Bauwelt

Stadtvisionen 1910 | 2010

Text: Bodenschatz, Harald, Berlin; Schultz, Brigitte, Berlin

Stadtvisionen 1910 | 2010

Text: Bodenschatz, Harald, Berlin; Schultz, Brigitte, Berlin

Berlin 1910: Mit der Gründung der Bauwelt und der „Allgemeinen Städtebau-Ausstellung“ gehen von der Spree zwei entscheidende Impulse für die Fachwelt aus. Beide Jubiläen sind uns Anlass für den Blick nach vorn: Während die Bauwelt sich mit ihrem Jubiläumsheft im November architektonischen Vi­sio­­nen in Europa zuwenden wird, widmet sich diese Stadtbauwelt vier Städten, die 1910 wie auch 2010 Wegweisendes zu bieten haben: Berlin, Paris, London und Chicago.
Unser Fokus richtet sich auf aktuelle Debatten und Projekte, die sich um sieben zentrale Bausteine der Stadt gruppieren: vom Zentrum bis in die Peripherie, vom Verkehr bis zum Stadtgrün. Dabei zeigt sich, dass – nach einem Jahrhundert voll technischer Neuerungen und tiefer gesellschaftlicher Ver­änderun­gen – sich die Kernfragen der europäisch geprägten Stadt nicht so drastisch verschoben haben, wie man erwarten würde.

Heute wie damals ist die Gestaltung des Großstadtzentrums eine Schlüsselfrage des Städtebaus. 1910 sollte überhaupt erst ein Zentrum geschaffen werden, ein monumentales, einzigartiges Aushängeschild der stürmisch wachsenden Stadtregion, Ort politischer, kultureller und wirtschaftlicher Repräsentation. Heute ist die Zielsetzung fast identisch, wenngleich die Gestaltung fußgängerfreundlicher Räume und die Einbindung exklusiven Wohnens neue Akzente setzen. Dabei bleibt das Wohnen die wichtigste Funktion der Großstadt. 1910 wurde nach suburbanen Gegenmodellen zur „Mietskasernenstadt“ gesucht, aber auch nach urbanen Alternativen, wie u.a. im Bayerischen Viertel in Berlin. Viertel wie dieses schlossen indes ärmere Bevölkerungsschichten aus. Eine Antwort darauf waren die Großsiedlungen des sozialen Wohnungsbaus der Moderne, die heute weltweit in der Kritik stehen. Sie werden, wie in Paris und Chicago, umgebaut, „rückgebaut“ oder modernisiert.

Brennpunkte des Abschieds von der Industriegesellschaft sind heute die kompakten innerstädtischen Arbeiterviertel des ­19. Jahrhunderts. Ihre Stabilisierung ist eine Herausforderung, der sich London beispielhaft stellt. Ein weiterer Abschiedsgruß der industriellen Ära sind die riesigen Brachflächen früherer Industrie-, Gewerbe- und Hafenanlagen, die sich zu Flächen gesellen, die im Zuge des Strukturwandels nicht mehr benötigt werden: Militär-, Eisenbahn- und Flughafengelände, und, perspektivisch, Großflächen des Einzelhandels, wie in Chicago bereits sichtbar.
Verblüffend ist die beständige Verfolgung des Ziels, die Stadtregionen durch den schienengebundenen Massenverkehr zu gestalten. Nur der beispiellose Siegeszug des Automobils, das den Großstädten schwer zugesetzt hat, konnte diese Kontinuität unterbrechen. Um 1910 spielte das Auto noch keine wichtige Rolle – um 2010 hat es seine zentrale Rolle in der Planung ausgespielt, wenngleich es den Alltag der Großstadtre­gionen weiter beherrscht. Nicht nur in den USA ist die flächen­deckende Motorisierung Grundlage der Zersiedelung, eine der heutigen Geißeln des Städtebaus. Die Hoffnungen von 1910, fast alle Probleme durch Dezentralisierung in Form von Gartenstädten und kompakten Stadterweiterungen lösen zu können, sind im Sprawl verendet. Großstädte in Europa und den USA haben sich zu seiner Eindämmung verpflichtet, mit mehr oder weniger Erfolg.

Der „Kult des großen Plans“ befeuerte 1910 das Planungsdenken. Er bedeutete die Abkehr von der einfachen Stadterweiterungsplanung durch Fluchtlinienpläne, er nahm die gesamte wachsende Stadtregion in den Blick und integrierte die Fragen des Massenverkehrs, des Wohnungswesens und des Großstadtgrüns in den Städtebau. Mit stadtregionalen „Parksystemen“ und breit nutzbaren Quartierparks lieferten 1910 einige Großstädte der USA, wie Chicago, Vorbilder für den Umgang mit Großstadtgrün, an die heute durch spektakuläre urbane Parks wie den Chicagoer Millennium Park, aber auch durch kleine Pocketparks wie in London angeknüpft wird. Selbst der große Plan erfährt eine – wenn auch gewandelte – Renaissance. Ähnliche Fragen wie vor 100 Jahren stellen sich jetzt im Kontext der Informationsgesellschaft sowie des Demografie- und Klimawandels.

Die vorgestellten Projekte sind ein kleiner Ausschnitt der aktuellen Entwicklung, der das breite Spektrum des Städtebaus von morgen andeutet. Der Berliner Illustrator Philipp Wango hat die Beispiele eigens für dieses Heft in griffige Skizzen gefasst. Den großen optischen Bogen bildet die Stadt Chicago: Sieben Fotoblogger aus der Metropole am Lake Michigan haben für uns ihre individuelle Sicht auf sieben Themen eingefangen. Das Heft begleitet und ergänzt die Ausstellung STADTVISIONEN 1910 | 2010, mit der die TU Berlin ab 15. Oktober das 100-jährige Jubiläum der „Allgemeinen Städtebau-Ausstellung Berlin 1910“ begeht.

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