Bauwelt

Stadtbrachen – neues Leben für ausgediente Flächen

Text: Hofmann, Aljoscha, Berlin

Stadtbrachen – neues Leben für ausgediente Flächen

Text: Hofmann, Aljoscha, Berlin

Die fortschreitende Deindustrialisierung produziert immer weitere Brachflächen inmitten der Innenstädte. Wo einst in Fabriken, Bahnhöfen und Häfen am Wirtschaftswachstum gearbeitet wurde, wird nun um eine sinnvolle Nachnutzung der riesigen Areale ge­rungen. In Berlin hat der Fall der Mauer den Umfang solcher Flächen noch potenziert. Die deutsche Hauptstadt hat 20 Jahre nach der Wende so viele Brachen und temporär genutzte Räume wie keine andere europäische Großstadt. Ihre Umnutzung ist ein langwieriger und konfliktreicher Prozess.
Einst militärisch genutzte Flächen und Bauten, aufgegebene Gewerbe- und Industriegebiete, alte Bahnareale und Hafenanlagen, große brach gefallene Büro- und Dienstleistungsbau­ten, weiträumig leer stehende Kaufhausareale in Deutschland, nicht mehr genutzte Shopping Center in den USA – Flächenrecycling ist nicht neu, hat aber bislang unbekannte Dimensio­nen angenommen. Im 19. Jahrhundert wurden Industrie- und Infrastruktureinrichtungen am Rand der bestehenden Städte errichtet. Bald aber wurden sie vom stürmischen Wachstum der Städte überrollt, so dass sich die heutigen Konversionsauf­gaben mitten in der Innenstadt befinden. Als neue Produktions­standorte taugen sie meist nicht: Verschärfte Lärmschutz- und Umweltauflagen erschweren die Produktion, die Verkehrsanbindung ist oft nicht optimal, und die umliegende Bebauung verhindert nötige Erweiterungen. Da solche innerstädtischen Flächen auf dem Immobilienmarkt gefragt sind, ist die Chance, einen hohen Verkaufserlös zu erzielen, ein weiterer Anreiz für Unternehmen und andere Institutionen, ihre Nutzungen zu verlagern. Das trifft vor allem für Flächen am Wasser zu, die besonders begehrt sind. Ein weiterer Grund für große Brachen sind die veränderten Anforderungen an Häfen und Bahnflächen, beispielsweise im Güterbereich durch die Einführung der standardisierten Containerlogistik.

Die Konversion solcher Flächen ist heute Motor einer Vielzahl großräumiger Entwicklungen in bester Lage. So entstand etwa in Paris mit Rive Gauche ein neues Quartier auf der Industriebrache um die Bibliothèque national de France. In London werden mit King’s Cross Central die ehemaligen Bahnflächen hinter den Stationen King’s Cross/St. Pancras entwickelt, und im Zuge von Olympia 2012 entsteht ein neues Viertel auf dem einst durch Bahnanlagen und Schwerindustrie geprägten Gebiet am nordöstlichen Stadtrand. In Chicago schließen immer mehr Fabriken, deren weitläufigen Gelände oft Jahrzehnte ungenutzt geblieben waren. In den letzten Jahren wurden die Brachen am Lake Michigan zur Erweiterung des Parksystems entdeckt, wie Teile des seit den 1990ern ungenutzten Fabrikgeländes South Works oder seit den 1970ern brachliegende Bahnflächen im Süden der Stadt. Herausragendes Beispiel der Umnutzung ist Berlin: Die deutsche Hauptstadt hat so viele Brachflächen und temporär genutzte Räume wie keine andere europäische Großstadt.

Berlin: Von der geteilten Stadt zur Brache zur Zwischennutzung zur Stadt

Während sich die Städte in Ost- und Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg über ihre Stadtgrenzen hinaus entwickeln konnten, war im eingeschlossenen West-Berlin ein Zugewinn an Stadtfläche nicht möglich. Mit dem Bau der Mauer 1961 gerieten die aus West-Berliner Perspektive „östlichen“ Innenstadtteile in eine Randlage. Industrie und Gewerbe siedelten sich entlang der innerstädtischen Grenze an. Aber nicht nur dort, sondern auch an vielen anderen Stellen der Stadt klaffen 20 Jahre nach der Wiedervereinigung riesige Löcher im urbanen Gewebe. Diese Flächen und die auf ihnen gedeihenden Zwischennutzungen verleihen der Stadt seit 1990 einen unverwechselbaren Charme. Berlin ist noch immer an vielen Orten unfertig und temporär. Brachflächen und Provisorien sind wie in keiner anderen Stadt zum Imageträger geworden.

Aber die Attraktivität des Unfertigen täuscht nur zeitweise darüber hinweg, dass an fast allen diesen Orten durchaus „richtige“ Stadt entstehen soll. Lag der Fokus der Berliner Stadtentwicklung anfangs auf der kritischen Rekonstruktion des Stadtgrundrisses und der Konsolidierung der Stadtmitte, so sind es nun die verbleibenden und zukünftigen großen Brachflächen in der Stadt, die ganz oben auf der Agenda zu finden sind: Tempelhof, Tegel, Mediaspree und das Umfeld des Hauptbahnhofs. Auch eine Vielzahl kleinerer Brachflächen wie die ehemaligen Güterbahnhöfe Grunewald, Westend und Pankow, das Westkreuz oder der Mauerpark sind in Bewegung; für alle Ecken und Winkel der Stadt wird geplant oder zumindest zwischengenutzt. Zwei große Konversionsprojekte mit einer unterschiedlichen Herangehensweise sind die unter dem Label „Mediaspree“ zusammengefassten Entwicklungen entlang beider Ufer der östlichen Stadtspree und die geplanten neuen Quartiere rund um den Hauptbahnhof.

Das Label „Mediaspree“'

Nach dem Fall der Mauer rückten die Flächen entlang der von Gewerbe und Industrie geprägten östlichen Stadtspree zwischen Treptow, Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte schnell in den Blick von Senat und Entwicklern. Die ehemalige Randlage war über Nacht zu einem zentralen Stadtraum geworden. Schon 1993 begann mit einem städtebaulichen Wettbewerb die Ideenfindung für das Umfeld des Ostbahnhofs. Der vom Büro Hemprich Tophof Architekten erarbeitete Rahmenplan von 1994 sah eine Blockrandbebauung und Hochpunkte an den Brückenköpfen zwischen der ehemaligen Ost- und West-Berliner Seite vor. Obwohl mit dem Plan ein städtebaulicher Rahmen gesetzt war, setzten sich bereits Mitte der 1990er Jahre verschiedene Investoren und Entwickler mit Planungen durch, die die baulichen Vorgaben des Rahmenplans sprengten. Nach und nach weichten einzelne Bebauungspläne und Baugenehmigungen die Setzungen des Planes immer weiter auf. Der 2001 von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung veröffentlichte Plan „Leitbild Spreeraum Friedrichshain-Kreuzberg“ liest sich wie ein Masterplan, ist aber letztlich nur eine Collage aller bestehenden Planungen für die etwa 180 Hektar umfassenden Brachen beidseitig der Spree. Seit Gründung der Mediaspree GmbH im Jahre 2002 – ein Zusammenschluss von Entwicklern, Investoren und Grundstückseignern – wurden die einzelnen Planungen unter dem Label „Mediaspree“ vermarktet.

Die Projekte im Mediaspree-Gebiet lassen sich heute nur aus der Logik und Dynamik der frühen 1990er Jahre verstehen, als Berlin sich in einer städtebaulichen Goldrauschstimmung befand. In Erwartung eines Booms und der Rückkehr des Finanzsektors in die neue gesamtdeutsche Hauptstadt wurde ein riesiger Bedarf an Wohnungen und Büros prognostiziert. Mitte der 1990er Jahre folgte die Ernüchterung. Auch im Bereich der Mediaspree wurden nur wenige Vorhaben realisiert. Von den 600.000 Quadratmetern im „Anschutz Entertainment Quartier“, die um die Mehrzweckhalle „O2 World“ genehmigt sind, steht bisher nur die Halle etwas verloren zwischen leeren Straßen und als Parkplatz zwischengenutzten Baufeldern. Diese Stagnation liegt aber nicht nur an dem ausbleibenden Boom, sondern auch an den heftigen Protesten gegen die Entwicklungspläne. Die Werbemaßnahmen der Investoren sind gründlich fehlgeschlagen. 2005 hatten sie die Mediaspree GmbH zum Verein „Regionalmanagement Mediaspree e.V.“ umgewan­delt. In dessen Magazin „mediaspree“ wurden nacheinander die Pläne für das Areal und einzelne Vorhaben präsentiert. 2007 wurden diese in Luftbildcollagen zusammengefasst, die heftige Kritik hervorriefen. Es gründete sich der Initiativkreis „Mediaspree versenken!“ Der Widerstand ist Teil einer stadtweiten Gentrifizierungsdebatte, in deren Kontext auch schon einmal Farbbeutel gegen Neubauten fliegen oder Autos in Brand gesteckt werden. Bei der in Berlin verfügbaren Flächenauswahl in Top-Lagen will offenbar kaum ein Investor das Risiko solch einer Eskalation eingehen – 2008 wurde der Investoren-Verein „Regionalmanagement Mediaspree“ aufgelöst.

Für die nächsten Jahre wird der östliche Spreeraum vermutlich zu großen Teilen weiterhin ein Abenteuerspielplatz für Erwachsene bleiben. Auch wenn verschiedene Zwischennutzer immer wieder vor der Verdrängung durch geplante Bauvorhaben stehen, gibt es die Hoffnung, dass Zwischennutzung künftig stärker begrüßt denn als Störfaktor der Entwicklung gesehen wird. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung hat das Thema aufgegriffen und möchte die hier schwelenden Konflikte durch dauerhaft zur Verfügung gestellte Experimentierflächen entschärfen. Derzeit existiert – abgesehen von einzelnen Plänen für größere zusammenhängende Flächen wie dem Anschutz Entertainment Quartier oder dem Postareal – kein gültiger Masterplan für die sehr unterschiedlichen Brachflächen im Spreeraum. Das Nutzungskonzept für das gesamte Gebiet ist dementsprechend nicht sehr überzeugend: Fast ausschließlich monofunktionale Dienstleistungsbauten und wenig Wohnungen, zumeist aus dem oberen Preissegment, erwecken nicht den Eindruck eines langfristig tragfähigen Quartiers. Die Zeit der Stagnation wäre günstig für eine Überprüfung der gesamten Planungen im Spreeraum.

Die Masterplanung im Umfeld des Hauptbahnhofs

Eine grundsätzlich andere Planungsgeschichte bietet sich im Umfeld des Hauptbahnhofs. Nach dem Fall der Mauer konzentrierten sich die Entwicklungen auf das südlich gelegene Regierungsviertel, während sich die Nutzung des nördlich gelegenen Containerbahnhofs um die Heidestraße zunächst intensivierte. Mit dem Brachfallen der etwa 40 Hektar großen Fläche startete 2003 die Diskussion um eine angemessene Zukunft. Anders als im Mediaspree-Gebiet begannen im Juli 2006 an der Heidestraße jedoch nicht einzelne Akteure mit der Vorstellung von Einzelplanungen, vielmehr luden sie gemeinsam zur einer ersten Standortkonferenz ein. Am Ende des über zweijährigen Prozesses stand der im November 2008 auf der vierten Standortkonferenz vorgestellte Masterplan Heidestraße von den Büros ASTOC, Köln (Städtebau), Studio Urban Catalyst, Berlin (Freiraumplanung) und ARGUS, Hamburg (Verkehrsplanung). Auf der fünften Standortkonferenz Mitte dieses Jahres wurde über den aktuellen Stand der Planungen berichtet. Im Zentrum steht die nachhaltige Organisation der zukünftigen Infrastrukturen und der Nutzung in Form einer Kombination von Wohnen, Arbeiten und Kultur sowie einer sozialen Mischung aus familien- und altengerechtem Wohnen und der frühzeitigen Einrichtung von Kindertagesstätten. Wie bei „Mediaspree“ wird das geplante Stadtquartier inzwischen auch unter einem Label – „Europacity“ – vermarktet, stößt aber auf weit weniger Kritik als die Planungen im Spreeraum. Im Juli begann der Bau des ersten Bürogebäudes des neuen Quartiers. Der fast 70 Meter hohe Büroturm nach Entwürfen von Barkow Leibinger Architekten wird unter anderem die Deutschlandzentrale des Mineralölunternehmens Total aufnehmen.

Wer heute am Berliner Hauptbahnhof vorbeifährt, sieht sich noch immer mit einer städtebaulichen Leere konfrontiert, wie man sie wohl an keinem anderen Hauptbahnhof der Welt findet (Bauwelt 20.10). Lange wird dies jedoch nicht so bleiben. Direkt westlich der „Europacity“ um die Heidestraße entwickelt die Immobiliengesellschaft Vivico auf etwa 6,5 Hektar ein neues Viertel an der Lehrter Straße. Auch hier ist ein Mix aus Wohnen und Arbeiten geplant, gewerbliche Bauten am östlichen Rand sollen einen Lärmschutz vor den dahinter liegenden Gleisen bieten. Südlich der Invalidenstraße soll unmit­telbar um den Hauptbahnhof ein weiteres Quartier entstehen, für das bereits Mitte der 1990er Jahre ein Masterplan von Oswald Mathias Ungers ausgearbeitet wurde. Die Architekten Karl-Heinz Winkens, Augusto Romano Burelli sowie Petra und Paul Kahlfeldt haben 2007 den Masterplan für die östlich des Bahnhofs gelegene Fläche rund um den Humboldthafen weiterentwickelt. Jetzt sucht der Liegenschaftsfonds nach Investoren. Nicolas Berggruen, der für eine private und eine städti­sche Kunstsammlung auf dem etwa zehn Hektar großen Areal im Gespräch war, wurde sich jedoch mit dem Senat nicht ei­nig. Unweit davon, südwestlich des Bahnhofs, warten weitere Projekte nach dem Masterplan von Ungers auf ihre Realisierung. Im Bau befindet sich lediglich ein Motel One-Hotel. Der Entwickler des Sheraton Hotels direkt nordöstlich des Hauptbahnhofs steht nach Aussagen von Wirtschaftsexperten vor Liquiditätsproblemen, so dass die Realisierung des Entwurfs von Aukett & Hesse unsicher geworden ist. Nur etwa 400 Me­ter süd-westlich davon hat am Moabiter Werder der Bau des neuen Bundesinnenministeriums begonnen. Der mit 179 Millionen Euro veranschlagte Bau von Müller Reimann Architekten soll 2014 fertiggestellt werden.

Den nördlichen Abschluss der Entwicklungen bildet der gerade bekanntgegebene Masterplan für den Pharma-Campus von Bayer Schering zwischen Nordhafen und Reinickendorfer Straße. Barkow Leibinger Architekten haben für das 18 Hektar große Areal ein Ensemble aus Neubauten entworfen, darunter die 80 Meter hohe Hauptverwaltung des Konzerns und ein neues Besucherzentrum anstelle des alten silbernen Hauptgebäudes von 1973. Der Entwicklungszeitraum für den PharmaCampus ist bis zum Jahr 2040 angegeben.

Neue Identitäten

Ohne neue Bespielung oder Beplanung fehlen die Brachflächen meist auf dem mentalen Stadtplan der Bewohner und Besucher. Sobald sich Zwischennutzer ansiedeln oder ein Projekt entwickelt werden soll, ändert sich dies schlagartig. Eine der größten Schwierigkeiten ist die Dimension der Flächen. Areale vom Ausmaß ganzer Stadtteile waren wegen ihrer früheren Unzugänglichkeit nicht öffentlich präsent. Ihre Entwicklung erfordert deshalb mehr als ein Gestalt- und Nutzungskonzept. Damit sie nicht quasi aus dem Nichts entwickelt werden, müssen Anknüpfungspunkte geschaffen werden, die die Bildung einer neuen Identität unterstützen, so zum Beispiel durch die Einbindung des historischen Bestands. Schließlich muss das Projekt stadträumlich und sozial erst wieder an die umgebende Stadt angekoppelt werden. Das alles bedarf nicht nur langfristiger, flexibler und robuster Planungen, sondern vor allem auch des Dialogs mit allen Beteiligten, um die unterschiedlichen Interessen an Stadt zu verhandeln.

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