Von allem zu viel, von vielem zu wenig?
Dem Faszinosum „Einfach leben“ auf der Spur
Text: Paul, Jochen, München
Von allem zu viel, von vielem zu wenig?
Dem Faszinosum „Einfach leben“ auf der Spur
Text: Paul, Jochen, München
Es mag am griffigen Untertitel – „Von allem zu viel, von vielem zu wenig?“ – gelegen haben, dass zur „Einfach Leben“-Tagung, die die Evangelische Akademie Tutzingen mit dem Deutschen Werkbund organisiert hatte, überdurchschnittlich viel Publikum kam, aber sicher auch an der Aktualität des Themas in Zeiten von Euro-, Finanz- und Schuldenkrise.
Auf die kam Erhard Eppler in seinem Impulsvortrag auch gleich zu sprechen: Seiner Ansicht nach greift die gängige, am Bruttoinlandsprodukt orientierte Definition von Wirtschaftswachstum als etwas per se Erstrebenswertes zu kurz, weil sie erwünschtes nicht von unerwünschtem Wachstum unterscheidet. Das aber sei die zentrale Aufgabe der Politik, der sie seit den 1970er Jahren immer weniger gerecht geworden sei. Damals, so Eppler, habe auch die Verschuldung der öffentlichen Haushalte ihren Anfang genommen, „weil wir die Verringerung der Wachstumsraten nicht hinnehmen wollten, und deshalb schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme aufgelegt haben, ohne die Verschuldung in konjunkturell guten Zeiten wieder zurückzuführen.“ Gleichzeitig habe die Zufriedenheit im Verhältnis zum Wirtschaftswachstum kontinuierlich abgenommen. Die Ideologie des Marktradikalismus habe sich in der Finanzkrise blamiert wie keine andere je zuvor. Trotzdem genieße sie bis heute Popularität – nicht zuletzt deshalb, weil es ihren Befürwortern gelungen sei, materiellen Erfolg mit Leistung gleichzusetzen.
Wie die Konsumwelt unsere Intelligenz ruiniert
Nach der Brandrede des zornigen alten Mannes der Sozialdemokratie folgte die Vermessung des Problemfelds. In seinem Vortrag „Dumme Dinge“ führte der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer aus, wie die Konsumwelt Anstrengung erst dämonisiere und Anstrengung dann durch Dinge ersetze, die ein Komfortversprechen beinhalten – wodurch sie begehrenswert erscheinen. Zugleich riefen diese Dinge aber zu keiner Tätigkeit mehr auf und trügen damit auch nichts zur Weiterentwicklung der menschlichen Intelligenz bei. Für ihn gehört dazu der Bleistiftspitzer, der das Federmesser ersetzt hat, ebenso die Verkehrsregulierung, die an die Stelle des ehemaligen shared space getreten sei. Verstärkt werde diese Entwicklung durch die Digitalisierung, die zu einer dramatisch abnehmenden Reparabilität der Dinge geführt habe – und dazu, dass Komfortverlangen und Austauschbarkeit längst in zwischenmenschliche Beziehungen Einzug gehalten hätten: Phänomene wie mobbing, burnout und stalking ließen sich als abweichende Formen von Beziehungskomfort erklären.
Der Architekt, Stadtplaner und Software-Entwickler Georg Franck fragte, was nachhaltige Stadtqualität ausmacht. Seine These: Dazu brauche es zum einen die Rückbesinnung auf den Städtebau als vermittelnde Disziplin zwischen Architektur und Stadtplanung, zum anderen die Wiederentdeckung der Ensemblefähigkeit von Architektur. Die sei komplett verloren gegangen. Daran knüpfte Christa Reicher von der TU Dortmund an: Für eine nachhaltige städtebauliche Ästhetik brauche es neben Nutzungsmischung und städtischem Grün die Rückkehr zu „humanen“ Raumdimensionen, die Eindämmung der Werbung im öffentlichen Raum und vor allem eine Schule des Sehens und eine aktive Beteiligung der Bürger.
Warum nachhaltige Ästhetik im Automobilbau nicht zu haben sei, erläuterte Lutz Fügener von der Hochschule Pforzheim: Weil Autos als emotionale Produkte vermarktet und auf einem gesättigten Markt platziert werden müssen, sei ihre gestalterische Abnutzung eine Voraussetzung für den Erfolg – sie müssten ästhetisch verschlissen sein, bevor sie überhaupt technisch verbraucht sind. Gefragt sei hier also das genaue Gegenteil von nachhaltigem Design.
Zurück in die Steinzeit?
Schließlich schlug die Stunde der Lösungsansätze. Ruedi Baur und Vera Baur-Kockot wiesen in Abwandlung des Untertitels – „von allem zu viel, für viele zu wenig“ – darauf hin, dass „einfacher leben“ die Industrienationen ungleich stärker betreffe als den Rest der Welt, dass die Umsetzung der 2000-Watt-Gesellschaft nicht die Rückkehr in die Steinzeit, sondern allerhöchstens auf den Stand der 1960er Jahre bedeute. Und dass es bei alldem darauf ankomme, die Veränderung nicht als Verzicht, sondern als Gewinn anzusehen: „Weniger mit mehr Genuss“ – ein mit Verve vorgetragener Vorschlag zur Lösung des Problems „(un)sexiness der Askese
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