Bluecoat Chambers
Eingefügte Autarkie
Text: Spix. Sebastian, Berlin
Im historischen Kern Liverpools haben die niederländischen Architekten biq stadsontwerp mit einem neuen Galerieflügeleine Lücke im 300 Jahre alten Klinkerbau der Bluecoat Chambers geschlossen.
Im Zentrum von Liverpool, zwischen Collage Lane und School Lane, unweit der Einkaufsstraße Paradise Street, befindet sich das Galeriegebäude der Bluecoat Chambers. Begrenzt von drei Nachbarn, den BBC Radio Merceyside-Studios, dem Howard Tompkins Wohn- und Geschäftshaus und den Arkaden der Haupteinkaufsstraße, liegt das Bluecoat in einer Umgebung, die sich in einer diffusen wirtschaftlichen und städtebaulichen Umstrukturierung befindet. Unter ständigem Druck und in Abhängigkeit von finanzstarken Bauunternehmern müssen sich die meisten Gebäude Liverpools seit Jahren zwischen neuen Bauprojekten behaupten.
Liverpool One, ein fortwährend im Bau begriffenes und in weiten Teilen unvermietetes Investoren-Großprojekt, prägt in überwiegend gläserner Gestalt das Stadtbild. Zwischen Albert Dock, der restaurierten historischen Hafenanlage, und dem Royal Liver Building beginnen sich diese identitätslosen Bauten quer durch die gesamte Innenstadt bis hin zur klassizistischen St. George Hall auszudehnen.
Am Rande von Liverpool One, doch merkwürdig vom Zentrum abgetrennt, steht seit 1717 die einstige Blue Coat School – heute das älteste Gebäude der Stadt. Von einem unbekannten Architekten im Queen-Anne-Stil erbaut, unterlag der Komplex im Verlaufe zweier Weltkriege sowie des ökonomischen und politischen Niedergangs der Hafenstadt zahlreichen baulichen und funktionalen Veränderungen; seit 1927 dient er als Kulturzentrum der Stadt. Im Zusammenhang mit Liverpools Rolle als Europäische Kulturhauptstadt 2008 wurde mit der finanziellen Unterstützung städtischer wie auch privater Stiftungen und Institutionen 2005 ein europaweit offener Wettbewerb zur Erweiterung ausgeschrieben. Aus insgesamt 70 Einreichungen ging das junge Rotterdamer Büro biq siegreich hervor; im Sommer letzten Jahres wurde der fertiggestellte Bau seiner Bestimmung übergeben.
Innenhof
Das Gebäude ist axial an der Church Street ausgerichtet. An der parallel verlaufenden School Lane trifft der Besucher zunächst auf einen U-förmigen Innenhof. Sechs seitliche Treppenaufgänge führen in schmale Läden, in denen Kunsthandwerkliches feilgeboten wird. Eine hölzerne blaue Eingangspforte im Hauptportal führt in den ehemaligen Ausstellungsraum die heutige Empfangshalle im Querflügel. Ein erster Blick durch die Fenster der Rotunde enthüllt einen zweiten, gärtnerisch gestalteten Innenhof, der von dem erhalten gebliebenen zweigeschossigen Westflügel, einem eingeschossigen Querflügel und dem neuen dreigeschossigen Süd-Ost- Flügel gefasst wird. Der Weg in den Hof führt über die zentrale zweiflügelige Tür in der Empfangshalle. Von zwei großen Bäumen verschattet, laden kleine Holzbänke Besucher und Künstler gleichermaßen zum Verweilen ein. Ausgeführt in zweischaligem, rotbraunem Klinkermauerwerk, fügt sich die Außenhaut des Anbaus dezent in den Bestand. Die Blockanordnung der Ziegelsteine grenzt sich formal vom Läuferverband des 300 Jahre alten Gebäudes ab. Aufgrund der gestapelten Anordnung wirken die Steine wie zur weiteren Verarbeitung bereitgestellt. Schmale, zweigeschossige Fenster sind im Achsmaß der gegenüberliegenden Fenster des Westflügels eingeschnitten. Befremdend die Ecke zwischen Neubau und Bestandsrotunde: Im Raster der Öffnungen stößt recht banal der eloxierte Aluminiumfensterrahmen an die dunkle Rotundenwand. Das Dach ist mit stehend gefalzten Kupferblechstreifen verkleidet und umschließt zur westlichen Innenhofseite gleich einer Membran das dritte Geschoss.
Galerie
Das Konzept für den Neubau des Süd-Ost-Flügels sowie für die Sanierung aller Räumlichkeiten des Bestands beinhaltete eine beinah komplette Neuorganisation der Struktur: Im Inneren des labyrinthischen Gebäudes trafen die Architekten auf insgesamt 29 unterschiedliche Ebenen. Gleich nach dem Durchschreiten der gebogenen Empfangshalle tritt man an der Schnittstelle zwischen dem ehemaligen Schulgebäude und dem neuen Flügel auf eine Wegekreuzung. Nach links führt eine Rampe in einen schmalen Flur zu Arbeitsräumen im alten Nord-Ost-Flügel. Geradeaus findet sich der Besucher in einem kontemplativen, sich über drei Ebenen erstreckenden Foyer wieder. Fleckig-graue Sichtbetonwände, in Weiß getünchtes Mauerwerk und grauer Estrich in terrazzoähnli chem, grobem Konglomerat offenbaren das haptische Gespür der Architekten für eine Oberfläche, die sich dezent von der Patina der äußerlichen Ziegelwand absetzt. Gleichwohl scheint der Anbau eine Wunde am Bluecoat-Körper zu schließen und seine Geschichte weitererzählen zu wollen.
Schlägt man am Knotenpunkt vor dem Foyer, entlang einer weiteren schmalen, von dunklen Betonwänden gesäumten Rampe, den Weg nach rechts ein, gelangt man in den großen lichtdurchfluteten Galerieraum. Ein weiterer schmaler Galerieraum am Ende des Flügels und seitlich gelegene Lagerräume komplettieren in der Abfolge von einfachen rechteckigen Volumen den insgesamt 1800 Quadratmeter großen Innenraum.
Giebelwand
Die sorgsam ausgeführte Überschneidung von Alt und Neu wird in der angrenzenden schmalen Seitengasse an der östlichen Fassadenseite deutlich. Das dunkelbraune Kupferblech schiebt sich schützend über die beiden oberen Etagen des Anbaus, als sollte so der Atelierflügel vor der gekrümmten Stahl-Glasfassade der BBC vis-à-vis geschützt werden. Ein bronzefarbener Lamellenrost leitet horizontal in dünnen schmalen Streifen den Übergang zwischen Erd- und Obergeschossen ein und vermittelt zwischen den ungleichen Bauabschnitten. An der Giebelseite öffnet sich der Flügel diagonal zur breiten Hannover Street; einer weiteren Einkaufsstraße. Die Silhouette der Giebelwand erinnert an die schmalen Reihenhäuser englischer Hafenstädte. Auf der Spitze der Stirnseite umfasst die kompakte Ziegelblockwand den obligatorischen Kamin, der sich über den gesamten Flügel erstreckt und in ein Oberlicht für die darunter liegenden Galerien transformiert ist. Aus der gleichen Fassade kragen im zweiten Obergeschoss drei raumhohe „Schaufenster“ aus der Mauerwerksfläche. In Analogie zum beschaulichen Reihenhaus-Erker sind sie, dem einheimischen Repräsentationsmotiv entlehnt, ironisch appliziert und dienen der Galerie als Vitrine.
„I’m fixing a hole where the rain gets in“, singt Paul Mc- Cartney in der ersten Zeile des gleichnamigen Lieds des ersten Konzeptalbums „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ der Beatles aus dem Jahr 1967. Der Legende nach soll die Idee für das bunt collagierte Plattencover einem kreativen Geist der zahlreichen Bohemien-Galerien im Bluecoat entsprungen sein. Fraglich ist der Wahrheitsgehalt dieser Geschichte – unbestritten aber haben die Niederländer ein urbanes „Loch“ im architektonisch bunt gemischten Liverpool geschlossen. Ihr bereits mehrfach ausgezeichnetes Gebäude ist für den diesjährigen Mies van der Rohe Award nominiert.
Das älteste Haus in Liverpool
18. Jahrhundert
Anno 1708 gründeten Referent Robert Styth und Kapitän Brian Blundell eine Schule für Waisenkinder, die Liverpool Blue Coat School. Das erste Schulgebäude entstand auf dem Geländeder St. Peter’s Church. Weitere finanzielle Mittel ermöglichten später den Bau eines größeren Gebäude, auf einem Areal, das dem ersten gegenüberlag. Hier konnten die Kinder wohnen und lernen und wurden zugleich in die Prinzipien der Anglikanischen Kirche eingewiesen. Im Jahr 1725 konnte das Gebäude für insgesamt 2300 Pfund fertiggestellt werden.
Zum diesem Zeitpunkt waren 70 Jungen und 30 Mädchen auf der Schule. Viele arbeiteten als Lehrlinge im lokalen maritimen Hafengewerbe. Einige „Old Blues“ wurden Offiziere oder Kapitäne auf Schiffen, andere emigrierten in die damaligen Kolonien.
Der Urheber des Entwurfs ist bis heute unbekannt. Am häufigsten fällt in diesem Zusammenhang der Name des Architekten Thomas Ripley. Das Gebäude gilt als aus gezeichnetes Beispiel des damaligen Queen Anne Style. Besondere Merkmale sind: der älteste „Liver Bird“ über dem Eingangstor des gepflas terten Hofs, eine Kuppel im Dach des Zentralgebäudes und die Engelsköpfe im Gesims der Fassade. Nach Blundells Tod (1756) erweiterten seine Söhne das Gebäude um einen neuen Arbeitsraum, ein Krankenzimmer, eine Kapelle und eine Mensa, das Bluecoat konnte nun bis zu 200 Schüler beherbergen. An die „Schulzeit“ des Gebäudes erinnern noch heute einige Graffiti aus dem 18. Jahrhundert, eingraviert in Ecksteine im Vorderhof.
19. Jahrhundert
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wächst die Schule analog mit der kontinuierlich steigenden Einwohnerschaft Liverpools. Mehrmals wird das Gebäude umgebaut. Seine Rückseite, die ursprünglich die Frontfassade mit der gleichen Fensteranordnung und den dekorativen Schmuckformen gespiegelt wiederholte, wurde durch einen Zentralbau erweitert und in deutlich schlichterer Erscheinung verändert.
20. Jahrhundert
In der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts war das Bluecoat niemals vor Beschädigungen und finanziellen Einschnitten sicher. 1906 zieht die immer größer werdende Schule an ihren heutigen Standort in der School Lane. 1907 mietet eine Gruppe Künstler, die Sandon Studios Society, die Räumlichkeiten im leeren Gebäude. 1909 pachtet der Magnat und spätere Lord Leverhulme, William Lever, das Gebäude von den Treuhändern der Schule und ermöglicht der expandierenden Architekturfakultät der Universität Liverpool, Räume im Bluecoat zu mieten. In einer triumphalen und gleichzeitig beschämenden Zeremonie benennt er die Schule in „Liberty Build ing“ um. Von Anfang an hatte er die Absicht, das Gebäude zu einem Zentrum der Kunst auszubauen. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs mussten die Pläne aufgeschoben werden, und Leverhulme verlor jegliches Interesse an dem Vorhaben.
Als Lever 1925 stirbt, hinterlässt er kein Testament; seine Nachlassverwalter geben as Gebäude zum Verkauf frei. Daraufhin startet die Sandon Stu dios Society, inspiriert von Fanny Dove Hamel Calder, eine Kampagne zur Rettung des Gebäudes. Zwei Tage vor Fristende sind nur 12.000 Pfund aufgebracht. Es wird ein letzter Aufruf in der Presse veröffentlicht. In letzter Sekunde erreicht eine anonyme Spende in Höhe von 18.000 Pfund die Kampagne. Das restliche Geld für den Erwerb sichert die Aufnahme einer Hypothek.
Nach der Rettung des Gebäudes im Januar 1927 gründete sich eine wohltätige Stiftung, die „Bluecoat Society of Arts“, die sich zum Ziel setzte, die wertvolle Architektur zu erhalten – als Heimstätte eines Kunstzentrums. 1940 gab es Überlegungen, das Gebäude zugunsten eines inneren Straßenrings abzureißen. Zum Glück wurden diese Pläne aber nie realisiert. Im Mai 1941 erlag Liverpool einer erheblichen Bombardierung. Brände der Nebengebäude griffen auf große Bereiche des Bluecoat über.
1958 war das Geäude wiederhergestellt und nahm erneut eine bedeutende Rolle im kulturellen Leben Liverpools ein. Ausstellungen, Konzerte, Theateraufführungen und Tanz-Veranstaltungen ließen das Bluecoat Arts Centre in den 60er Jahren florieren. Eine rege Künstlergemeinde, Shops, Kunstorganisationen, Kunsthandwerker und Mieter wie das Merseyside Film Institute siedelten sich hier an und sorgen seitdem für eine lebhafte, kreative Durchmischung. Seit 2007 wird das älteste Kunstzentrum in Großbritannien offiziell „Bluecoat“ genannt.
Aus der Infobroschüre „The story so far at the Bluecoat.“, übersetzt von Sebastian Spix.
Fakten
Architekten
biq stadsontwerp, RotterdamHeijden, Hans van der, RotterdamBeek, Theo van de, RotterdamEig, Marjolein van, RotterdamWebster, Helen, RotterdamWessels, Rick, Rotterdam
aus
Bauwelt 21.2009
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