesamten Land. Als wirksam hat sich die Einrichtung von steuerlichen Sonderzonen erwiesen: In hundert ausgesuchten Gebieten wurden Unternehmensgründer von der Gewerbesteuer und weiteren Abgaben befreit. 2003, nach fünf Jahren Laufzeit, waren bereits 12.000 Unternehmen mit 46.000 Arbeitsplätzen (davon zwei Drittel neu geschaffenen) gegründet. Die Versuche zur Verbesserung der schulischen Versorgung brachten hingegen weder einen messbaren Anstieg der schulischen Leistungen noch positivere Bedingungen für Lehrer und Schüler. Kritiker führen dies auf die Förderung nach dem Gießkannenprinzip und den Mangel an modellhaften Pilotprojekten zurück.
La Courneuve
La Courneuve im Nordosten von Paris wurde zwischen 1956 und 1964 von der städtischen Wohnungsbaugesellschaft gebaut. Der Vorort gehört zu den größten Siedlungen Frankreichs und ist städtebaulich und architektonisch ein typisches Beispiel der Nachkriegsmoderne. Die rund 4000 Sozialwohnungen gaben ihm den Beinamen „Quatre mille“. In den bis zu 15–geschossigen Häusern leben über 15.000 Menschen. La Courneuve gehört zu 22 Quartieren, die in der Region Paris als sozial gefährdet eingestuft sind. Die einseitige Belegungspolitik der 1970er Jahre hat dafür gesorgt, dass hier überwiegend Menschen mit Migrationshintergrund leben, die Arbeitslosigkeit hoch und das Einkommen entsprechend gering ist. Fast die Hälfte der Bewohner ist unter zwanzig Jahre alt, für sie stehen kaum Sport- und Freizeiteinrichtungen oder kulturelle Angebote zur Verfügung. Das einzige Kino schloss 1973, viele Läden gaben Anfang der 1980er Jahre auf.
Schon 1982 war ein Wettbewerb zum Umbau des Viertels ausgeschrieben worden. Seit 1986 wurden in unregelmäßigen Abständen Wohnblöcke abgerissen. Der Bau neuer Wohnungen wurde allerdings immer wieder verschoben – es fehlte das Geld. 2005 fanden auch in La Courneuve Krawalle statt. Bei der Suche nach den Ursachen wurde der negative baulich-räumliche Einfluss auf das Verhalten der Jugendlichen hervorgehoben. Als Reaktion sieht die Nationale Agentur für Stadterneuerung im Rahmen eines „Wiederaufschwung-Plans“ nun zwölf Projekte vor: 263 Wohnungen, Sport- und Spielplätze sowie eine neue Schule sollen entstehen, die öffentlichen Räume und das Zentrum sollen aufgewertet werden. Die Bewohner sind in Planungswerkstätten an diesem Prozess beteiligt; auch in der Jury ist ihre Stimme mitentscheidend. Erste Planungen wurden bereits realisiert.
Le Plessis-Robinson
Ein anderes Modell des sozialen Wohnungsbaus mit eigenem Gesicht und eigener Geschichte findet sich in Le Plessis-Robinson. Der Vorort im Ballungsraum von Paris liegt zehn Kilometer südlich des Stadtzentrums und hat rund 26.000 Einwohner. Zwischen 1924 und 1939 wurde hier ein am Neuen Bauen orientierter Typ der Gartenstadt errichtet. Diese umfasste die „cité basse“ (niedrige Stadt) mit Ein- und Mehrfamilienhäusern und die „cité haute“ (hohe Stadt) mit zentraler Straßenachse und deutlich höherer Dichte in überwiegend fünfgeschossigen Wohnblöcken. Hier befindet sich bis heute das Zentrum der Gemeinde. Zwischen den beiden Teilen lag der nach dem Erbauer benannte Park Henri Sellier.
Während die Einfamilienhäuser meist gut gepflegt wurden, zeigten sich in den dichteren Baublocks die typischen Schäden durch mangelnde Instandhaltung. Die 2000 Wohnungen dort waren nach heutigen Kriterien zudem zu klein, die Ausstattung entsprach nicht mehr dem Standard. Dies führte zu langen Auseinandersetzungen: rehabilitation oder renovation urbaine – Sanierung oder Abriss? Unter den Auflagen des Denkmalschutzes und der Wohnungspolitik, wieder eine Gartenstadt mit Sozialwohnungen zu bauen, entschied man sich für die zweite Variante. Den Wettbewerb für den Masterplan gewann das Atelier Xavier Bohl. Auf dem 21 Hektar großen Areal der „cité haute“ entstanden zwischen 2006 und 2009 1300 Wohnungen – 250 davon Sozialwohnungen –, Schulen, ein Krankenhaus und Läden. Die traditionelle, „malerische“ Architektur beider Neubauquartiere knüpft an die Haussmann-Ära an; das Stadtbild ist von Grünanlagen und einem künstlichen Wasserlauf bestimmt. Die rationelle Bauweise der „Gartenstadt der Moderne“ ist auch hier durch ein traditionelles Modell abgelöst geworden. 2008 wurde den Gesamtplanungen in Le Plessis-Robinson von der Fondation pour l’Architecture der europäische Preis für „die beste urbane Siedlung, die in den letzten 25 Jahren gebaut wurde“, in der Katagorie „Urban Renaissance in a sub-urban City“ verliehen.
Paris und Chicago – Rezepte für die Wohnungsfrage des 21. Jahrhunderts?
Ob in Paris oder Chicago, in beiden Städten schaffen baulich-räumliche, soziale und wirtschaftliche Programme den Rahmen für Abriss-, Umbau- und Aufwertungsmaßnahmen im sozialen Wohnungsbau. Beide Städte können Erfolge vorweisen – allerdings nur punktuell und eher in baulicher als in sozialer Hinsicht. Ein übertragbares Modell gibt es bisher nicht, und angesichts der sehr unterschiedlichen Probleme kann es dies vermutlich auch nicht geben. Trotz der außerordentlichen quantitativen wie qualitativen Bedeutung der Großsiedlungen für die Zukunft der westlichen Großstädte werden die derzeitigen Programme und Maßnahmen nur von wenigen Spezialisten wahrgenommen und diskutiert. Die Wohnungsfrage des 21. Jahrhunderts scheint in der allgemeinen Städtebaudiskussion noch nicht angekommen zu sein.
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