Spain interrupted
Text: Concheiro, Isabel, Zürich
Spain interrupted
Text: Concheiro, Isabel, Zürich
Sieben goldene Jahre, dann der Absturz. Was sind die Folgen der spanischen Immobilienspekulation, welche Rolle spielen die Zweitwohnsitze, und welche Chancen gibt es, die leer stehenden Quartiere mitsamt ihrer wertlosen Architektur zu transformieren? Die Autorin verweist auf Strategien, die in Zusammenhang mit den Shrinking Cities entwickelt wurden.
Höhepunkt 2006: Spanien baut 760.000 neue Wohnungen, England und Frankreich mit zusammen mehr als der dreifachen Einwohnerzahl bringen es nur auf gut 650.000 Wohneinheiten. Zwischen 2001 und 2008 entstehen in Spanien etwa vier Millionen Wohnungen.1 Das entspricht zwölf neuen Wohnungen pro tausend Einwohner, im europäischen Durchschnitt waren es knapp fünf.
Nach den sieben fetten Boom-Jahren, in denen Bauen vor allem eine Sache von Investment und Spekulation war, ist das Land heute ein flächendeckendes Flickwerk aus wahllos gestreuten, schlecht angebundenen Siedlungen, mit hohen Leerstandsquoten (beinahe 700.000 Einheiten im Jahr 2009), halb fertigen Bauruinen und großen Flächen Bauerwartungsland, die noch ihrer Erschließung harren. Das ist sicherlich nicht die einzige Folge des enormen Entwicklungsdrucks der letzten Jahre, der allerdings im öffentlichen wie auch zum Teil im privaten Bereich auch qualitativ hochwertige Architektur hervorgebracht hat.
Woher ein derartiges Wachstum?
Um zu verstehen, wie es zu diesem Aufschwung überhaupt kam, sollte man zunächst der Frage nachgehen: Welcher Typ Häuser wurde gebaut, und wo liegen diese Häuser? Ein oberflächlicher Blick auf die Daten jener Jahre könnte zu der Annahme verleiten, dass die Expansion in gewisser Hinsicht sogar notwendig war – im Vergleich zu anderen europäischen Ländern herrschte in Spanien Wohnungsknappheit an Erstwohnsitzen. Hinzu kam der Anstieg der Bevölkerung um sechs Millionen innerhalb weniger Jahre.
Allerdings, so zeigt die genauere Analyse, war der Großteil der Neubauten gar nicht als Erstwohnungen gedacht gewesen. Man plante sie vorrangig als Zweitwohnsitze, zum Zwecke des Verkaufs oder der Vermietung, oder ließ sie, in Erwartung steigender Preise, schlicht leer stehen. Die Steigerungsrate für Zweitwohnsitze blieb im Vergleich zu den vorangegangenen Jahrzehnten aber mehr oder weniger konstant. Ein deutlicher Anstieg lässt sich dagegen für den Leerstand ausmachen, Wohnungen galten als Investitionsobjekte.2 Paradoxerweise herrscht nach diesen Boomjahren weiterhin Knappheit an Erstwohnraum, der nur etwa zwei Drittel der insgesamt 25 Millionen Haushalte abdeckt. Stünden also jene vier Millionen Neubauten weitgehend dem ersten Wohnungsmarkt zu Verfügung, könnte jetzt von einer „Blase“ keine Rede sein – man spräche stattdessen von einer positiven Entwicklung zum Ausgleich eines Nachfragedefizits. In Wirklichkeit aber ist das Stichwort „Immobilienblase“ tatsächlich angebracht, da der weitaus größte Teil des Wachstums auf einer urbanen Neuerschließung mit Spekulations-Objekten beruht, die die Landschaft unwiederbringlich zersiedeln und einen Gebäudebestand hervorbringen, der sich nur schwer anderweitig nutzen lässt.
Spekulation – Was passiert mit der Landschaft?
Die Bedeutung des Bausektors für die spanische Wirtschaft und der Vorschuss an Vertrauen in eine liberale Handhabe des Wohnungsmarktes haben den Umgang mit der Landschaft stark geprägt. Das Baugewerbe ist eine Schlüsselbranche für das spanische Wirtschaftsmodell, 11 Prozent des Bruttosozialproduktes werden hier erwirtschaftet, der EU-Durchschnitt liegt bei 5,8 Prozent. Neben anderen Faktoren beruht dieser Stellenwert auf einem bis ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Modell urbanen Wachstums, verbunden mit der unter den sozio-ökonomischen Vorzeichen der 1950er Jahre entstandenen Kultur des privaten Immobilienbesitzes. Überdies ist Bauen hier untrennbar mit touristischer Erschließung verknüpft. Mit jenem Spanien also, das unter dem Motto „Spanien ist anders“ seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts zu einem der wichtigsten Ziele für die Sonne-und-Strand-Urlauber wurde.
Die Bauindustrie des Landes hat in den letzten vierzig Jahren zwei Hochphasen erlebt, die die spanischen Siedlungsstrukturen verändert haben. Der erste Boom in den Siebzigern beruhte vor allem auf einem spätindustriellen Aufschwung und auf der drängenden Wohnungsknappheit. Spanische Städte wuchsen in erster Linie durch den „Ensanche“, der Erweiterung der Kernstädte mit Hilfe staatlich geförderter Wohnungsbauprojekte. Trotz des einen oder anderen Mankos steht der Ensanche für ein kompaktes Modell verdichteter urbaner Mischnutzung im Einklang mit den historischen Innenstädten. An der Küste dagegen reiht die touristische Erschließung Großbauten direkt hinter den Stränden aneinander.
Der zweite Boom
Im Gegensatz dazu ist der zweite Boom unmittelbar nach der Jahrtausendwende im Kontext mit der postindustriellen Wirtschaftsordnung zu sehen. Wohnbauprojekte wurden als Kapitalanlage statt für den tatsächlichen Bedarf gehandelt. Die Erweiterung der Städte verfolgte nun das Modell großer isolierter Trabanten-Siedlungen an den Haupt-Ausfallstraßen, die fast ausschließlich als Wohn- und Schlafstädte dienen. Auch Umfang und Typus der Küstenbebauung änderten sich. Die neuen Produkte der Tourismusindustrie bieten Urlaubskonzepte an, die sich in erster Linie auf einen Markennamen statt auf die Strandlage berufen. Daher liegen sie nicht mehr unbedingt direkt am Meer, sondern dehnen ihren Einzugsbereich 15 bis 20 Kilometer ins Hinterland aus.
Ein weiterer wichtiger Punkt für die besondere Form der Landnutzung ist die enge Koppelung des Wohnungsbau-Sektors mit einem liberalen Immobilienmarkt. Bezogen auf die territorialen Verhältnisse führt das zu zwei Hauptproblemen: zu einem exzessiven Verbrauch von Flächen und Ressourcen und zur Trivialisierung der Landschaft. Die willkürliche Neubesetzung von Flächen weitab bestehender Städte folgt der Logik von Grundstücks-Investitionen, nach der die Rentabilität auf niedrigen Bodenpreisen beruht. Das Problem dabei ist nicht allein die Größenordnung der für den Wohnungsbau verbauten Hektar, sondern darüber hinaus die exponentielle Zunahme an Energieverbrauch, Infrastruktur und Flächen für Konsum und Freizeit, die ein solches expansives Modell einfordert.
Zudem führt die vorrangige Betrachtungsweise von Wohngebäuden als Tauschwährung zu einer Homogenisierung der Umwelt. Im Kontext der globalen Märkte analysiert Richard Sennett heutige Bürobauten: „Die Neutralität der neuen Gebäude resultiert unter anderem aus ihrem globalen Währungswert als Investment-Einheiten. (...) Die Standardisierung der Umwelt beruht auf einer nicht nachhaltigen Wirtschaftsordnung, und Standardisierung führt zu Gleichgültigkeit.“3 Übertragen auf den Wohnungsmarkt heißt das: Wohnbauten im Sinne einer Investitionseinheit tendieren dazu, hinsichtlich Gestaltung und Grundriss so neutral wie möglich zu sein, um einen besseren Tauschwert auf dem Markt zu erreichen.
Gleichmaß ist nicht unbedingt ästhetisch. Laut Francesc Muñoz sind die Folgen „eine Einschränkung bezüglich der Nutzungsoptionen und möglicher Interaktionen im Raum“. Darüber hinaus können sich neue Siedlungen kaum zum kulturellen oder symbolischen Bezugspunkt entwickeln, wenn nur wenige bis keine öffentlichen Gebäude vorhanden sind und auch die Mitgestaltung durch die Bewohner fehlt. Dieses Archipel aus zersprengten Neusiedlungen – uniforme Un-Orte, isoliert, gleichförmig, eintönig, ohne referentiellen Gehalt – hat neue „Spekulations-Landschaften“ hervorgebracht: öde, homogene Landstriche als bleibende Folgeschäden einer kurzlebigen Wirtschaftsform.
Lokale Planungsstrukturen als wirksames Werkzeug
Der spanische Bauboom bleibt – von der günstigen Weltwirtschaftslage und den sehr niedrigen Zinssätzen als Motor für privates Immobilieneigentum einmal abgesehen – dennoch unverständlich, solange man bestimmte Instrumente der Planungsverfahren nicht genauer betrachtet. 1998 verabschiedete die Regierung ein neues, ausgesprochen liberales Gesetz zum Bodenrecht. Hauptziele waren der höhere Zugriff auf verfügbare Flächen und eine Vereinfachung bei der Abwicklung und Verwaltung. Dafür wurde die neue Funktion des „agente urbanizador“ oder Stadtentwicklers geschaffen. All diese Maßnahmen sollten den Urbanisierungsprozess vorantreiben und außerdem mehr und billigeres Bauland für mehr Wohnfläche auf den Markt bringen. Eingelöst wurde die Erwartung nicht: Die Lockerung der Vorschriften führte zu Machtmissbrauch, das Überangebot an Spekulations-Objekten trieb die Grundstückspreise in die Höhe.
Davon abgesehen resultiert das enorme Wachstum der Städte aus der Summe der rein lokalen Verantwortlichkeiten für das Grundeigentum. Städte und Gemeinden genossen eine viel zu große Freizügigkeit bei der Einstufung ihrer Ländereien, übergeordnete bzw. regionale Richtlinien fehlten. Für die Gemeinden (gelegentlich auch für Privatpersonen) erwies sich das Ausweisen von künftigem Bauland und die nachfolgende Erteilung von Baugenehmigungen als Haupteinnahmequelle der Gemeindekasse, Korruption bei den Planungsverfahren war häufig die Folge. Statt Wettbewerbsverhalten und Synergieeffekte bei den Gemeinden zu fördern, geriet ihre Autonomie zum willigen Werkzeug für eine banale Einheits-Architektur, die im gleichen Marktsegment um Anteile konkurrierte.
Neue Modelle für eine postindustrielle Gesellschaft
Heute sieht sich Spanien mit zwei Kernfragen konfrontiert: Was tun mit dem, was schon steht? Und: Was tun mit dem Land, das als Bauland ausgewiesen, aber noch unbebaut ist? In den nächsten Jahren wird sich das Land einem Phänomen gegenübersehen, das sich mit Schrumpfung vergleichen lässt. Dieser Begriff beschreibt den Rückgang der Bevölkerungszahl und den Verlust an Wirtschaftskraft in gewissen Städten, was bis zu einer Auflösung von bestehenden urbanen Strukturen führt. Vier Faktoren werden als Ursache für den Rückgang angegeben: Deindustrialisierung, Suburbanisierung, Postsozialismus und Überalterung.
Ein fünfter Faktor heißt möglicherweise Spekulation – eine Spekulation, die nicht mit Bevölkerungsrückgang oder nachlassender ökonomischer Aktivität zusammenhängt, sondern damit, dass diese Parameter von vornherein nicht berücksichtigt wurden. Anders als schrumpfende Städte sind dies Orte, in denen von Anfang an nicht genügend Menschen im Verhältnis zur neu gebauten Infrastruktur leben. Die neuen menschenarmen Oversized-Strukturen führen aber zu vergleichbaren Problemen und Optionen wie in der schrumpfenden Stadt.
Bisher lassen sich in Spanien eher die Auswirkungen einer marktorientierten Wirtschaft studieren als neue Typologien für das postindustrielle Zeitalter. In einer Dienstleistungs-Ökonomie sind die Faktoren für urbanes Wachstum nicht derart eng an den Produktions- oder Konsumstandort gebunden wie noch in der industriellen Ära. Der Stadtsoziologe und Tourismusforscher José Miguel Iríbas vertritt die These, dass Aspekte, die für die Produktion einst keine Rolle spielten (etwa Klima, Umweltqualität, Vernetzung und Freizeit- oder Kulturangebote), für neue Wachstumsmodelle in einer postindustriellen Wirtschaftsordnung wichtig werden könnten.
Das jetzige Ende der Blütezeit ist vielleicht Anlass, den Vektor Wachstum als einzig mögliche Planungsstrategie abzulösen und beim Konzipieren von Wohnraum auf den Nutzwert anstelle von Investitionsgewinn zu setzen. Spanien wird sich neue Wege in die Zukunft bahnen müssen. Statt „Spanien ist anders“ hieße es dann: „Spanien baut anders.“ Vielleicht.
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