Statt Abriss: Blickwinkel weiten
Editorial
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
Statt Abriss: Blickwinkel weiten
Editorial
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
Rathäuser der 1960er und 70er Jahre gelten heute vielerorts als Problemfall. Ihre Modernisierung wurde oft unterlassen, für die nun nötige Generalüberholung fehlt das Geld. Sechs Erkundungen auf bereits begehrtem Grund.
Folgende E-Mail erhielt ich Mitte September vom Fotografen Christian Richters: „Den Deilmann-Bau zu besuchen war wie ein Blick durch eine Gegenwarts-Schicht hindurch in eine andere Zeit. Es sind die Formen, die Farben, der Zustand leichter Verwahrlosung mit moosig-grünlicher Patina draußen, drinnen dann Veilchenblau und Currybraun und Plastikgelb, dazwischen gelegentlich orangefarbene Sitzmöbel und im Ratssaal deckenhoch teppichbespannte Wände. Auch die für die siebziger Jahre so typischen Großraumbüros sind als solche erhalten, wenn auch auf den ersten Blick fast verschwunden hinter einer Schicht aus allerlei Mobiliar der vergangenen drei, vier Jahrzehnte, hinter Trennwänden, Aktenschränken, Bürogerät, Hydrokulturen und privaten Memorabilien der Beamten. Was zunächst nur trashig und chaotisch aussieht, hat allerdings eine Ordnung: Es sind lauter kleine eigene Bürowelten. Als ich einem Mitarbeiter des Bauamtes erzähle, dass ich für eine Publikation in der Bauwelt fotografiere, entgegnet er, das Schlimmste, was noch passieren könne, sei, dass das Rathaus dann zum Baudenkmal erklärt würde. Unter den Arbeitsbedingungen und der miserablen Bauphysik würden sie alle leiden – und der Bau verbrauche so viel Energie wie sämtliche Schulen der Stadt zusammengenommen.“
Jahrzehnte täglichen Gebrauchs haben die Wahrnehmung der Qualitäten der Architektur vor Ort stumpf werden lassen. Die Eindrücke, die mir Christian Richters von seinem Besuch des Rathauses in Gronau geschrieben hat, treffen die Lage der in diesem Heft versammelten Rathausbauten der 1960er und 70er Jahre im Allgemeinen: Ob in Reutlingen oder Elmshorn, Mainz oder Gronau, Bonn oder Minden – diese Zeitzeugen der jungen Bundesrepublik sind heute mehr oder weniger akut vom Abriss bedroht. Sie gelten als sanierungsbedürftig, als „Energieschleudern“, deren gestalterische Originalität sich dem verengten Blick unserer Zeit auf die gebaute Welt im Zweifelsfall unterzuordnen habe, als (alt-)stadträumlich unverträglich, was manche Politiker und Stadtplaner freilich nicht vor der Erwägung zurückschrecken lässt, die großen Rathäuser noch größeren Einkaufszentren zu opfern.
Gewiss muss man die Bauten der Nachkriegsmoderne nicht lieben, und sicher gilt auch, dass die klamme finanzielle Situation der Kommunen eine der Architektur gerecht werdende Sanierung oder Weiterentwicklung schwierig macht – der Umverteilungsprozess der letzten Jahrzehnte von den öffentlichen auf die privaten Konten war zum Zeitpunkt, als diese Rathäuser geplant und errichtet wurden, nicht vorhersehbar. Dieses Heft soll einen Anstoß geben, die Diskussionen um die gemeinhin schlecht beleumdeten Bauten zu versachlichen, und der Polemik gegen die „Betonklötze“ den Blick auf ihre Qualitäten entgegensetzen. Dazu gehörte auch der Ehrgeiz, die Architektur angemessen zu zeigen – kursieren in den lokalen Zeitungen doch meist Fotos, die die Problemzonen der Bauten in den Vordergrund rücken. Mit Ausnahme vom Rathaus in Reutlingen, das die Fotografin Rose Hajdu bereits für eine Ausstellung porträtiert hatte, haben wir die Rathäuser von namhaften Architekturfotografen ins Bild setzen lassen. Damit soll auch deutlich werden: Die jeweilige Stadt steht mit ihrem Rathaus nicht alleine da, sondern hütet ein eigenes Kapitel bundesrepublikanischer Architekturgeschichte. Je mehr Kapitel wir heute vorschnell, den Nöten und Zwängen unserer Zeit gehorchend, löschen, desto unverständlicher wird die Geschichte, die diese Gebäude von der „Bonner Republik“ und ihrer Verfasstheit einer künftigen Generation erzählen können.
Die hier gezeigten Beispiele werfen Fragen auf, die über die sechs Rathäuser weit hinausreichen: Wird die Architektur öffentlicher Bauten dieser Jahre allgemein bislang unterbewertet? Sollten sanierungsbedürftige städtische Gebäude heute nichts weiter als ein wertvoller innerstädtischer Pool von Abrissmaterial sein, aus dem sich private Investoren bedienen können, um so für die Kommune einmalig Einnahmen zu generieren? Oder wären es diese Bauten nicht vielmehr wert, dass ihre Sanierung mit planerischer Sorgfalt angegangen wird, um ihren Wert und ihren Charakter zu erhalten oder sogar weiterzudenken? Wenn man den oft schlechten Zustand manch öffentlicher Gebäude betrachtet, drängt sich jedenfalls die Frage auf, ob die Städte ihrer Rolle als Bauherr in der Vergangenheit in vollem Umfang gerecht geworden sind; ob durch aufgeschobene Unterhaltung früher nicht am falschen Ende gespart worden ist. Angesichts der Kräfte, die heute schon und in Zukunft noch stärker auf unsere Gesellschaft einwirken – Stichworte: energetische Modernisierung, demographischer Wandel, „marktkonforme Demokratie“ (Angela Merkel) –, stellt sich zuletzt die Frage, ob die Städte ihre Planungsabteilungen nicht wieder stärker auf diese genuin gemeinschaftlichen Aufgaben konzentrieren sollten – um Räume zu erhalten bzw. zu schaffen, die den Bürger mit der „res publica“ in Verbindung bringen.
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