Bauwelt

Wieviel Markt verträgt die Stadt?

Beispiel Neukölln

Text: Kleilein, Doris, Berlin

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Plan: Senat für Stadtentwicklung Berlin

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Häuserwand zwischen Hermann- und Oderstraße
Foto: Doris Kleilein

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Häuserwand zwischen Hermann- und Oderstraße

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Wieviel Markt verträgt die Stadt?

Beispiel Neukölln

Text: Kleilein, Doris, Berlin

Welche Auswirkungen hat die „Tempelhofer Freiheit“ auf die Sozialstruktur der umliegenden Stadtviertel? Am deutlichsten wird dies in den kommenden Jahren im Schillerkiez abzulesen sein, einem dicht bebauten Neuköllner Quartier am östlichen Rand des ehemaligen Flugfelds. Hier könnte der Modell-Kiez der IBA 2020 entstehen oder einfach ein weiteres Innenstadtviertel mit steigenden Mieten und teuren Eigentumswohnungen.
Bis zur Schließung des Flughafens war der Schillerkiez eine miese Wohnlage. Die startenden Flugzeuge donnerten direkt über die Mietshäuser hinweg und brachten Lärm, Feinstaub und Kerosingestank. Zwei politische Entscheidungen – das Einstellen des Flugverkehrs zum 30. Oktober 2008 und die Öffnung des Flugfelds zum 8. Mai 2010 – hatten für den Kiez einen derart eruptiven Parameterwechsel zur Folge, wie er selten vorkommt in der Stadtentwicklung: Das arme und migrantisch geprägte Viertel hat „plötzlich“ alle Vorraussetzungen, eine der privilegiertesten Wohnlagen der Berliner Innenstadt zu werden: eine gute Anbindung, eine überwiegend gründerzeitliche Bebauung – und 386 Hektar Wiesenmeer vor der Haustür. Nur eine gepflasterte Wohnstraße trennt auf der Neuköllner Seite die Anwohner vom Tempelhofer Feld, nicht wie im Norden und Westen vierspurige Straßen und im Süden die Stadtautobahn. Die Wohnungen in der ersten Reihe entlang der Oderstraße genießen einen erhabenen Weitblick, für den viele Leute jetzt gerne bezahlen würden.
Die neue Ausgangslage weckt Begehrlichkeiten. Makler und Investoren beobachten den Schillerkiez seit Jahren mit Argusaugen: Bei der aktuellen Durchschnittsmiete von fünf Euro nettokalt ist noch Spielraum nach oben. Bündnis 90/Grüne sehen hier das ideale Terrain für eine stadtpolitische Profilierung und propagieren einen „multikulturellen und nachhaltigen“ IBA-Modellkiez, in dem „nicht verwertungsorientierte Investoren, sondern Ali mit seiner Familie und Anna und Anton ihre Neuköllner Zukunft mit Genossenschaften und städtischen Unternehmen, mit Baugruppen und als Einzeleigentum bauen“, so Franziska Eichstädt-Bohlig, Sprecherin Bündnis 90/Grüne für Stadtentwicklung. Dass aber Berlin-Neukölln nicht Freiburg-Vauban ist und auch nicht werden soll, machen Gentrifizierungsgegner mit Demonstrationen und Kampagnen, aber auch mit immer härteren Aktionen wie Drohbriefen gegen Galerien und im Kiez patroullierenden „Task Forces“ deutlich, die jegliche Veränderung des Status quo verhindern sollen. Und der rot-rote Senat? Verfolgt weiterhin den 2002 eingeschlagenen neoliberalen wohnungspolitischen Kurs, eine Mischung aus Privatisierung und lokalen Instrumenten wie dem Quartiersmanagement. Der Anfang 2011 vom Senat eingesetzte Entwicklungsträger Tempelhof Projekt GmbH plant zudem ein Baufeld mit 1000 Wohnungen am Neuköllner Rand des Parks, das den Schillerkiez in die zweite Reihe rücken würde.
Charmante Phase 1 der Gentrifizierung
Die Goldgräberstimmung hat Einzug gehalten im jahrzehntelang vernachlässigten Neuköllner Norden, der doch so weit entfernt schien von den Aufwertungswellen in den Ostberliner Stadtteilen. Der Schillerkiez erinnert im Sommer 2011 unweigerlich an den Prenzlauer Berg der frühen neunziger Jahre, er befindet sich in der charmanten Phase 1 der Gentrifizierung. Es gibt ein provisorisch ausgestattetes, von kunstinteressierten Filmstudenten betriebenes Eckcafé; Besucher des Flugfeldes und Touristen, die neuerdings von der U-Bahn-Station Boddinstraße aus durch das Viertel spazieren, können dort für 1,80 Euro Cappucchino trinken und in aller Ruhe Zeitung lesen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sitzt am Nachbartisch eine Redakteurin der taz, die an Teil 11 der Gentrifizierungs-Serie über den Schillerkiez schreibt. Einige wenige leer stehende Gewerbeeinheiten werden zu Cafés und Galerien umgebaut – noch herrscht friedliche Koexistenz mit den bestehenden Altberliner Bierkneipen.
Prognose: In 15 Jahren wird der Schillerkiez wieder das gediegene, bürgerliche Wohnviertel sein, als welches es um 1900 angelegt wurde, als Neukölln noch Rixdorf hieß und man sich mit einem „Wohnquartier für Besserverdienende“ von den Arbeitersiedlungen auf den Rollbergen abgrenzen wollte. Die mit Platanen gesäumte, 50 Meter breite Schillerpromenade, die das Viertel durchzieht, ist von Müll befreit, die Spielplätze sind erneuert, die Schulen und die gründerzeitlichen Fassaden energetisch saniert und neu verputzt. In den Wohnhöfen von Bruno Taut, die den Kiez seit den 1920er Jahren um preiswerteren Wohnraum ergänzen, wohnt noch ein Teil der Hartz-IV-Bezieher und Erwerbslosen, die heute knapp die Hälfte der gut 20.000 Einwohner des Schillerkiezes ausmachen. Die Gentrifizierungsgegner haben erfolgreich dafür gekämpft, ihre Altbauwohnungen zu erwerben und mit Fördermitteln des Senats in Eigenregie zu sanieren. Von der angedachten Randbebauung auf dem Flugfeld wurde aufgrund zu hoher Widerstände der Bevölkerung wieder abgesehen. Städtebaulich wird man die Jahre zwischen 2010 und 2020 vor allem als „die Jahre der Wärmedämmung“ erinnern. Gepflegte Langeweile, aber keine Supergentrifizierung wie in Prenzlauer Berg – wäre das nicht das Beste, was passieren könnte? Oder eine vertane Chance?
Ein Viertel in Wartehaltung
Noch heißt es abwarten. Der Wohnungsmarkt im Schillerkiez ist leergefegt, kaum eine Wohnung steht zur Verfügung, weder zur Miete, noch als Eigentum. Vor der Schließung des Flughafens gab es eine hohe Fluktuation der Mieter, etwa ein Drittel kam und ging von 2000 bis 2005. Wer heute eine Wohnung hat, behält sie: Die wenigen Neuvermietungen liegen bereits bei 7,50 Euro. Der beste Mieterschutz sind derzeit paradoxerweise die fragmentierten Eigentumsverhältnisse: Der einzige öffentliche Vermieter, die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft „Stadt und Land“, hat für die 400 Wohnungen im Kiez weder Verkauf noch Modernisierung geplant (dazu auch das Interview auf Seite 54); die über hundert privaten Einzeleigentümer der Mietshäuser verhalten sich ruhig, als sei ihnen die Rente wichtiger als die kurzfristige Rendite. Die „Aufteiler“, die aus Mietshäusern im großen Stil Objekte mit teuren Eigentumswohnungen machen, sind noch nicht unterwegs. Man wartet ab, bis die Preise steigen, bis der Druck größer wird, bis der Senat Entscheidungen getroffen hat.
Für die kommenden Jahre sind zwei Tendenzen ablesbar. Die erste: Auch der Senat will sich Zeit lassen und erst ab 2017 soziale Infrastrukturen entwickeln, um die Bedarfe im Kiez abzufangen. Bis dahin versucht sich die Behörde an einem Oxymoron: einem von oben gesteuerten Bottom-up-Prozess. In Zusammenarbeit mit den Akteuren im Kiez – den Quartiersräten, dem seit 1999 installierten Quartiersmanagement, den Schulen, den zahlreichen Bewohnerinitiativen – soll ermittelt werden, was fehlt. Das klingt gut und hat in Berlin eine lange, von Städten mit größerem Verwertungsdruck beneidete Tradition. Hier zeigt die Behörde eine beachtliche Verfahrenskreativität und will nicht Masterplaner sein, sondern Anschubhilfe leisten und Eigeninitiative unterstützen. Aber reicht das aus, diese gemächliche „Integration der Quartiere“, wie es im Branding des Senats heißt? Oder ist der Entwicklungsdruck aufgrund der Lage am Park und dem großen Preissteigerungspotential auf dem Wohnungsmarkt nicht viel höher als angenommen?
Die zweite, überraschende Tendenz heißt: Neubau der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften. Noch ist das neun Hektar große „Baufeld Oderstraße“ nicht qualifiziert, es gibt noch keinen B-Plan, nur eine eher vage Vorstellung von Kleinteiligkeit und Selbstnutzung. Doch die „Stadt und Land“ macht im Gespräch bereits deutlich, dass sie dort bauen wolle. Die SPD verkündete Anfang September, freilich noch im Wahlkampf, dass in Berlin 30.000 landeseigene Wohnungen gebaut werden sollen. Das lässt aufhorchen, hat das Land Berlin doch seit dem Mauerfall vor allem privatisiert: 1990 gehörten den sechs städtischen Wohnungsbaugesellschaften noch 480.000 der insgesamt 1,9 Millionen Berliner Wohnungen – heute ist der Bestand durch Verkäufe auf 270.000 Wohnungen geschrumpft. Noch bis vor kurzem sah der Senat keinen Bedarf, einer von vielen Seiten prognostizierten Wohnungsknappheit entgegenzuwirken. Doch der Leerstand sinkt und die Mieten steigen. Bis 2020, so die neuen Zahlen des Verbands Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen, braucht Berlin 60.000 neue Wohnungen.
Der Markt soll es regulieren
Für den Schillerkiez könnte das heißen: Anstatt in den Bestand zu investieren, etwa im Rahmen eines neuen Sanierungsgebiets, überlässt man ihn dem Markt und konzentriert sich auf den Neubau. Georg Steindorf, Geschäftsführer der Tempelhof Projekt GmbH, sieht darin kein Problem: „Ich glaube, der Markt alleine wird es regulieren, denn dann haben sie vorne Mieten von 14 Euro und mehr, und die kriegen sie auch. Das ist auch eine Art von Reglement.“ Auch eine Neuauflage des sozialen Wohnungsbaus ist kein Thema: „Das Modell haben wir gerade hinter uns gelassen, und Berlin schleppt eine riesige Schuldenfahne hinter sich her. Klar ist, dass es aufgrund der Haushaltslage keine Politik der großen Förderprogramme mehr geben wird.“ Die Verdrängung der Mieter? Wohnraum, so Steindorf weiter, gebe es zur Genüge in anderen Vierteln, nur fehle die Bereitschaft, den Kiez zu verlassen.
Man muss sich hier die Augen reiben: Die „soziale Stadt“, die „soziale Mischung“ im Kiez, in der Innenstadt – alles Schlagworte von gestern? Die Haltung der Tempelhof Projekt GmbH könnte man momentan so zusammenfassen: Wer sich keine Wohnung im Schillerkiez mehr leisten kann, muss umziehen. Es wird keine Förderung für den Bestand geben, keine Förderung für den Neubau – aber preisgünstiger Neubau wäre gut und wünschenswert, auch für die „aufstiegsorientieren Migrantenfamilien“. Nur: Wozu braucht man für die Baufelder überhaupt dann noch die Entwicklungsgesellschaft? Warum nicht gleich das Baufeld kleinteilig parzellieren und eine neue Gründerzeit einläuten?
Wo sind die Konzepte?
Die Ostberliner Stadtteile Prenzlauer Berg und Mitte gelten heute als Stereotypen der Berliner Gentrifizierungsdebatte, als Paradebeispiele für das überaus erfolgreiche Versagen der Stadtentwicklungspolitik. Trotz und gerade wegen hoher öffentlicher Investitionen von rund einer Milliarde Euro durch Förderprogramme und Steuerabschreibungen konnte dort nach 1989 die soziale Mischung nicht erhalten werden: Von den Alteingesessenen blieb nur etwa ein Viertel, die Mieten sind so massiv gestiegen, dass Mitte heute so teuer ist wie das Villenviertel Zehlendorf. Aber immerhin ist im Osten noch ein Drittel der im Rahmen von Sanierungsgebieten modernisierten Wohnungen belegungsgebunden und erschwinglich. Seit die Umzugskarawane in den alten Westen nun auch in Neukölln die Mieten in die Höhe treibt, nimmt der Druck auf die Stadtverwaltung zu: Mit welchen Strategien kann Stadtentwicklung überhaupt noch sozialverträglich gesteuert werden? Sind die Organe der „öffentlichen Hand“ noch willens und in der Lage, die „soziale Mischung“ herzustellen oder zu erhalten? Wie kann das gehen, nachdem die meisten Förderprogramme des Senats Ende der neunziger Jahre ausgelaufen sind? Aber vielleicht sollte man sich nicht die neunziger Jahre und den Wohlfahrtsstaat zurückwünschen, sondern die vorhandenen Ressourcen besser nutzen.
Die wichtigste Ressource, die in Berlin zur Verfügung steht, sind die landeseigenen Grundstücke. Die Vergabepraxis des Liegenschaftsfonds, an den höchstbietenden Investor zu verkaufen, steht immer vehementer in der Kritik. Das Neuköllner Baufeld ist im Besitz des Landes und kann langfristig zur Quartiersentwicklung eingesetzt werden – wie bei der Pioniernutzung im Park könnten hier alternative Modelle des Umgangs mit Grund und Bodens getestet werden. Es ist zu begrüßen, dass die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften wieder bauen wollen und die Fördermittel nicht wie im Sozialen Wohnungsbau alter Prägung in die Finanzierung der Kostenmiete gehen, an der sich Banken, private Eigentümer und Bauunternehmen bereichert haben. Doch wo sind die neuen Finanzierungsmodelle? Die favorisierte Quersubventionierung mit Preisstaffelung innerhalb eines Ensembles wird alleine nicht ausreichen, um erschwingliche Wohnungen auch für die unteren Einkommensgruppen zu bauen. Das Hinterfragen von Ausbaustandards, die Erarbeitung von Mischmodellen aus Eigentum und Miete, die Einbeziehung der Bewohner in Form von „Muskelhypotheken“ – sind die im großen Maßstab wirtschaftenden Wohnungsbaugesellschaften beweglich genug, um sich kleinteiligen Modellen zu öffnen? Und, auch auf die Gefahr einer positiven Diskriminierung hin: Neuere Studien wie „Wohnsituation und Wohnwünsche von Migranten“ (2008) zeigen, dass die Eigentumsaffinität bei Migranten hoch ist, ebenso die Bindung an ein soziales Umfeld. Wenn Neukölln kein Prenzlauer Berg werden soll: Wo sind die Konzepte für „post-migrantisches“ Wohnen auf dem Tempelhofer Feld?

Adresse Oderstraße 52, 12049 Berlin


aus Bauwelt 36.2011
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