Zwischen „terrasses communes“ und Kampfzone Erdgeschoss
Editorial
Text: Geipel, Kaye, Berlin
Zwischen „terrasses communes“ und Kampfzone Erdgeschoss
Editorial
Text: Geipel, Kaye, Berlin
Brachen und Lücken schließen sich im Eiltempo mit Geschosswohnungsbau. Marketingkampagnen versprechen „lebendiges Wohnen in der lebendigen Stadt“. Das würden wir gern glauben. Doch die Realität sieht anders aus. Die kollektiven Errungenschaften des Wohnungsbaus des letzten Jahrhunderts, die Qualitäten seiner halböffentlichen Räume, seine typologischen Angebote an die Stadt und an die Bewohner, fallen durch die Finanzierungsraster des renditegeprägten Wohnbaus. Beherzte Konzepte sind gefragt
Ins Leere gesprochen Anfang des Jahres trat die Berliner Senatsbaudirektorin Regula Lüscher in einem IBA-Werkstattgespräch ans Pult und verkündete in der kargen, aber wohlgefüllten Halle der ehemaligen Zollgarage: „Wir können im Wohnbau nicht einfach da weitermachen, wo wir in den letzten Jahren angekommen sind. Wir müssen anders bauen!“ Das starke Statement traf im Publikum auf Zustimmung; doch die, die angesprochen waren, waren vermutlich nicht mit von der Partie. Wenige Monate später servierten die Berliner Stadtpolitiker das Experimentierfeld IBA, das neue Wohnbau-Modelle ausprobieren wollte, im Handstreich ab. Regula Lüscher steht nicht alleine da: Das Szenario von Aufruf, Hoffnung, Ärger und Desillusion dürfte in vielen anderen deutschen Städten ähnlich verlaufen. Sobald es um die öffentlichen und halböffentlichen Bereiche geht, ist das mittelständische Angebot der neuen verdichteten Wohnquartiere oft jämmerlich karg und phantasielos. Egal ob es sich in Karlsruhe um den City Park, in Düsseldorf um die neuen Quartiere Derendorf oder in Offenbach um den Luisenhof handelt, der Anschluss zur Stadt verkommt zum Zufallsprodukt maximaler Flächenausnutzung. Um dem renditegeprägten Wohnbau Qualitäten für die Gemeinschaft abzutrotzen, braucht es Löwenmut und List, wie etwa die Planung „Neue Mitte Altona“ in Hamburg zeigt.
Brinkmans Erfindung Wenn der öffentlichen Hand das Geld und dem Investor das Interesse fehlen, stehen die Vermittlungszonen von Wohnen und Stadt auf dem Spiel. Ihr Nutzen passt nicht in Tabellenform; sie fallen durchs Raster der Renditekalkulation. Es geht aber auch um Wissenslücken und Denkblockaden in Bezug auf die räumlichen Qualitäten der modernen Stadt. Angebote für einen Zugang zum öffentlichen Raum der Straße sind so alt wie die Erfindung des modernen Geschosswohnungsbaus. Eines der vielen typologischen Vorbilder entwickelte Michiel Brinkman 1919 in Rotterdam. Die „Straße in der Luft“ in der Siedlung Spangen funktionierte, weil sie direkt vor der Tür der Kleinstwohnungen einen einfachen, nach allen Seiten offenen Raum anbot, der über den Hof im Kontakt zur Community stand. Manchen Experimenten der Nachkriegszeit war weniger Erfolg beschieden – die Sensibilität dieser Zwischenräume offenbart sich exemplarisch am Scheitern von Robin Hood Gardens (1972), was nicht nur auf die Unübersichtlichkeit des Entwurfs der Smithson zurückzuführen ist, sondern mindestens ebenso auf die städtebauliche Insellage des Projekts. Doch die typologischen Experimente gingen weiter: Alvaro Siza hat in den 80er Jahren in Porto den direkten Zugang zu Wohnungen in vorbildlichen Lösungen weiter entwickelt, und Kees Christiaanse (GWL-Gebäude, Amsterdam 1998) und Bjarke Ingels (8House, Kopenhagen 2010) haben bewiesen, dass diese Lösung unter heutigen Bedingungen funktioniert. Das Wissen, wie man Stadt und Geschosswohnungsbau besser miteinander verknüpft, ist längst vorhanden. Durchzusetzen ist es kaum, weil angesichts des Nachfragedrucks im Wohnbau bereits wieder gilt, was Laura Weißmüller das Prinzip „Grau, genormt und günstig“ genannt hat. 1
Das ausgelagerte Wohnzimmer Wir starten das Heft mit einer Untersuchung von drei spanischen Architekten, die an sieben Wohnbauten aus dem letzten Jahrhundert aufzeigen, wie differenziert deren Qualitäten sind. Die kollektiven Räume sind das Herzstück ihrer Analyse, sie werden durch ihren Blick zur Hauptfunktion des Wohnens. Was sich in herkömmlichen Plänen nur mit Kennerblick lesen lässt, und auch in Modellen schwer hervorzuheben ist, machen Mozas, Férnandez-Per und Ollero in allen sieben Projekten mit einfachen analytischen Axonometrien sichtbar. Deutlicher als in diesen Zeichnungen kann man kaum aufzeigen, dass diese Vermittlungsstrukturen keine Resträume irgendwo neben dem Zugang ins Treppenhaus sind, sondern räumlich gestaltet werden müssen. Hier liegt auch die radikale Verantwortung der Architekten bei der Neukonzeption. Zu den sieben Beispielen zählt das Narkomfin-Kommunehaus in Moskau, jenes legendäre Projekt des russischen Konstruktivismus, das das grundsätzliche Verhältnis zwischen Wohnen und halböffentlichem Raum umkehren wollte. Das Projekt blieb Mythos. Zum Bezugstermin 1932 hatten sich die politischen Vorzeichen in der Sowjetunion schon geändert, und das Experiment hielt nicht lang. Heute zerfällt auch das Gebäude selbst, aber seine Beispielwirkung reicht bis in die Gegenwart. Eine spektakuläre zeitgenössische Adaption ist das im Rohbau befindlichen Wiener Sonnwendviertel, das im Baufeld C1 das Prinzip „Wohnzimmer“ auf das ganze Quartier ausdehnt: kleinere Wohnungen („smart apartments“) korrespondieren mit einem geradezu luxuriösen Programm an Gemeinschaftsreinrichtungen, die wie riesige gläserne Nester in die Fassaden gesteckt werden und für die Bewohner über Brücken zu erreichen sind. 2
Welche Konzepte funktionieren wirklich? Solche Beispiele sind auch in Wien mit seiner Tradition des kollektiven Wohnens Einzelfälle. Gerade bei komplexen Gemeinschaftsangeboten bestimmen mehrere Variablen den Entwurf. Erstens, das Wissen um die Bedürfnisse der künftigen Bewohner; zweitens, die Fähigkeit, diese möglichst früh mit der Planung in Verbindung zu bringen und drittens, die Fähigkeit, Bewohnergruppen und Standorte genau differenzieren zu können – verdichteter Wohnbau am Stadtrand braucht andere Collective Spaces als die Kernstadt. Die Autorin Silvia Forlati untersucht am Beispiel Wiener Wohnbauten der letzten fünfzehn Jahre, welche Raumprogramme funktionieren und welche nicht. Eine Erkenntnis: Architekten müssen nicht nur Raumangebote planen, sie müssen deren Möglichkeiten den Bewohnern auch erklären. Genauso wichtig ist die Lernbereitschaft des Bauträgers. Welche finanziellen Mittel, welches praktische Wissen und welches soziale Netz stehen ihm zu Verfügung, um unterschiedliche Akteure als Partner an einen Tisch zu holen? In Wien sorgt die Stadt mit Hilfe von nachgeschalteten Bauträgerwettbewerben dafür, dass dieser weiche Teil der Planung in die Finanzierung einkalkuliert wird.
Dass Baugruppen und vor allem Genossenschaften Gemeinschaftsräume freiwillig mitdenken, macht sie inzwischen zum oft zitierten Vorbild. Was können Genossenschaften wirklich besser? Dazu gehört etwa die Fähigkeit, sich auf Experimente wie das „Cluster-Wohnen“ einzulassen (S. 36, 43). Cluster sind extragroße Wohnungen, in denen sich die Bewohner Einzelzimmer kaufen und dafür Gemeinschaftsfunktionen mitgeliefert bekommen. Der demographische Wandel erhebt die Träume der Kommunen der 70er Jahre hier zum markfähigen Modell. Privatheit wird auf die großzügige Zelle reduziert, die offene Gemeinschaft mit einer ausgewählten Peergroup praktiziert. Dennoch können solche Projekte genauso elitär sein wie die ihnen zugrunde liegenden Organisationsformen. Wie Benedikt Crone aufzeigt, stehen Genossenschaften auch für die selbstgewählten Zukunftsmodelle einer kulturellen Elite, die sich bei Bedarf abgrenzt. Wenn die Probleme mit der Öffnung überhandnehmen, werden die Gemeinschaftsflächen für die Nachbarschaft wieder zugesperrt, was im öffentlichen Wohnbau nicht so einfach ist. 3
Kampfzone Erdgeschoss Wo aber verläuft heute die Schnittstelle zwischen Wohnung und Stadt? In der Stadt des 19. Jahrhunderts vermittelte die Straße zwischen beiden. Hundert Jahre später sind geschlossene Straßensysteme rund um die Blocks keine Regel mehr, viele neue Wohnquartiere sind verkehrsumspülte Inseln für Fußgänger. Im Sinne einer Aktivierung der Quartiere müsste die Antwort besser lauten: Die Schnittstelle zur Stadt sind die Erdgeschosszonen. Deren Dilemma ist offensichtlich. Für ungestörtes Wohnen sind sie wenig geeignet, als Gewerbe und Ladenzonen oft nicht mit Nutzungen zu füllen. Das Resultat ist die Kompromisswohnung, die mittels Zäunen und vermurkster Vorgärten von der Straße abgesetzt und billiger verkauft wird. Ob es auch anders geht, probiert die Stadt Heidelberg zurzeit bei der Bahnstadt; hier wurde für Erdgeschosszonen an „publikumsfrequentierten“ Stellen planungsrechtlich eine gewerbeverträgliche Raumhöhe festgelegt und Wohnungen im Erdgeschoss nur ausnahmsweise erlaubt.
Alle diese Beispiele fordern dazu auf, eine anscheinend vergessene Erkenntnis wieder ernst zu nehmen. „Der Wohnungsbau ist das wichtigste Baumaterial der Stadt, er prägt die Qualität des öffentlichen Raums.“ Es gibt eine administrative, politische, ökonomische und planerische Zurückhaltung, diese Einsicht ernst zu nehmen. Doch ohne ein Bemühen, den Übergang von der Stadt zur Wohnung bewusst zu gestalten, ohne die Auseinandersetzung um die Qualität der Allmende im verdichteten Geschosswohnungsbau werden wir in zehn Jahren deutsche Städte mit denen in Dubai vergleichen können. Dazu gehört eine entschiedene Fixierung, wie es Ulrich Brinkmann in seinem Artikel über die sanierten Quartiere der 60er Jahre schreibt: die klare Festlegung der Verantwortung über die Finanzierung dessen, was über das Limit des eigentlichen Wohnbaus hinausgeht – öffentlicher Raum, Parken, Erreichbarkeit. Schließlich gilt: die schönen neuen Fassaden können blenden, die gut funktionierenden Gemeinschaftsräume sieht man erst auf den zweiten Blick.
1 Titel eines Artikels über die die aktuellen Versäumnisse, neue Wohnbautypen zu erforschen: SZ 2. Juli 2013
2 Dort realisieren drei Architekturteams neben den klassischen Gemeinschaftsräumen (Kinderspielraum, Waschküche) auch eine Reihe von „bauteilübergreifenden“ Gemeinschaftseinrichtungen: Schwimmbad, Bibliothek, Kino, Musikraum, Werkstätten, Spielhölle, Lernclub, vertikaler Spielplatz u.v.m.
‣ www.sonnwendviertel.at/ProjectC-01/Details
3 siehe Bauwelt 47.12
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