Bauwelt

Zwischen Ingenieurskonstruktion und dekorativer Baukunst

Pariser Retrospektiven zu Henri Labrouste und Victor Baltard

Text: Schulz, Bernhard, Berlin

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Lesesaal der Bibliothèque nationale, Henri Labrouste, 1854–75
Georges Fessy; Grafik: Collection Debuisson

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Lesesaal der Bibliothèque nationale, Henri Labrouste, 1854–75

Georges Fessy; Grafik: Collection Debuisson


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Blick von der Kirche Saint-Eustache, Gra­fik eines unbekannten Künstlers
Musée d’Orsay/Sophie Boegly

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Blick von der Kirche Saint-Eustache, Gra­fik eines unbekannten Künstlers

Musée d’Orsay/Sophie Boegly


Zwischen Ingenieurskonstruktion und dekorativer Baukunst

Pariser Retrospektiven zu Henri Labrouste und Victor Baltard

Text: Schulz, Bernhard, Berlin

Henri Labrouste wird wegen seiner Bibliotheksbauten, den Lesesälen der Bibliothèque Saint-Geneviève  und der Bibliothèque nationale, als Protomoderner wahrgenommen. Die Ausstellung in der Citè de l’architecture et du patrimoine hält gemäß ihrem Untertitel „Pionier des Eisens“ an dieser Sichtweise fest.
Wer in Paris an der Schnellbahnstation „Châtelet – Les Halles“ nicht nur um-, sondern aussteigt, landet im unterirdischen Einkaufszentrum „Forum des Halles“. Ältere erinnern sich mit Wehmut an „die Hallen“, die dort früher standen, den Großmarkt, den „Bauch von Paris“, als den ihn Émile Zola in seinem Roman von 1873 unsterblich gemacht hat. Um 1970 herum sind sie nacheinander abgerissen worden; sie galten als Schandfleck, unhygienisch, noch dazu als Verursacher von allnächtlichem Verkehrschaos.

Oft ist die architektonische Qualität gerühmt worden, die mit den in zwei Abschnitten (zwischen 1854 und 1874) errichteten Glas-Gusseisen-Hallen verloren ging. Jetzt widmet sich das Musée d’Orsay, die Pariser Pflegestätte aller Künste des 19. Jahr­hunderts, in einer längst überfälligen Retrospektive dem Lebenswerk ihres Architekten Victor Baltard (1805–1874). Baltard ist keineswegs der entschlossene Modernisierer, als den ihn die revolutionären Markthallen ausweisen. Vielmehr ist er zutiefst in der akademischen Tradition der École des beaux-arts verwurzelt, in der ausgebildet zu sein bis ins späteste 19. Jahrhundert unabdingbar war für eine halbwegs anständige Laufbahn in Frankreich. Baltard, von 1839 bis 1870 Stadtarchitekt von Paris, löste sich selbst nie von dieser Tradition, sondern integrierte die industriell produzierten Materialien in den ästhetischen Kanon der akademischen Baukunst. In einem Brief mokiert er sich 1863 über „die Begeisterung des Publikums für Metallkonstruktionen“. Übrigens hatte er einen rein künstlerischen Beruf angestrebt, darauf spielt der Untertitel der Ausstellung, „Das Ei­sen und der Pinsel“, an.

Durchaus ähnlich liegt der Fall beim Architekten Henri Labrouste (1801–1875), dessen Werkschau in glücklicher Koinzidenz in der Citè de l’architecture et du patrimoine im Palais de Chaillot zu sehen ist. Auch Labrouste ist Eleve der École, er erhielt – wie Baltard 1833 – im Jahr 1824 den begehrten „Prix de Rome“, der das Entréebillet zu einer glanzvollen Karriere darstellte. Labrouste wird wegen seiner Bibliotheksbauten, den Lesesälen der Bibliothèque Saint-Geneviève (1838–50) und der Bibliothèque nationale (1854–75), gleichfalls als Protomoderner wahrgenommen. Die Ausstellung in der Cité, die im Anschluss ins MoMA nach New York reisen wird, hält gemäß ihrem Untertitel „Pionier des Eisens“ an dieser Sichtweise fest. Sie geht zurück auf Sigfried Giedion, der zur Schaffung einer Geschichte der Moderne alle nur denkbaren „Vorläufer“ und „Wegbereiter“ eingemeindete.

Gusseisensäulen und Illusionsmalerei
Dabei ist das ausgebreitete Material dazu angetan, den ständigen Zwiespalt zwischen Ingenieurs­kon­struktion und dekorativer Baukunst aufzuzeigen. Labrouste lehnt sich nicht gegen die Tradition auf, ungeachtet der heftigen Kontroverse des Jahres 1829, als die Académie des beaux-arts seinen Restaurierungsvorschlag für die drei großen Tempel von Paestum wegen angeblicher Missachtung der antiken Bauweise buchstäblich zerreißt. Nur ist Labrouste eben kein Dogmatiker. Als Angehöriger der „roman­tischen Generation“ und Zeitgenosse von Victor Hugo begeistert er sich fürs Mittelalter ebenso sehr wie für die akademisch vorgeschriebene Antike.

Labrouste folgt seiner Zeit eher, als dass er ihr vorauseilt: So kommt in der Bibliothèque Sainte-Geneviève, einem der frühesten autonomen Bibliotheksbauten, zum ersten Mal überhaupt Gasbeleuchtung zum Einsatz, sodass der Lesesaal abends ge­öffnet bleiben kann; allerdings drängt die techni­sche Entwicklung der Zeit auf den Einsatz von Gas­licht.
In der Nationalbibliothek, deren zentralen Lesesaal Labrouste mit neun Segmentkuppeln auf schlanken, zehn Meter hohen Gusseisensäulen überdeckt, vermitteln Wandgemälde die Illusion eines Ausblicks in freie Landschaft. Weitaus moderner, rein auf funk­tionale Notwendigkeiten abgestimmt ist das fünf­ge­schossige Büchermagazin, eine Eisenkonstruktion, bei der das Tageslicht dank verglaster Metallgitterböden bis in die unterste Ebene gelangt.

Zu Baltard gibt es die schöne Anekdote, dass erst Napoleon III. die moderne Erscheinung der Hallen bewirkt hat. Der selbsternannte Kaiser ließ 1853 die Baustelle am ersten, beinahe fertiggestellten Bauteil anhalten – und bemängelte die Ausführung in Mauerwerk und Naturstein, hinter der die Guss­eisen-Konstruktion verschwand. So kam es zu einer Neukonzeption bei der, so die damalige Beschreibung, „alle Möglichkeiten ausgeschöpft“ wurden, „die den Konstrukteuren von der Metallurgie zur Verfügung gestellt werden.“ Napoleon III., den weltweiten Erfolg des Londoner Glaspalasts zwei Jahre zuvor im Bewusstsein, suchte seinem Regime ein dezidiert modernes Aussehen zu geben.

In Hegel’schem Sinne ließe sich zu Labrouste und Baltard sagen: Der Weltgeist des Industriezeitalters bediente sich zweier traditionsbewusster Baumeister, um architektonisch bleibenden Ausdruck zu finden.
Fakten
Architekten Victor Baltard; Henri Labrouste
aus Bauwelt 47.2012
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