Welche Gemeinschaftsräume funktionieren, welche nicht?
Collective Spaces
Text: Forlati, Silvia, Wien
Welche Gemeinschaftsräume funktionieren, welche nicht?
Collective Spaces
Text: Forlati, Silvia, Wien
Es gibt kaum eine Großstadt, die bei den Gemeinschaftsräumen im Geschosswohnungsbau so viel ausprobiert hat wie Wien. Das reicht von den Wäschereien und Bibliotheken des Wiener Gemeindebaus über die Dachschwimmbäder in Harry Glücks Riesenwohnanlage Alt-Erlaa bis zu den jüngsten Erfahrungen mit Themen-Wohnanlagen wie der Bike City. Inzwischen ist die Experimentierfreude einer gewissen Ernüchterung gewichen.
Guise, Nordfrankreich: Ab 1858 entwarf und baute der Self-made-Industrielle Jean-Baptiste Godin hier den Familistère1, eines der ersten Beispiele für privat finanzierten Geschosswohnungsbau mit sozialem Zweck (Heft 27–28.2004). Der Komplex umfasste etwa 240 Wohneinheiten, zu denen eine Reihe von Gemeinschaftseinrichtungen für die Bewohner gehörten: eine Schule und eine Kinderkrippe, ein Schwimmbad und ein Genossenschaftsladen, ein Theater und drei großzügige, von den Zugangsgalerien zu den Wohnungen eingefasste und verglaste Innenhöfe. Die räumliche Nähe zwischen Wohnungen und Gemeinschaftseinrichtungen war entscheidend für Godins Idee von Solidarität und Gemeinschaft. Das gemeinschaftliche Konzept schloss auch ein entsprechendes Modell der Eigentumsverhältnisse mit ein: Die Wohnanlage mitsamt der angrenzenden Fabrikgebäude war Genossenschaftseigentum. Dieser Aspekt des Kollektivs – also das gemeinsame Eigentum und die gemeinschaftliche Nutzung der für alle bereitgestellten Flächen – sollte zum Raum für gesellschaftlichen Fortschritt werden.
Das Modellprojekt bestand bis 1968. Mit dem Verkauf der Fabrikanlagen nahm der Verfall seinen Anfang. Da die Wohnungsgenossenschaft nicht mehr in der Lage war, die Unterhaltskosten aufzubringen, wurden die kollektiven Einrichtungen schließlich Eigentum der Stadt. Das endgültige Aus für Godins Konzept kam mit der von der französischen Regierung „von oben“ beschlossenen Umwandlung von Teilen des Ensembles in ein Museum. Es wurde 2012 fertiggestellt.
Wien, 1998: Ein beeindruckendes Beispiel für eine ganz ähnliche Art gemeinschaftlicher Einrichtung ist die Wiener Sargfabrik. Das zwischen 1996 und 1998 von einem Verein errichtete Projekt verdeutlicht, wieviel mehr sich erreichen lässt, wenn man die Einschränkungen der ausschließlich individuellen Wohnform überwindet und der kollektiven Dimension eine Leitfunktion zuspricht: Die Grenzen zwischen Stadt und Gebäude, Privatsphäre und Gemeinschaft, individueller und gemeinschaftlich geteilter Nutzung werden weniger trennscharf. Allerdings ist in Wien, im Vergleich zum Familistère, der utopische Gedanke in den Hintergrund gerückt. Es gibt keine Produktionsanlagen, und der Maßstab des Projektes insgesamt ist deutlich kleiner. Es ist ein Teil der Stadt, keine Stadt für sich. Die Gemeinschaftseinrichtungen stehen der Nachbarschaft (und auch der Stadt) offen. So wird das Schwimmbad sowohl von den Anwohnern privat als auch für Babyschwimmen und andere öffentliche Kursangebote genutzt, der Theatersaal dient an den Vormittagen für Aktivitäten mit Kindern, abends finden hier Konzerte statt. Inklusion auf allen Ebenen ist das Motto des Projektes; so sind einige Wohnungen für Immigranten reserviert, die noch auf ihre Aufenthaltsgenehmigung warten.
Handelt es sich um außergewöhnliche Einzelbeispiele, oder findet sich hier ein Hinweis darauf, dass sich über den kollektiven Aspekt ein qualitativ deutlich hochwertigeres Wohnumfeld schaffen lässt – ganz im Sinne von Godins ursprünglicher Vision? Ist die Sargfabrik Ausnahmefall oder Prototyp für eine Erneuerung? Sollten kollektive Wohnformen wieder in den Vordergrund rücken, um für Haushalte unter einem Dach (und darüber hinaus) den notwendigen Zusammenhalt und eine kommunikative Atmosphäre zu schaffen?
Unter Architekten und Planern herrscht unausgesprochener Konsens darüber, dass eine stärker betonte kollektive Dimension und die Einbettung von Räumen, in denen Kommunikation stattfinden kann, essentielle Komponenten für hochwertiges Wohnen sind. Auf der anderen Seite gilt es als „schlecht“, wenn den privaten Bereichen zuviel Fläche eingeräumt wird. Doch was ist der Gewinn bei einem gemeinschaftlich nutzbaren Pool – insbesondere wenn Angebotsformen wie die Sargfabrik oder andere, von den Nutzern verwaltete, partizipative Projekte nur eine Nische besetzen und sich mehr und mehr privatisierte, marktorientierte Wohnformen durchsetzen, bei denen gemeinsame Interessen und eine gemeinsame Basis nicht mehr unbedingt Teile der Gleichung sind und sich jeder Quadratzentimeter rechnen muss? Stellen gemeinsam genutzte Flächen eine echte Notwendigkeit für die Bewohner dar oder sind Architekten und Planer nur allzu romantisch?
Spezialisierung der Angebote
Der Geschosswohnungsbau ist in den letzten Jahren zu einem diversifizierten Produkt avanciert, das auf ein Spektrum zunehmend unterschiedlicher Erwartungen reagiert. Bei der Erfassung innovativer Trends zeigt sich, dass Zuwächse im privaten Wohnungsbau an Entscheidungen für sehr spezifische Produkte, etwa Wohnformen für besondere Altersgruppen oder mit einem besonderen Thema, geknüpft werden. Wenn es also darum geht, Funktion und Potenzial gemeinschaftlich genutzter Räume im Geschosswohnungsbau zu verstehen und sie mit den zunehmend diversifizierten Erwartungen der Nutzer in Bezug zu setzen, ist eine vergleichbar detaillierte Analyse unumgänglich. Anstatt gemeinschaftlich genutzte Flächen absolut zu betrachten, sollen in diesem Beitrag die Formen von kollektiver Nutzung mit der spezifischen Art von Wohnen, an die sie gekoppelt sind, in Zusammenhang gesetzt werden: Kollektives Wohnen ist nicht in jedem Fall gleich kollektives Wohnen.
Forschungsfeld Wiener Wohnbau
Wien hat nicht nur mit der Sargfabrik ein interessantes Forschungsfeld zu bieten. Die vielen Projekte im Rahmen des geförderten Wohnungsbaus der letzten Jahre fokussieren mittlerweile deutlich auf kollektive und gemeinsam genutzte Flächen. Um an die relativ großzügig bemessenen Fördergelder des Wiener Senats für Einzelprojekte heranzukommen, gingen sowohl Wohnungsbaugenossenschaften als auch private Investoren zunehmend auf Abstand zum klassischen Modell einer Bereitstellung von gemeinschaftlichen Flächen im „Standardformat“. Sowohl Fördergelder als auch – wohl der entscheidende Faktor – Grundstücke im Besitz der Stadt Wien werden für ein spezifisches Bauprojekt im Zuge eines Entwurfs- und Bauwettbewerbes vergeben, dem sogenannten Bauträgerwettbewerb. Für die von der Stadt propagierte Auffassung von Qualität spielt der kollektive Aspekt inzwischen eine Schlüsselrolle, neben der Qualität der individuellen Wohnungen und der Frage, wieviel Mieteinnahmen sich auf den Flächen erzielen lassen.
Diese Politik der Stadt gab den Anstoß für Architekten und an Fördergeldern interessierte Investoren, mit unterschiedlichen Ansätzen in verschiedenen Maßstäben zu experimentieren. Die erarbeiteten Konzepte präsentieren großzügige halböffentliche Erschließungsflächen, ergänzt durch Optionen wie Schwimmbecken, Saunen, Gemeinschafts-Waschküchen. Hinzu kommen gemeinschaftlich genutzte Flächen der Anwohner im Innen- wie im Außenbereich, wobei die privaten Gärten und Terrassen inzwischen eher klein bemessen werden, um kollektive Freiflächen so großzügig wie möglich bauen zu können.
Projekte wie Helmut Wimmers „Gestapelte Kleingartensiedlung“ von 2002 wurden vor diesem Hintergrund erst möglich. Diese Siedlung erkundet das Potenzial von gemeinschaftlichen Erschließungsflächen und deren Grenzen als Grund-Voraussetzung für kollektives Wohnen. Realisiert wurde ein System aus Wohnungen, individuellen Terrassen („vertikalen Gärten“) und Gemeinschaftsflächen. Diese sind von parzellierten Schrebergärten inspiriert und wurden in ein Setting aus gestapelten Gemeinschaftswohnungen eingepasst. Das Ensemble liegt an einer Verkehrsachse, zu der keine Wohnräume gelegt werden konnten; dementsprechend basiert der Entwurf auf fünf von der Straße abgewandten „Fingern“ für die Wohnungen. Ein verglaster Gebäudeteil sorgt für Lüftung und Schalldämmung zur Straße hin. Jede Wohnung öffnet sich zu einem Innenhof und wird über private Terrassen erschlossen, die auf allen Geschossebenen die Zwischenräume der offenen Erschließung überbrücken. Der Grundgedanke basiert auf flexiblen und durchlässigen Grenzen zwischen Zirkulationsflächen, individuellen Gärten und den öffentlichen Bereichen der Anlage, um damit sowohl die einzelne Wohnung als auch den gemeinschaftlich genutzten Raum aufzuwerten. Mediterranes, offenes Wohnen lautete das Motto für das Projekt.
Nutzerinterviews: Was funktioniert, was nicht?
Wie bewährt sich das in der Praxis? Eine Reihe von Interviews mit den Anwohnern, durchgeführt von Studenten des Seminars „Wohnen im gesellschaftlichen Wandel“ (Abteilung Wohnbau und Entwurf, TU Wien) ergab eine sehr unterschiedliche Situation für die Zwischengeschosse bzw. das Obergeschoss. Unter dem Dach scheint die Idee des Architekten von einer kleinen Gemeinschaft aufzugehen. Die Bewohner einigten sich darauf, dass bei geöffneter Terrassentür Besucher aus der Dachgeschoss-Gemeinschaft auch im Inneren willkommen sind. Die Terrassen fungieren so problemlos als Orte für spontane Kommunikation und gemeinsame Aktivitäten wie Grillen, wobei sich solche Treffen häufig auch in die Wohnungen hinein verlagern. Dank der gemeinsam getroffenen Vereinbarung können die Grenzen zwischen privat und kollektiv flexibel gehandhabt werden. In den darunter liegenden Geschossen stößt die vorgeschlagene Typologie auf Schwierigkeiten. Hier treffen eine größere Nutzungsdichte, ein stärkerer Grad von Einsichtnahme und die direktere Anbindung von Wohnung und Gemeinschaftsflächen auf eine höhere Zahl an Nachbarn mit unterschiedlichen Gewohnheiten und Erwartungen (kinderlose Mieter, Familien mit Kindern oder mit unterschiedlichen kulturellem Hintergrund). Die Interviews machen deutlich, dass hier die spontane und unvoreingenommene Kommunikation nicht leicht fällt. Die meisten Bewohner möchten sich stärker von ihren Nachbarn abgrenzen, besonders wegen der Lärmbelastung. Man nutzt die Terrassen eher als Abstellflächen – die Offenheit der Grundrisse zwischen der Wohnküche und den individuellen Außenbereichen bzw. den Gemeinschaftsflächen wird nicht gelebt.
Das Beispiel verdeutlicht, welch entscheidende Rolle den räumlichen Qualitäten an sich zukommt, sollen kollektive Räume einen Beitrag zum Austausch zwischen den einzelnen Haushalten leisten. Und es zeigt noch etwas anderes: Die Qualität der daran anschließenden privaten Räume ist ebenso wichtig. Nur dort, wo sie vor starker Einsichtnahme geschützt sind und zum Beispiel als privater Gartenbereich wirklich genutzt werden, können die „vertikalen Gärten“ als effiziente Puffer zwischen privatem und kollektivem Raum funktionieren und beide Bereiche qualitativ ergänzen.
Gemeinschaftskonzepte immer erklären
Es waren die Nutzer, die in den Interviews darauf hinwiesen, dass es für die intendierte Atmosphäre einer Art Schrebergarten-Gemeinschaft notwendig sei, den Bewohnern das Konzept der Architekten gleich beim Einzug zu erklären und dabei auf ähnliche Interessen zu achten. Beispielsweise ist es wichtig, Familien mit Kindern bzw. mit einem gemeinsamen kulturellen Hintergrund zusammenzubringen. Auch regelmäßige Hausversammlungen können den konstruktiven Austausch der Mieter untereinander unterstützen.
Es liegt auf der Hand, dass die nur begrenzten finanziellen Mittel, über die die meisten Wohnungsbauprojekte verfügen, und der Druck, die vermietbaren oder verkäuflichen Flächen zu maximieren, die Anlage solch qualitativ hochwertiger Räume erschwert. Gewöhnlich werden diese Flächen rasch geopfert – entweder sind sie gar nicht erst eingeplant, oder sie fallen im Laufe der Planungen weg, wenn Einsparungen an den Baukosten fällig werden.
Das Potenzial eines radikal alternativen Ansatzes in der Verteilung von Ressourcen zugunsten kollektiver Flächen wird an einem anderen Wiener Projekt deutlich. Die 2008 fertiggestellte „Bike City“-Wohnanlage mit 99 Wohnungen entstand nach einem Entwurf des Büros königlarch architekten in relativ zentraler Wiener Innenstadtlage. Dieses Pilotprojekt nutzt die Möglichkeit, die Anzahl der vorgeschriebenen KFZ-Stellplätze um die Hälfte zu reduzieren; nur 56 Parkplätze wurden für die 99 Wohneinheiten vorgesehen, die von Stellplätzen für 330 Fahrräder ergänzt werden. Die eingesparten Mittel flossen in gemeinschaftlich genutzte Flächen. Im Erdgeschoss entstanden ein Jugendraum, ein Kinderspielraum und ein Gemeinschaftsraum mit Küche und eigener Toilette. Alle kollektiven Flächen öffnen sich auf den gemeinschaftlichen Hofgarten und sind untereinander durch eine Glaswand mit Flügeltüren verbunden. Darüber hinaus fanden im Erdgeschoss eine Waschküche, eine Sauna, ein Fitnessstudio und ein abschließbarer Raum zum Abstellen von Fahrrädern Platz. Da im Erdgeschoss keine Wohnungen liegen, fungiert der gesamte Hof als leicht zugängliche gemeinschaftliche Fläche, die sich problemlos nutzen lässt, ohne das Risiko, die Nachbarn zu stören.
Bike City heißt das Projekt wegen seiner besonderen Infrastruktur für Radfahrer. Dazu gehören Aufzüge mit größerer Grundfläche und die Möglichkeit, die Räder direkt auf der Etage in Nischen neben der Wohnungstür einzustellen. Interessant ist die Frage, welche Angebote und Qualitäten für den Erfolg des Ensembles wichtiger gewesen sind: das Thema Fahrrad oder die erhöhte Wohnqualität, die sich aus dem finanziellen Spielraum ergab.
Die Befragungen im Rahmen des Seminars zeigten eine hohe Zufriedenheit der Nutzer, dazu überdurchschnittlich rege soziale Interaktion. Die Bewohner gaben als Gründe ihrer Entscheidung für den Einzug in erster Linie die gute Lage von Bike City an: relative Innenstadtnähe, hervorragende Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr, ein weitläufiger, neu angelegter Park in unmittelbarer Nachbarschaft. Dazu kamen Qualität, Größe und Grundrisse der Wohnungen: Meist handelt es sich um durchgesteckte Maisonette-Wohnungen mit einer Loggia. Interessanterweise nannte keiner der Interviewten die Gemeinschaftsräume oder das Fahrrad-Thema als vordringlichen Trumpf. Den kollektiven Flächen wiesen fast ausschließlich Nutzer mit kleinen Kindern eine relevante Rolle für die positive Einschätzung des Gebäudes zu. Zugleich zeigen die Untersuchungsergebnisse, dass sich – anders als in der Gestapelten Kleingartensiedlung von Helmut Wimmer – in der Bike City die Nutzer selbst organisierten, um mit dem Bauträger bzw. der Hausverwaltung zu verhandeln. So konnten sie die Art und Weise beeinflussen, wie die kollektiven Räume genutzt werden und außerdem dazu beitragen, ein von Anfang an geplantes Nutzungskonzept auch wirklich umzusetzen: Es ist dem Engagement der Mieter zu verdanken, dass die Nischen entlang der Zugangsflure zum Abstellen der Räder realisiert wurden. Der Eigentümmer hatte sich aufgrund von Sicherheitsbedenken anfangs dagegen ausgesprochen. In gleicher Weise sorgte die Hausgemeinschaft für einen ungehinderten Zugang zu den Gemeinschaftsräumen, die sich alle mit dem eigenen Wohnungs- und Gebäudeschlüssel öffnen lassen. In den meisten Wiener Wohnbauten ist es sonst üblich, einen gesonderten Schlüssel besorgen zu müssen. Solche „Kleinigkeiten“ tragen dazu bei, dass die Gemeinschaftsflächen auch für spontane Treffen genutzt werden können; sie erleichtern auch regelmäßige Veranstaltungen, wie etwa von den Bewohnern organisierte Selbsthilfekurse oder Aktivitäten mit Kindern, die per Aushang angekündigt werden.
Manche Nutzer schätzen zwar die Wohnqualität des Gebäudes, sind aber an der nachbarlichen Gemeinschaft oder einer Nutzung der Gemeinschaftsräume nicht interessiert. Andere haben im Haus neue Freunde gefunden und wissen dies auch zu schätzen. Alles in allem entsteht der Eindruck, dass in diesem Ensemble ein besonderer Gemeinschaftssinn herrscht – und das ohne eine Vorauswahl der Mieter. Die Wohnungen wurden über die normale Warteliste für öffentlich geförderten Wohnraum des Wohnservice Wien vergeben. Andererseits scheint das Projekt über sein besonderes Angebot eben auch Nutzer mit ähnlichem Hintergrund angezogen zu haben, darunter solche die gewillt sind, die Initiative zu ergreifen und Zeit zu investieren, um an einer gut funktionierenden Nachbarschaft mitzuwirken.
Dennoch profitieren nicht nur Familien mit Kindern von hochwertigen Gemeinschaftsflächen. Die Wiener Architektin und Gender-Forscherin Sabine Pollak untersuchte die besonderen Wohnbedürfnisse von Frauen und entwickelte in der Folge in Zusammenarbeit mit einer Gruppe ganz unterschiedlicher, interessierter Frauen das Gemeinschaftsprojekt ro*sa. 2009 wurde die Wohnanlage ro*sa Donaustadt nach einem Entwurf von Koeb&Pollak Architekten auf einem eher schmalen, langgestreckten Grundstück im 22.Bezirk jenseits der Donau fertiggestellt. Im Zentrum von Pollaks Untersuchungen steht der aus Sicht der Frauen hohe Stellenwert von kollektiven Wohnformen, bei denen gemeinschaftlich genutzte Flächen und daraus entstehende Synergien in den Vordergrund rücken. Folgerichtig schlägt der Entwurf eine großzügige, drei Meter breite Erschließungsfläche vor, über die vierzig Wohnungen auf vier Hauptgeschossen miteinander verbunden sind. Konzipiert ist die zentrale Erschließung als multifunktionale Gemeinschaftsfläche – und sie funktioniert auch in der Praxis so, wovon die Sofas, die Spielecken für die zahlreichen Kinder im Gebäude und die Pflanzkästen zeugen. Auf allen Ebenen des Gebäudes finden sich zusätzliche kollektive Einrichtungen: Im Kellergeschoss ist eine Werkstatt/Materiallager eingerichtet, auf der Erdgeschossebene ein großzügiger Gemeinschaftsraum, der auch Nutzern von außerhalb offen steht und auf die Gemeinschaftsterrasse hinausgeht. Im ersten Obergeschoss wurde eine Bibliothek eingerichtet, die vom Trägerprojekt für Versammlungen und Veranstaltungen genutzt wird. Im Dachgeschoss haben sowohl Waschküche als auch Sauna direkten Zugang zur Dachterrasse. Die Interviews zeigen, dass in diesem Projekt die Grenze zwischen individuell und kollektiv viel flexibler und offener gehandhabt wird, als in den beiden anderen analysierten Beispielen. Die Bewohner lassen ihre Türen zum gemeinsamen zentralen Flur häufig offen. Man betrachtet die kollektiven Räume einschließlich der zentralen Erschließungsachse als Erweiterung der eigenen Wohnung: Hier findet Kommunikation statt, man kocht oder isst zusammen, hier können die Kinder spielen, werden Feste gefeiert oder Yogastunden abgehalten.
Bauherr war ein Verein, in dem sich die künftigen Bewohnerinnen mit einem professionellen Bauträger zusammengeschlossen hatten. Zwei Drittel der Mietverträge ging an Mitglieder des Frauenwohnprojekts, das restliche Drittel an „normale“ Nutzer, darunter auch Männer. Dies ist natürlich keine einfache Situation. Die Interviewten berichten von einer gut funktionierenden Gemeinschaft, in der Nachbarn einander helfen und Zeit miteinander verbringen – wenn auch in etwas geringerem Maß als ursprünglich erwartet. Gemeinschaft braucht Zeit, und die Einigung auf gemeinsame Entscheidungen kann auch mühsam werden. Allerdings entstand auch der Eindruck, dass die „normalen Mieter“, also die Bewohner jenes Drittels, das nicht Teil des Trägerprojektes ist, de facto als unbeteiligte Minderheit betrachtet werden. Zugleich betonten alle befragten Bewohnerinnen – ausnahmslos Mitglieder des Trägerprojektes – wie sehr die Vorzüge des Gebäudes zur Lebensqualität beitragen.
Nach außen öffnen
Welches Resümee lässt sich ziehen? Während der Familistère und die Sargfabrik hinsichtlich der gebotenen Vielfalt und Qualität der kollektiven Flächen Ausnahmeerscheinungen bleiben, zeigen die Untersuchung, dass auch für die Attraktivität von Wohnbauten nach eher gängigem Standard gemeinschaftlich nutzbare Flächen eine wichtige Rolle spielen. Diese Rolle hat zahlreiche Facetten, die es zu analysieren gilt, will man entwerferische Konzepte, die auch in der Praxis funktionieren. Nicht jeder legt Wert auf kollektive Räume. Sie sollten deshalb eher als offenes Angebot konzipiert werden. Das bedeutet nicht, sie auf ein Minimum zu beschränken: Solange das Angebot an gemeinschaftlichen Flächen zum Nutzungskontext passt, für den die Wohnanlage konzipiert wurde, bilden diese Räume einen wichtigen Bestandteil bei der individuellen Lebensgestaltung – dies gilt zumindest für den größten Teil der Bewohner.
Kinderbetreuung, Informationsaustausch, Freundschaften schließen, Lernen und alle Arten von persönlicher Unterstützung sind zentrale Elemente des Bewohneralltags, die in solchen Räumen an Bedeutung gewinnen. Stehen diese Räume nicht nur den Bewohnern zur Verfügung, sondern öffnen sich über das eigentliche Gebäude hinaus, werden sie zu einem Beitrag einer gelingenden Stadt.
Trotz der beschränkten Zahl der untersuchten Beispiele – die zudem alle aus dem Wiener Kontext kommen – lassen sich anhand der gemachten Beobachtungen einige Hypothesen für das Entwerfen von kollektiven Wohnformen entwickeln. Im Zentrum dieser Thesen steht der Gedanke, dass kollektive Flächen nicht unabhängig vom jeweiligen Kontext einen „Wert an sich“ darstellen: Das Potenzial der Gemeinschaftsräume und die möglichen Funktionen sind eng an die Art der Nutzer und den jeweiligen Haustypus gekoppelt. Nicht zu vergessen die räumlichen Qualitäten der Architektur, die zu den entscheidenden Faktoren für den Erfolg in der Praxis gezählt werden müssen.
1. Probleme minimierter Flächen
Sind die gemeinschaftlichen Flächen auf ein notwendiges Minimum reduziert und/oder wenig ansprechend gestaltet, verhindern sie meist die Kommunikation und Interaktion der Bewohner. Mag ein derartiger Austausch nun erwünscht sein oder nicht (nicht jeder ist gleichermaßen an einem Austausch mit den Nachbarn interessiert), wird das Fehlen einer kommunikativen Basis zum Problem, sobald Konflikte entstehen. Auch der offene Zugang zu Spiel- und/oder Gemeinschaftsräumen gestaltet sich dann als schwierig – wo es keinen Gemeinschaftssinn gibt, fehlt auch die Verantwortung, um solche Räume einzurichten, sie in Ordnung zu halten, respektive für die Unterhaltskosten aufzukommen. Die Nutzung beschränkt sich dann für gewöhnlich auf spezifische, vorab definierte Situationen wie etwa Geburtstagsfeiern, wofür ein Schlüssel – und die damit verbundene Verantwortung – an einen bestimmten Nutzer für einen bestimmten Zeitraum übergeben wird. Die Gemeinschaftsräume sind in diesem Fall nicht mehr als eine temporäre Erweiterung des privaten Wohnraums und haben keine nennenswerte Auswirkungen auf die Aktivierung der Gemeinschaft.
2. Das Kollektiv stärken
Großzügig gestaltete Erschließungsflächen mit natürlicher Belichtung sowie sinnvoll angelegte Gemeinschaftsräume mit Zugang zu gemeinsam genutzten Außenräumen sind potenziell wichtige Elemente im Geschosswohnungsbau. Allerdings gehen die Planer immer noch wie selbstverständlich davon aus, dass damit automatisch die Kommunikation zwischen den Bewohnern „angekurbelt“ wird. Das ist aber nicht notwendigerweise der Fall: In Genossenschaftsprojekten oder Vorhaben, in denen sich Bewohner mit einem ähnlichen sozialen Hintergrund zusammenfinden (etwa in Wohnprojekten mit einer bestimmten thematischen Zielsetzung), ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass solche Flächen ihrer Intention gemäß genutzt werden.
Damit die Gemeinschaftsräume auch in eher herkömmlichen Kontexten – wenn also die künftigen Nachbarn nicht von vornherein übereinstimmen und einen gemeinsamen Hintergrund und/oder Erwartungen teilen – zu Katalysatoren für eine funktionierende Hausgemeinschaft werden können, spielen andere Faktoren eine Rolle. Das Anliegen der Gemeinschaftsräume sollte den Bewohnern von Anfang an explizit kommuniziert werden; gegebenenfalls braucht man professionelle Unterstützung, um eine konstruktive Beziehung zwischen den neuen Nachbarn anzubahnen. Einfache Ideen, etwa die Anregung, Räume gemeinsam einzurichten, sind meist ein guter Anreiz, um für gemeinschaftlich genutzte Räume Verantwortung zu entwickeln.
3. Pufferzonen
Das Nebeneinander von gemeinschaftlich genutzten Räumen und privatem Wohnraum bereitet häufig Probleme, was auch mit der Frage zusammenhängt, wie solche räumlichen Grenzen im Einklang mit den Erwartungen der Nutzer definiert werden. Offenheit und visuelle wie akustische Durchlässigkeit zwischen privaten und Gemeinschaftsräumen werden dann als besonders schwierig erlebt, wenn das Gefühl von Gemeinschaft in der Wohnanlage fehlt. Qualitativ hochwertige Übergangszonen zwischen individuellen und kollektiven Flächen – dies zeigen die Beispiele der vertikalen Gärten in der „Gestapelten Kleingartensiedlung“ oder die Fahrrad-Nischen in der Bike City – tragen dazu bei, solche Konflikte zu minimieren. Wichtig wird dies vor allem bei Wohnanlagen, in denen Bewohner ohne „Vorauswahl“ aufeinandertreffen und sich die Nutzer eine klare Abgrenzung des Privatbereichs wünschen.
4. Optionen
Eine neue Entwicklung, die derzeit in Wien zu beobachten ist, umfasst kollektive Serviceangebote, die von den Bewohnern je nach Bedarf bezahlt werden. Dabei werden die Unterhaltskosten von teuren Facilities – wie etwa einem Schwimmbad oder Sportflächen – unter denjenigen geteilt, die dieses Angebot tatsächlich nutzen möchten, anstatt sie auf die gesamte Hausgemeinschaft umzulegen. Dieser Ansatz ist gerade dann erfolgversprechend, wenn solche Angebote für mehrere, nebeneinander liegende Gebäude gelten, sodass die Anzahl potenzieller Nutzer relativ groß ist: Kollektive Flächen werden zu einer Option, für man sich entscheidet.
5. Urbane Anknüpfungspunkte
In der Praxis erprobte Beispiele, wie kollektive Einrichtungen auch für Nutze, die nicht im Gebäude wohnen, geöffnet werden können, bieten Anstöße für die Entwicklung neuer Konzepte. Das Beispiel der seit fünfzehn Jahren bestehenden Sargfabrik zeigt, wie diese Art kollektiver öffentlicher oder halböffentlicher Räume zum Impuls und zum kulturellen Fokus für die gesamte Nachbarschaft werden kann.
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