Bauwelt

Suburban Chicago – Strategien gegen die Zersiedelung

Text: Blankenburg, Tanja, Weimar

Suburban Chicago – Strategien gegen die Zersiedelung

Text: Blankenburg, Tanja, Weimar

Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben sich suburbane Städte vom Hoffnungsträger zum Alptraum entwickelt. Paradebeispiel für das Schreckbild Suburbia waren schon immer die USA. Doch die „suburban nation“ rüstet nach. Drei Beispiele aus Chicago zeigen die Bandbreite des Vorstadtumbaus. In Park Forrest wird die in die Jahre gekommene Shopping Mall zum betreuten Wohnort für die mit ihr gealterte Bevölkerung. The Glen versucht mit Flächenrecycling, Fußgängerfreundlichkeit und der Mischung von Nutzungen und Wohnformen alle bisherigen Fehler zu vermeiden. Prairie Crossing probt das Paradoxon einer ökologischen Suburb.
Im Jahr 1998 erschien ein Buch von G. Scott Thomas mit dem Titel „The United States of Suburbia. How the Suburbs Took Control of America and What They Plan To Do With It“. Dieser Buchtitel, mag er auch überzogen klingen, verweist auf den gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Stellen­wert von Suburbia, der immer noch rasch wachsenden Räume städtischer Agglomerationen. Nach Anfängen im 19. Jahrhundert (siehe Stadtbauwelt 181) setzte nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA eine erste große Suburbanisierungswelle des Wohnens ein. Insbesondere die weiße Mittelschicht verwirk­lichte sich ihren Traum vom frei stehenden Einfamilienhaus in quasi ländlicher Umgebung. Suburbane Gründungen wie Levittown bei New York oder Park Forest bei Chicago machten diesen Traum für breite Bevölkerungsschichten finanzierbar. Den Wohnstätten folgte in den 1960er Jahren der Einzelhandel mit großflächigen, überregionalen Shopping Malls. Ab den 1970er Jahren verlagerten auch immer mehr Unternehmen ihre Sitze in die Randgebiete der Städte, die Folge waren „Office Parks“ für die Büroarbeitsplätze der postindustriellen Gesellschaft. Vor allem an Autobahnkreuzen in der Peripherie der Kernstädte entstand eine suburbane „Edge City“ aus Bürokomplexen und Malls. Obwohl der Sprawl als unansehnlich, ineffizient, umweltschädigend und sozial segregierend angesehen wird, lebt und arbeitet heute die Mehrheit der US-amerikanischen Bevölkerung in Suburbia.

Auch in Europa, wo die Wurzeln der Suburbanisierung im London des 18. Jahrhunderts auszumachen sind, ist eine weiterhin ungebrochene Suburbanisierung zu beobachten, deren Ausmaße allerdings nicht die Dimension der US-amerikanischen Verhältnisse erreichen. Die suburbanen Gürtel der Großstädte haben anteilig mehr als die Hälfte der Arbeitsplätze und mehr als zwei Drittel der Wohnbevölkerung der großen städtischen Agglomerationen Europas aufgesogen. Durch die verstärkte Verlagerung des Einkaufens, des Arbeitens und zunehmend auch der Freizeitgestaltung in die Peripherie der Städte wurden die suburbanen Bereiche immer unabhängiger von den traditionellen Kernstädten, auch wenn ihre städtebaulichen Formen andere sind. Stadtforscher versuchen, diese veränderten Bedingungen und die gewachsene Bedeutung von Suburbia durch Begriffe wie „Zwischenstadt“, „posturbia“, „exurbia“ oder „technoburbs“ zu fassen.

Der Umgang mit dem Sprawl – Beispiel Chicago

Während die Bevölkerung des Raumes Chicago zwischen 1970 und 1990 nur um vier Prozent zunahm, erhöhte sich der Flächenverbrauch für Wohnungsbau im gleichen Zeitraum um 46 Prozent, der für Gewerbe und Industrie sogar um 74 Prozent. Auch die ökonomische Basis der Stadt lag nicht mehr in ihrem Stadtzentrum, dem Loop. Allein zwei Drittel der Unternehmen, die einen Mindestumsatz von 100 Millionen US-Dollar erwirtschafteten, waren an einem suburbanen Standort zu finden.
In den USA existiert – anders als in Europa – eine lange Tradition der Erforschung und Kritik des Sprawl, die sich in den letzten Jahren noch intensiviert hat. In der Region Chicago gibt es eine Reihe von wegweisenden Projekten, die sich mit den verschiedenen Dimensionen des Sprawl auseinandersetzen, etwa mit der Weiterentwicklung älterer Suburbs der Nachkriegszeit, der Verringerung des weiteren Flächenverbrauchs durch Konversion von Brachflächen („Brownfields to Greenfields“ – übersetzt in etwa „Brache statt grüne Wiese“) und der Entwicklung eines neuen Typs von Vororten, die Ausdruck eines sich verstärkenden Umweltbewusstseins in der US-amerikanischen Öffentlichkeit sind.

Park Forest – Umbau einer Shopping Mall zu einem suburbanen Zentrum

Eine wichtige städtebauliche Aufgabe ist die Qualifizierung und Weiterentwicklung der bestehenden suburbanen Siedlungen insbesondere der Nachkriegszeit. Diese Vororte sind inzwischen in die Jahre gekommen, die einstmals sehr homogene Bevölkerungszusammensetzung hat sich verändert. Die Erstbezügler haben längst das Rentenalter erreicht, ihre Kinder haben das Haus verlassen. Andere Bewohner sind an ihre Stelle getreten. Eine Reihe von Projekten in den USA widmet sich der Anpassung dieser Suburbs an die lokalen Bedürfnisse der jetzigen Bewohnerschaft, meist auf Initiative der öffentli­chen Hand. Ursprüngliche Merkmale der Vororte wie ein einseitiges Wohnungsangebot und die Versorgung mit Einzelhandel in Form von Shopping Malls sind nun Gegenstand des Umbaus.

In der Region Chicago gibt es markante Beispiele dieses Ansatzes, so in Downers Grove westlich der Kernstadt und in Park Forest ca. 45 Kilometer südlich des Loop. Park Forest ist ein bekannter Prototyp der bedroom suburbs der Nachkriegsjahre, gebaut für mittlere bis untere Einkommensschichten, insbesondere Kriegsheimkehrer. Die Siedlung besteht hauptsächlich aus Einfamilienhäusern, die sich entlang gewundener Straßen um Schulen, Spielplätze und Parks gruppieren. Im Unterschied beispielsweise zu Levittown, das zur selben Zeit im Großraum von New York entstand, wurde jedoch mindestens ein Viertel der Wohnungen als Gartenapartments zur Miete errichtet, organisiert in niedriger Hofbebauung. Diese Wohnhöfe gruppierten sich um das wahrscheinlich erste suburbane Freiluft-Shopping-Center von damals bahnbrechen­dem Design der Architekten Loebl, Schlossman und Bennett, deren Piazza mit ihrem Uhrenturm an San Marco erinnern soll.

Das Shopping Center von Park Forest war ursprünglich als überörtliche Mall ausgelegt. Den heutigen Ansprüchen an eine „Regional Mall“ konnte es aber nicht mehr gerecht werden. Das ehemalige soziale Herz der Gemeinde, das Schauplatz war von Paraden, Umzügen und politischen Auftritten (in den 1950er Jahren war Nixon hier ein beliebter Gast), verfiel trotz einer Sanierung in den 1980er Jahren weiter. 1995 stand der Komplex fast vollständig leer. Die Kommune kaufte in Ermangelung eines Investors die Mall für 100.000 US-Dollar und beauftragte die Lakota Group mit der Erstellung eines Planes zur Umgestaltung. Ihr Entwurf sah den Abriss einiger Gebäude und die Führung einer Hauptstraße durch die ehemalige Fußgängerzone vor. Entlang dieser „Main Street“ hat sich inzwischen eine Vielfalt von lokalen Angeboten angesiedelt: Kosme­tiksalons, Steuerberater, Secondhand-Geschäfte und kulturelle Institutionen, die zwar nicht viel Mieteinnahmen bringen, aber lokale Identität schaffen. Die neue Ortsmitte ist nicht unbedingt prosperierend, aber sie ist auch nicht tot, so dass die Revitalisierung des Zentrums von Park Forest als gelungen angesehen werden kann.

Auf Flächen des ehemaligen Shopping Center wird heute auch altengerechtes und betreutes Wohnen angeboten. Zwischen 2002 und 2006 entstanden darüber hinaus vor allem am Rande der ehemaligen Mall und auf den dazugehörigen Stellplätzen über 60 neue Townhouses, eine neue Wohnform für Park Forest. Diese verkauften sich sehr gut und belebten die stagnierenden Immobilienpreise.

The Glen – Konversion eines Militärflughafens in ein nahverkehrsorientiertes „Mixed Use Development“

Alle Stadtregionen der USA besitzen ein riesiges Potential von unter- oder ungenutzten Flächen, die einer Umnutzung zugeführt werden könnten, wie es Alan Berger in seinem Buch „Drosscape“ von 2006 nicht nur treffend beschreibt, sondern auch mit faszinierenden Luftbildern belegt. Die Region von Chicago verfügt über immense solche Potentiale, vor allem Industriebrachen im südlichen Teil der Region. Auch vormals militärisch genutzte Bereiche sind klassische Handlungsfelder der Konversion. Auf der ehemaligen Airbase der U.S. Navy in- mitten der suburbanen Gemeinde Glenview, etwa 25 Kilometer nordwestlich von Chicago, wurde zwischen 1998 und 2004 die neue Siedlung „The Glen“ angelegt, die richtungsweisend für einen nachhaltigen suburbanen Städtebau in den USA sein könnte.

Im Auftrag der Stadt Glenview planten Skidmore, Owings & Merill auf einer ca. 445 Hektar großen Fläche eine nahverkehrsorientierte Siedlung mit Nutzungsmischung. Diese ist durch einen eigens eingerichteten Haltepunkt der Regionalbahn (Metra) unmittelbar an das Zentrum von Chicago angebunden. Das Kernstück der Siedlung bildet ein Zentrum mit Einkaufsmöglichkeiten, zahlreichen Cafés und Restaurants. Das The Glen Town Center wurde von Oliver McMillan (San Diego) im Stil einer traditionellen Main Street gestaltet und integriert bauliche Relikte der Airbase. Das Zentrum wird umgeben von mehreren in sich weitgehend homogenen Quartieren. In The Glen ist es von Anfang an gelungen, eine gute Mischung verschiedener Wohnformen zu realisieren und somit den in Suburbia vorherrschenden Haustyp des frei stehenden Einfamilienhauses mit Reihenhäusern, Doppelhäusern und Mehrfamilienhäusern zu ergänzen. Dazu kommen noch Angebote des altengerechten Wohnens. Insgesamt verfügt The Glen über 1800 Wohnungen.

Ein Raster von Straßen, die durch großzügige, von Bäumen gesäumte Fußwege fußgängerfreundlich gestaltet sind, verbindet die Quartiere ohne große Umwege. Ein Park mit einem künstlich angelegten See bildet das Herzstück der Siedlung und ermöglicht Freizeitaktivitäten. In The Glen sind darüber hinaus noch ein Hotel, etliche öffentliche Einrichtungen (Schulen, Museen etc.) sowie zwei Golfplätze entstanden, die die angrenzenden Wohnquartiere und das Zentrum der Siedlung durchschneiden. Die Anbindung der Siedlung an die Stadt Glenview ist allerdings nicht gelungen, die Siedlung bleibt isoliert. Auch die angestrebte soziale Mischung konnte trotz der Vielfalt des Wohnangebots nicht erreicht werden. Gut bis sehr gut Verdienende bleiben letztendlich unter sich.

Prairie Crossing – eine Ökosiedlung oder nur eine sanfte Form der Zersiedelung?

„Prairie Crossing“ liegt in Graylake, Illinois, ca. 72 Kilometer nördlich von Chicago, an der Grenze zweier Metropolregionen. Von dort erreicht man mit dem Auto in einer Stunde auch Milwaukee, Wisconsin. Die Siedlung ist an beide Metropolen sowie an den Flughafen O’Hare durch die Metra angeschlossen. Im Jahre 1986 erwarben acht Anrainer das ehemalige Farmgelände und gründeten die „Prairie Holdings Corporation“. Diese machte sich den Bau einer Siedlung zum Ziel, die mit den natürlichen, geographischen und architekturhis­torischen Gegebenheiten vereinbar sein und ökologischen Prinzipien folgen sollte. Im Einzelnen wurden zehn Prinzi­pien für den Bau und das Leben in der Siedlung festgelegt: Umweltschutz, ein gesunder Lebensstil, Schaffung einer engen Bindung an den Ort und seine Gemeinschaft, eine Mischung verschiedener Einkommensklassen und ethnischer Bevölkerungsgruppen, eine gute und schnelle Anbindung an den öf­fentlichen Nahverkehr und das Autobahnnetz, die Installation eines Ressourcen sparenden Energiesystems, eine lebenslange Möglichkeit auf Bildung und Weiterbildung für die Bewohner, eine hochwertige ästhetische und architektoni­sche Gestaltung sowie, last but not least, die ökonomische Rentabilität.

Nach einem Masterplan der Landschaftsarchitekten William Johnson und Peter Lindsay zusammen mit Skidmore, Owings & Merrill sowie Calthorpe Associates entstand auf dem 274 Hek­tar großen Areal eine Siedlung mit lediglich 359 Häusern anstatt der ursprünglich vorgesehenen 1600 Wohnungen. Neben den frei stehenden Einfamilienhäusern wurden eine Schule, ein Biobauernhof und ein Gemeinschaftszentrum in einer Scheune der ehemaligen Farm eingerichtet. Ein geplantes Zentrum mit verdichtetem Wohnungsbau und Nahversorgungs­angeboten wurde nur in Ansätzen realisiert.

Bei der Bebauung wurde auf eine durchgehend energieeffiziente Bauweise und die Verwendung ökologischer Materialien geachtet. Die architektonische Gestaltung, die Freiraumplanung und die gepflanzte Vegetation sollen das Bild einer naturbelassenen, traditionellen Prärielandschaft hervorrufen und die Verbundenheit mit dem Ort betonen. In dieser Konsequenz ist die Architektur der Siedlung neo-traditionalistisch und lehnt sich an den „Vernacular-Style“ des US-amerikani­schen Mittleren Westens an. Die Preise für ein Einfamilienhaus in Prairie Crossing liegen etwa 33 Prozent über dem ortsüblichen Niveau. 70 Prozent des Geländes wurden dauerhaft als Freiraum für den Biobauernhof, für öffentliche Parks, Wasserflächen und Prärie- oder Marschland vorgehalten. Die lokale Vegetation der Prärie wird zur natürlichen Bewirtschaftung von Regenwasser genutzt.

Prairie Crossing leistet einen wertvollen Beitrag zur Städtebaudiskussion über die Integration von ökologischen Aspek­ten in die Siedlungsplanung und kann damit Anstöße für die öffentliche Debatte um nachhaltigere Lebensstile geben. Durch die hohen Immobilienpreise und die geringe bauliche Dichte ohne wirkliche Arbeitsstätten ist Prairie Crossing aber doch eher eine Variante der Zersiedelung im Sinne einer Enklave für Gutverdiener mit ökologischer Gesinnung im äußersten Suburbanisierungsring.

Sprawl – nicht nur in den USA

Um eine wirkliche Eindämmung und nicht nur punktuelle Bearbeitung der Probleme des Sprawl zu erreichen, ist eine regionale holistische Strategie notwendig. Dies können strategische Pläne leisten, die auf gesamtregionaler Ebene Lösungsansätze für die Steuerung des Wachstums und die Ordnung des Gewachsenen suchen. Der Chicago Metropolis 2020 Plan (s. Seite 64) thematisiert den Sprawl in vielfältiger Weise. Seine zentralen Vorschläge orientieren auf die Steuerung des flächenmäßigen Wachstums der Region. Die meisten damit verbundenen Ansätze in den USA erscheinen uns geläufig, so die Konzentration von baulicher Entwicklung und Dichte an Haltepunkten des öffentlichen schienengebundenen Nahverkehrs. Die Idee der dezentralen Konzentration, wie sie im Konzept der „Intermodal Villages“ von Chicago Metropolis 2020 formuliert ist, findet sich in vielen älteren und neueren strategischen Überlegungen zur Ordnung städtischer Agglomerationen in Europa, beispielsweise in der Form von Entlastungsstädten, wie sie in der Ile-de-France ein gängiges Modell sind. Und doch gibt es bedenkenswerte Verschiebungen. In Europa werden Entlastungsstädte wie La Defense von staatlicher Seite geplant, in den USA entstehen sie durch den Markt in Form von Edge Cities. Beide sollen nun „humanisiert“ werden. In den USA schwärmen die Planer von den europäischen Innenstädten mit ihren kurzen Wegen, ihrer für Fußgänger attraktiven Gestaltung, ihrer Nutzungsmischung und vor allem ihren öffentlichen Räumen. Die gegenwärtigen Anstrengungen versuchen in langwierigen Prozessen, ein solches Modell auf die bestehenden autoorientierten, monofunktional gepräg­ten Edge Cities zu übertragen.

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