Stauweltmeister Antwerpen
Stadt und Auto
Text: van Acker, Maarten, Antwerpen
Stauweltmeister Antwerpen
Stadt und Auto
Text: van Acker, Maarten, Antwerpen
Die Stadt, die für ihren „langsamen Urbanismus“ bekannt ist (Heft 12), ist für ihren langsamen Verkehr berüchtigt – trotz, oder gerade wegen des Antwerpener Rings, einem vielspurigen Autobahnsystem, das die Innen- von der Außenstadt trennt. Jetzt heizt eine Bürgerinitiative die jahrelangen Debatten über die Zukunft des Rings erneut an
Wie andere europäische Städte hat sich auch Antwerpen in den sechziger Jahren ein Autobahnsystem zur Entlastung der Stadt zugelegt. Das damalige Europäische Straßenbauprogramm hob die Bedeutung des Antwerpener Rings als Verbindung von fünf internationalen und nationalen Straßen hervor. Seit seiner Fertigstellung hat es das Konglomerat aus Stadtautobahnen jedoch nicht vermocht, den lokalen Verkehr und den Durchgangsverkehr zu regeln. Im Gegenteil – der tägliche Verkehrskollaps macht es zum größten Umweltverschmutzer der Region; außerdem durchtrennt der Ring inzwischen die Stadt. Zwei Initiativen – „De Groene Singel“ und „Ringland“ – bemühen sich um eine Konversion dieser Kfz-lastigen Infrastrukturzone in ein grünes Landschaftsband.
Verkehrsinfarkt
Seit Ende des 19. Jahrhunderts der Befestigungsring um Antwerpen überflüssig geworden war, standen die ehemaligen Militärflächen im Fokus immer neuer Planungen, Träume und Spekulationen. Das begann 1910 mit einem Wettbewerb, den Henri Prost mit dem Entwurf eines Prachtboulevards in einer Kette von Parks auf den ehemaligen Wallanlagen gewann. Im Zweiten Weltkrieg wollten die deutschen Besatzer auf den Flächen eine Trasse für Eisen- und Straßenbahnen sowie moderne Straßen durch eine grüne Landschaft bauen. Keiner dieser Pläne aber wurde realisiert. Erst Ende der sechziger Jahre fand die Brache eine neue Bestimmung: den Antwerpener Ring, eine technisierte Landschaft mit allen Arten von Infrastruktur, ein enges Nebeneinander von Eisenbahntrassen, Abwasserleitungen und Klärwerken sowie zwei Autobahnen – eine Ringautobahn im ehemaligen Graben und eine enger geführte Stadtautobahn – und entsprechenden Anschlussstellen.
Schon 1969, zwei Jahre nach der Eröffnung, waren die neuen Autobahnen verstopft. Heute ist die große Ringautobahn mit 260.000 Fahrzeugen pro Tag die meistbefahrene Straße Flanderns. Mit durchschnittlich 77 Stunden Stauzeit im Jahr belegt Antwerpen hinter Brüssel den zweiten Platz auf der Inrix-Rangliste der Verkehrsstaus – weltweit. Als größte Stadt Flanderns mit dem zweitgrößten Hafen Europas zieht Antwerpen Pendler- und Güterverkehr an. 80 Prozent des Güterverkehrs sind Transit. Einen Großteil des Tages leidet die Stadtautobahn quasi an einem chronischen Verkehrsinfarkt.
Dies liegt an ihrer Aufgabe, der sie nicht gerecht werden kann, den nationalen mit dem internationalen Verkehr zu vereinen. Ursprünglich hatte das Europastraßen-Netz von 1950 zwei Ringe vorgesehen: einen inneren für den regionalen Verkehr und einen äußeren, der den Durchgangsverkehr weit außerhalb der Stadt vorbei führt. Der äußere Ring wurde nie gebaut, sodass der innere bis heute beide Aufgaben übernimmt. Auf 17 Kilometern umschließt die bis zu 10-spurige Trasse die Stadt, auf zehn Kilometern flankiert von den vier zusätzlichen Fahrstreifen der Stadtautobahn „Singel“, die dem örtlichen Verkehr und als Zubringer dient. Nahezu alle tausend Meter liegt eine Anschlussstelle oder Kreuzung. Erschwerend kommt hinzu, dass dieses komplexe Autobahnsystem, anders als sein Name vermuten lässt, nie ein geschlossener Ring war. In der ursprünglichen Planungsphase lag diese Verkehrsinfrastruktur an der Peripherie der Stadt in einer noch weitgehend offenen Landschaft. Heute leben in dem etwa 800 Meter breiten Band beiderseits der Stadtautobahn 155.000 Menschen.
Der Ausbau zum Ring: Ein politischer Stau
Aufgrund der Verkehrssituation ist der Antwerpener Ring seit Jahren Gegenstand heftiger politischer Auseinandersetzungen. Seit 1997 will die Regierung Flanderns das sogenannte „Oosterweel“-Szenario verwirklichen, eine Autobahnverbindung zur Vervollständigung der großen Ringautobahn. Bei jedem Schritt dieses Plans stößt sie jedoch auf heftige Widerstände der Bevölkerung. Diese fürchtet, dass Lärm und Luftverschmutzung noch weiter steigen werden und plädiert seit Jahren für eine alternative Trassenführung weiter außerhalb der Stadt. Ein erster Planungsschritt für ein gigantisches Viadukt wurde durch einen Volksentscheid abgeschmettert. Nach Jahren der Debatte verkündete die Regierung im Februar einen Kompromiss: An der Oosterweel-Verbindung wird festgehalten, aber das Viadukt wird durch eine Abfolge von Tunneln ersetzt. Jüngste Planungen lassen jedoch erkennen, dass die „verbesserte“ Ringautobahn erheblich breiter als die heutige werden und dann bis zu 22 Fahrstreifen zählen soll. Auch zwei Abschnitte des größeren Rings außerhalb der Stadt tauchen wieder in den Masterplänen auf. Sie sollen den Ring entlasten.
Die Vervollständigung des Autobahnrings soll ungefähr drei Milliarden Euro kosten und wäre damit eines der teuersten Infrastrukturprojekte Europas. (Die Kosten für die Umsetzung des kompletten Masterplans für Antwerpen werden auf 7,5 Milliarden Euro geschätzt.) Geht es nach den Wünschen der flämischen Landesregierung, wird der erste Spatenstich für die Oosterweel-Verbindung 2016 erfolgen, 2022 soll der Ring um Antwerpen geschlossen sein. Zu diesem Zeitpunkt wird, so die Experten, auch die erweiterte Kapazität kaum das gestiegene Verkehrsaufkommen bewältigen können, dieser neue teure Autobahnabschnitt die Fahrtzeiten also bestenfalls um einige Minuten verkürzen.
De Groene Singel: 22 Hektar Grün für die Stadt
Parallel zu den Debatten um die Oosterweel-Verbindung verfolgt die Stadt einen weiteren Traum in der Welt des Rings: „De Groene Singel“ (wörtlich übersetzt: „Der Grüne Ringgraben“). Die direkt an die Innenstadt anschließende Stadtautobahn, der „Singel“, würde durch den Ausbau der Ringautobahn entlastet. Sie soll zu einer innerörtlichen Straße schrumpfen, die auch Fahrradverkehr, Fußgängern und dem ÖPNV, einschließlich einer neuer Straßenbahnlinie, Raum ließe. 60 Prozent der ehemaligen Autobahn würden zu einer Stadtlandschaft mit Bäumen: 22 Hektar Extra-Grün – ein Geschenk an die Stadt. Von einer Camouflage der Verkehrsinfrastruktur würden die angrenzenden Flächen zu einer attraktiven Parklandschaft, mit Wohnungsbau, Büros, Kultur- und Freizeitangeboten.
Das Konzept des Groene Singel ist im Strukturplan der Stadt von Secchi und Viganò (Bauwelt 12) festgelegt. Ein sogenannter „Bildqualitätsplan“ (Maxwan, Antea, Karres&Brands und Hub) formuliert Richtlinien für die Umsetzung: Pflanzen und Gehölze, Gestaltungskriterien für Straßen, Plätze und Siedlungen. Allerdings ist keiner dieser Pläne rechtsverbindlich. Die Umsetzung baut auf die Überzeugungskraft der Stadt und die Mitarbeit der Firmen entlang des Singels. Die im Haushalt der Stadt für den Groenen Singel eingestellten 900.000 Euro reichen nicht aus, das Gesamtprojekt zu realisieren oder die insgesamt 625 Hektar Freifläche zu bewirtschaften. Die finanziellen Gegebenheiten zwingen die Stadt zur schrittweisen Umsetzung und zur Zusammenarbeit mit dem privaten Sektor.
Um die Stadtkasse nicht zu belasten, werden neu angesiedelte Unternehmen unmittelbar an der Aufforstung beteiligt. Wenn private Entwickler Flächen roden, müssen sie der flämischen Behörde für Natur und Forsten eine Entschädigung leisten. Diese ist verpflichtet, mit den Mitteln eine Ausgleichsfläche innerhalb des Groene Singel anzulegen. Wer in der Nachbarschaft eine Baugenehmigung möchte, muss seine Pläne dem Groene Singel anpassen. Zuletzt mussten zwei Projekte, die Rekonstruktion eines Nachbarschaftsparks und die Erweiterung eines Schulhofes, ihre Pläne überarbeiten.
Ringland: Die Autos unter einem Park verstecken
In jüngster Zeit hat es eine Bürgerinitiative geschafft, den Widerstand gegen die Oosterweel-Verbindung anzukurbeln. Das sogenannte „Ringland“ fordert einen Deckel auf dem bestehenden Autobahnring. Die Initiative bezieht sich dabei auf internationale Vorbilder wie Madrids M30 und Bostons Big Dig. „Ringland“ soll Lärmbelastung und Luftverschmutzung mindern und einen großen Grünraum entstehen lassen, auf dem auch Wohnhäuser und Freizeiteinrichtungen gebaut werden könnten. Das ortsansässige Planungsbüro Stramien hat für drei Bereiche skizziert, wie der innerörtliche vom Durchgangsverkehr getrennt werden kann. Der Entwurf nutzt aus, dass viele Abschnitte des Rings im alten Festungsgraben liegen. Das würde der Stadt teure Erdarbeiten ersparen. Die große Zahl von Anschlussstellen und Kreuzungen machen eine Deckelung des kompletten Rings zu einer schwierigen Angelegenheit.
Mit einer cleveren Medienkampagne und gutem Timing, wenige Wochen vor den Wahlen im Mai, haben die Macher von Ringland eine ungeheure Basisbewegung zustande gebracht. Die Oppositionsparteien scharen sich begierig um die Initiative. Neuerdings bewegt sich auch die flämische Landesregierung auf das Projekt zu. Sie versprach, die Vorschläge nach der Wahl sorgfältig zu prüfen.
Heute sind Groene Singel und Ringland zwei Geschichten, die parallel verlaufen. Beide aber drücken denselben Wunsch für die Zukunft des Antwerpener Ringes aus: ihn von einem der großen Verschmutzer in eine grüne Lunge zu verwandeln, ohne die die Stadt ersticken würde.
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