Wer plant da eigentlich für wen?
Neue Haymat
Text: Terkessidis, Mark, Köln/Berlin
Wer plant da eigentlich für wen?
Neue Haymat
Text: Terkessidis, Mark, Köln/Berlin
Seit 2006 erfasst das statistische Bundesamt Einwohner mit „Migrationshintergrund“. Eine gigantische Datenmenge liegt vor, doch was folgt daraus für Architekten, Stadtplaner und Verwaltungen? Der politisch korrekte Ansatz kommt aus dem englischsprachigen Raum und heißt „diversity“. Auch in Deutschland haben erste Kommunen ein Diversitätskonzept für die Stadtentwicklung.
In einem Seminar mit den Volontären einer großen Landesrundfunkanstalt ging es kürzlich um die Frage, wen sich die Teilnehmer eigentlich vorstellen, wenn sie Programm machen. Keiner in der Runde hatte einen Migrationshintergrund. Ein junger Journalist meinte, er stelle sich immer seine Mutter vor – die sei eben genau so eine vielseitig interessierte Nutzerin, auf die Rundfunk gewöhnlich abziele. Für diese naive Antwort konnte man dankbar sein, denn damit stürzte das Seminar sogleich mitten ins Problem. Wenn der unbewusste Empfänger der Nachrichten letztlich ein Familienmitglied ist: Was bedeutet es dann für die Programmgestaltung, wenn in den Städten des betreffenden Bundeslandes unterdessen ein Drittel der Bewohner einen Migrationshintergrund haben? Diese Personen gehören eben nicht schon immer zur „Familie“.
Die gleiche Frage stellt sich heute auch für die Stadtplanung: Wer plant da eigentlich für wen? Tatsächlich ist diese Frage in Deutschland noch nicht mit allen Konsequenzen ins Bewusstsein vorgedrungen. „Wenn wir die Karl-Marx-Straße umbauen, wie wir das gerade tun, mit breiteren Bürgersteigen und Fahrradwegen“, stellte der Bürgermeister von Berlin-Neukölln Heinz Buschkowsky kürzlich auf einer Podiumsdiskussion kategorisch fest, „dann nicht, weil da Türken und Araber wohnen. Das hat mit der ethnischen Zusammensetzung der Anwohnerschaft nichts zu tun.“ Aber warum eigentlich nicht? Untersuchungen zeigen, dass die Bevölkerung türkischer Herkunft oftmals ein anderes Verhältnis zum urbanen Raum hat. Es gibt zumeist deutlich weniger Vorbehalte gegen Hochhaussiedlungen und ein größeres Bedürfnis nach geschütztem, gemeinsam genutzten Raum. Zudem werden öffentliche Freiflächen intensiver genutzt – das Grillen im Park und die Stühle auf dem Bürgersteig sind nicht umsonst Dauerbrenner in der Diskussion um die Folgen der Einwanderungsgesellschaft.
Aus den USA etwa ist bekannt, dass asiatische oder hispanische Amerikaner keine Probleme mit einer sehr hohen Wohndichte haben. Erst wenn diese Bevölkerungsgruppen sehr gut verdienen (etwa 80 Prozent über dem Durchschnittseinkommen), entwickeln sie die Platzbedürfnisse, die kaukasische oder afrikanische Amerikaner bereits mit niedrigerem Einkommen haben. Ein Phänomen, das offenbar etwas mit dem kulturellen Hintergrund zu tun hat. In den USA, Kanada oder auch Großbritannien ist es zudem gang und gäbe, vor allem in Fragen des „urban design“ einen Bezug zur „community“ herzustellen. Man geht davon aus, dass es für die Gestaltung öffentlicher Gebäude und Räume einen Unterschied macht, ob viele afrikanische oder mexikanische Einwohner im Viertel leben – es gibt eben einen anderen Referenzrahmen, was Geschichte, Lebensverhältnisse und Symbolbezüge betrifft.
Komplexe post-migrantische Identitäten
Ähnliches ließ sich auch im kontinentalen Europa beobachten, doch gewöhnlich in Bezug auf marginalisierte Gruppen. Die Banlieues um Paris etwa waren ursprünglich als Wohnstädte für die lokale Arbeiterschicht konzipiert. Daher greifen die Straßennamen und die Bilder an Gebäuden häufig auf die Geschichte der Arbeiterbewegung zurück – so wollte sich das modernistische Projekt wohlwollend mit den vergangenen Kämpfen verknüpfen. Allerdings wurden die Wohnungen der Vorstädte schon bald von Immigranten, etwa aus dem Maghreb, bezogen, die keinerlei Verbindung zu den Namen und Bildern herstellen konnten. Hier zeigen sich die Schwierigkeiten mit den Verschiedenheiten: Welche Differenzen werden überhaupt wahrgenommen, wer legt die Referenzrahmen fest, wie lange hält die Zusammensetzung einer Bevölkerung? Wenn die Planung am grünen Tisch stattfindet und die Akteure fast durchweg aus der einheimischen Mittelschicht stammen, dann können die Ergebnisse schnell paternalistisch, oberflächlich oder klischeehaft geraten.
Das Beharren auf einer „farbenblinden“ Perspektive à la Buschkowsky jedoch kann diese Schwierigkeiten keineswegs überwinden – über die Vielheit der Lebensentwürfe gerade im urbanen Raum besteht kein Zweifel. Bereits in den fünfziger Jahren haben Gruppen wie Team X das abstrahierte Menschenbild des Modernismus kritisiert. Shadrach Woods betonte 1975, dass jede Planung, welche die Vielfalt des „Man in the Street“ nicht berücksichtige, unausweichlich repressiv wirke.
In den letzten Jahrzehnten ist „diversity“ in der englischsprachigen Planerwelt zu einem trendigen Codewort geworden – ohne dass die Stadtplaner dem Anspruch immer gerecht wurden. „Diversity“ hat durchaus unterschiedliche Bedeutungen – zumeist aber bezieht sich der Begriff auf die Unterschiede hinsichtlich Geschlecht, Herkunft, Alter und sexueller Orientierung. Im deutschen Baugesetzbuch hielt 2004 das „Gender-Mainstreaming“ Einzug, also die Berücksichtigung der unterschiedlichen Lebenssituationen von Frauen und Männern. Die Kategorie Herkunft spielt dagegen bislang kaum eine Rolle. Dabei ist die Vielheit gerade im urbanen Raum maßgeblich durch Einwanderung geprägt. Während die herkömmlichen Ansätze von „Integration“ sich immer noch auf die Arbeitsmigration im Gefolge der Anwerbeabkommen der sechziger Jahre kaprizieren, leben in den Städten längst Menschen mit komplexen, „post-migrantischen“ Identitäten.
Die Tatsache, dass es eine zunehmende Anzahl von Personen gibt, deren Status aus unterschiedlichen politisch-ökonomischen Gründen nicht eindeutig festzulegen ist, bestimmt die aktuelle Situation. Heute leben in den Städten „Ausländer“ mit einer durchschnittlichen Aufenthaltsdauer von fast neunzehn Jahren, „Pendler“, die im Durchschnitt für ein halbes Jahr bleiben, „Geduldete“, deren Aufenthaltsperspektive nach einem Jahrzehnt immer noch bei einem halben Jahr liegt, und „Papierlose“, die als Touristen eingereist sind und deren Existenz von der offiziellen Statistik ganz geleugnet wird. Man findet zahlreiche Studenten aus anderen Ländern, die eine bestimmte Zeit in der Stadt bleiben, „Expatriates“ jeglicher Couleur, die wegen Arbeit, Liebe oder einer neuen Lebensperspektive in die betreffende Stadt gezogen sind, Zweitwohnungsbesitzer, deren Familie in einer anderen Stadt lebt oder auch Touristen, die mit ihren zahllosen Wochenendtrips und ihrem Szenewissen auf eine noch nie dagewesene Weise ins Gewebe der Stadt eindringen.
Daher macht es immer weniger Sinn, die Urbanität, wie in traditionellen Vorstellungen der Polis, weiterhin mit dem Maßstab der Sesshaftigkeit zu messen. Die traditionelle Polis ist längst auseinandergefallen, sie hat sich zu einer vielgliedrigen „Parapolis“ entwickelt – das Wort bezeichnet die vage, quasi illegitime „para“-Version der Polis. Zudem verbirgt sich in dem Wort der Begriff „para poli“, was „sehr viel“ heißt. Man könnte also von einem Ort des „Sehrviel“ sprechen, eben nicht nur der Vielfalt, sondern der Fülle. Die urbane Vielheit erschöpft sich dabei nicht länger in Konstrukten des herkömmlichen Multikulturalismus wie „ethnische Identität“. Die oben geschilderten Personen lassen sich nicht länger einfach auf Traditionen und Gemeinschaften hochrechnen. Sie sind uneindeutig und nicht auf ihre Herkunft zu reduzieren, weil sie in einer komplizierten Gemengelage von transnationalen Bezügen leben – was im übrigen auch zunehmend für die so genannten Einheimischen zutrifft.
Die Sinus-Studie über die „Lebenswelten von Migranten in Deutschland“ (2007) hat gezeigt, dass in dieser Bevölkerungsgruppe zweifellos eine viel größere Bandbreite von Werten existiert, als in den Medien üblicherweise dargestellt wird. Der ethnische Hintergrund hat also nur begrenzte Aussagekraft. Die Unterschiede bei den Wertevorstellungen innerhalb der migrantischen Gruppen sind größer als die zwischen Einwanderern und Alteingesessenen. Insofern könnte der Begriff Ethnizität in Bezug auf Gestaltungsfragen in der Einwanderungsgesellschaft durch den Begriff „Referenzrahmen“ ersetzt werden, ein Rahmen, der Einflüsse durch Herkunft nicht ausschließt, aber gleichzeitig akzeptiert, dass Personen ihre Bezugsräume mit unterschiedlichen Ressourcen aktiv konstruieren. Das stellt Planer vor erhebliche Herausforderungen. Wenn sie von „farbenblinder“ Ignoranz abrücken möchten, dann braucht es mehr als „interkulturelle Kompetenz“, die zudem leicht in eine Art Ethno-Rezeptwissen umschlagen kann. Um die Vielheit angemessen analysieren zu können, benötigen Planer eine neue Form des flexiblen Kontextwissens – und sie sind stärker als bisher auf das Gespräch mit der Bevölkerung angewiesen. In Deutschland allerdings wird die viel beschworene Partizipation erheblich durch die Tatsache erschwert, dass in einer Reihe von innenstädtischen Quartieren bis zu einem Drittel der Bewohner keine deutsche Staatsangehörigkeit haben und daher nicht wählen dürfen. Unter solchen Bedingungen gerät der Anspruch, Bewohner an Planungsprozessen zu beteiligen, schnell zur Alibi-Beschaffung.
In den letzten Jahren sind in Europa zunehmend Gebäudetypologien und -nutzungen entstanden, die man als erste Ergebnisse eines „Designing for Diversity“ sehen kann, wie zum Beispiel das „Peepul Centre“ im britischen Leicester und das „Fusion Centre“ in Amsterdam. Das „Peepul Centre“, 2007 im Stadtteil Belgrave von Andrzej Blonski Architects gebaut, hat sich aus der Initiative einer lokalen migrantischen Frauenorganisation entwickelt und wurde als Kulturzentrum geplant, das Aktivitäten wie Theater und Tanz mit Kinderbetreuung, Fitness, Restaurant-Café-Betrieb und Raumvermietung, etwa für Hochzeiten, zusammenbringt. Der Name ist ein Wortspiel auf „Peepul“, einen Baum des indischen Subkontinents. Das „Fusion Centre“ wiederum, 2010 nach einem Entwurf von Marlies Rohmer in Amsterdamer Stadtteil Transvaal realisiert, ist ein Gebäude, das auf die starke Separation zwischen den Einwanderer-Communities in den Niederlanden reagiert. Während in Deutschland interethnische Moscheen keine Ausnahme sind, beten die Muslime türkischer und marokkanischer Herkunft dort getrennt. Das „Fusion“ hebt diese Trennung nicht auf – es gibt zwei Eingänge und zwei symmetrische Raumstrukturen. Doch es schafft Räume zur Begegnung, und die Fassade nimmt Elemente aus beiden Kontexten auf.
Die gebauten Beispiele sind sehr unterschiedlich, und es ist nicht leicht zu beurteilen, ob die Einbeziehung von Vielfalt in Struktur und Design stets gelungen ist. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie sich an jener Einbeziehung versuchen und dabei schwellenfrei und multifunktional sein wollen. Ziel einer zeitgemäßen Stadtplanung sollte es sein, ermöglichende, interkulturelle Räume zu schaffen, Räume, welche die Vielheit ins Gespräch bringen, anstatt sie zu leugnen, sie auf eine repressive Art zu „integrieren“ oder gar in das Schema eines statischen Multikulturalismus zu pressen.
Diversitätskonzepte – mehr als schöne Worte?
Diversitätskonzepte – mehr als schöne Worte?
In Deutschland beginnen diese Prozesse erst langsam. Zumeist drehen sich die Diskussionen um Moscheegebäude. Dabei sind weder die Auseinandersetzungen noch die Ergebnisse sehr phantasievoll: Zu recht hat die US-amerikanische Architektin und Kunsthistorikerin Nebahat Avcioglu dem Kölner Moscheebaumeister Paul Böhm kürzlich vorgeworfen, er perpetuiere mit seinem Entwurf die abgetakelten orientalistischen Klischees des Islam.
Andererseits lassen sich zunehmend mehr interkulturelle Ansätze in der Stadtentwicklung beobachten. So hat sich die IBA in Hamburg-Wilhelmsburg unter dem Titel „Kosmopolis“ die Interkulturalität auf die Fahnen geschrieben. Inwieweit die Ergebnisse diese Orientierung auch einlösen können, wird sich in der Zukunft zeigen. Bislang verbirgt sich dahinter das übliche Bündel von Projekten – Siedlungsneugestaltung, betreutes Wohnen für Alte, Kunstaktionen. Im „Integrations- und Diversitäts-Konzept“ der Stadt Frankfurt am Main findet sich eine Reihe von Anregungen für eine „integrierte Stadtpolitik“, die die Sensibilisierung der Planung für „unterschiedliche Sichtweisen“ einfordern. Konkrete Beispiele werden nicht genannt – man steht noch ganz am Anfang. Am weitesten ist bislang die Stadt Duisburg gegangen – zumindest auf dem Papier. In der Stadtentwicklungsstrategie „Duisburg 2027“, die zum neuen Flächennutzungsplan führen soll, hat der Rat sogenannte „Querschnittsbelange“ festgelegt, zu denen neben der Gleichstellung der Geschlechter und der Barrierefreiheit auch ausdrücklich die „interkulturelle Urbanität“ gehört. Diese wird als Grundlage einer innovativen Wirtschaftsstruktur definiert, zudem sollen neue „Orte der Begegnung“ geschaffen werden, „interkulturelle Kulturarbeit“ betrieben und eine „vielfältige Baukultur“ entwickelt werden.
Zweifellos ist auch die Duisburger „interkulturelle Urbanität“ heute kaum mehr als ein neues Wording. Aber Wording kann durchaus praktische Konsequenzen haben: Erst nachdem die rot-grüne Bundesregierung 1998 Deutschland als Einwanderungsland bezeichnet hat, konnte die Frage der Gestaltung von Vielheit überhaupt auf der Agenda auftauchen. In Duisburg ging die Einbeziehung der interkulturellen Dimension übrigens maßgeblich auf die Initiative der dortigen Leiterin des Integrationsreferates zurück – Leyla Özmal ist selbst Stadtplanerin.
Diese Personalie verweist nun zurück an den Beginn dieses Textes. Die Vielheit der Gesellschaft spiegelt sich in so manchen Professionen nicht wider – das gilt auch für Stadtplanung und Architektur. Zudem muss die Frage der Gestaltung der „interkulturellen Urbanität“ als übergreifendes Thema in die universitäre Ausbildung hinein – mit einem Seminar ist es zweifellos nicht getan.
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