Schulweg
Treppe, in den Fels gesprengt
Text: Adam, Hubertus, Zürich
Kann ein Weg ein Bauwerk sein? Die Züricher Architekten Esch.Sintzel haben in Chur zwei Schulzentren, von denen das eine auf einem Hügel, das andere am Fuße dieses Hügels liegt, durch eine aufwendige und sehr raffinierte Konstruktion miteinander verbunden. Diese ist massiv im Inneren und dort, wo sie im Freien verläuft, papierhaft dünn.
Bildung galt in den sechziger Jahren als wichtiges Mittel, um die Modernisierung und zugleich den Zusammenhalt des in unterschiedliche Landschafts- und Sprachregionen aufgegliederten Kantons Graubünden zu gewährleisten. Der Glauben an die Kraft der Bildung manifestierte sich im Kantonshauptort Chur auch in architektonischer Hinsicht. Im Tal der Plessur, nahe dem historischen Altstadtkern, errichtete Andres Liesch zwischen 1962 und 1964 das Bündner Lehrerseminar. Ein knappes Jahrzehnt später ersetzte Max Kaspar das auf der Höhe zwischen Kathedrale und Priesterseminar gelegene klassizistische Gebäude der Kantonsschule durch einen monumentalen Neubau. Zusammen mit Otto Glaus’ puebloartig zwischen Wald und Reben integriertem Konvikt, einem Internat für Schüler aus entlegenen Talschaften, stellt sich dieses architektonische Ensemble als stadtbeherrschende Trias dar. Mit der Schließung des Bündner Lehrerseminars im Jahr 2005, dessen Eingliederung in die Pädagogische Hochschule und der Umsiedlung an einen anderen Standort konnte die inzwischen massiv unter Raumnot leidende Kantonsschule den Gebäudekomplex an der Plessur übernehmen, der 1999 bereits durch einen gläsernen Trakt von Bearth & Deplazes erweitert worden war. Im Zusammenhang mit dieser Übernahme wollte man den „Halde“ genannten Standort auf der Höhe – also die Bauten von Max Kaspar – zunächst abreißen und die Anlagen zukünftig ganz im Bereich Plessur zu konzentrieren. Ein Referendum hat dies 2004 verhindert. Die Churer Architekten Jüngling&Hagmann unterzogen den Halde-Campus zwischen 2007 und 2010 einer Vollsanierung. Inzwischen ist auch die Ertüchtigung des einstigen Lehrerseminars – nach Plänen von Pablo Horváth – weitgehend abgeschlossen. Neben den technisch und energetisch begründeten Sanierungsarbeiten ging es auch um die Ästhetik, also darum, wie das Erscheinungsbild dieser bemerkenswerten Beispiele für die Architektur der sechziger und siebziger Jahre erhalten werden kann.
Direkte Verbindung
Der Entscheid, die beiden Standorte der Kantonsschule südlich der Altstadt von Chur beizubehalten, zwang aber nicht nur zur Sanierung der beiden Schulkomplexe, sondern auch dazu, eine bessere Verbindung zwischen ihnen zu schaffen. Zwar werden die Bauten von Liesch und Kasper durch die sich den Hang emporschlängelnde Straße nach Arosa verbunden, doch ist diese zu schmal, es gibt keine Trennung von Fahrbahn und Fußweg und sie ist für die Schulkinder eine Gefahr – von einer behindertengerechten Erschließung ganz zu schweigen. Für die 30 Meter Höhendifferenz wurde also nach einem anderen Weg gesucht. In einem vom Kanton Graubünden ausgeschriebenen Wettbewerb konnte sich 2009 das Zürcher Büro von Philipp Esch und Stephan Sintzel mit einem Projekt durchsetzen, das spannungsvoll mit der Topografie umgeht. Ausgangspunkt des Entwurfs war die weitgehend in den Hang eingetiefte, in Süd-Nord-Richtung verlaufende Achse des Schräglifts, der mit einer Kabine bestückt ist und unteres und oberes Niveau auf direkter Linie verbindet. Für Fußgänger wäre diese Verbindung viel zu steil, sodass die Wegstrecke nicht parallel geführt wurde, sondern die Achse des Lifts gleichsam umspielt. Die Treppenstruktur setzt früher ein, begleitet die Lifttrasse ein Stück, knickt dann nach Westen ab, kehrt um 180 Grad, trifft wieder auf die Liftachse und folgt ihr schließlich, um oben an der gleichen Stelle wie der Lift einzutreffen.
Im Grundriss wirkt das Konzept, das einer orthogonalen Logik folgt, stringent und fast unspektakulär. Komplizierter zeigt sich der Schnitt. Hier wird erkennbar, wie die Architekten mit der von steil abfallenden Felsformationen und sich staffelnden Böschungsmauern geprägten Hangsituation umgehen. Die Treppe nimmt sozusagen Anlauf, durchstößt in einer großformatigen Portalöffnung die Straßenmauer, unterquert die Straße, schlägt einen Haken und tritt dann aus dem Hang heraus. Wo nötig, ist die Wegführung schachtartig in den Hang hineinbetoniert, wo möglich, verläuft sie parallel auf der Terrainlinie.
Umhüllt sind die aus dem Boden heraustretenden Teile von einer Struktur aus verschweißtem Corten-Stahl, die nicht nur mit dem Weinlaub und den Böschungsmauern harmoniert, sondern auch als Anspielung auf die einstigen Corten-Stahl-Fassadenelemente der Kantonsschule gelten kann. Die 12 Millimeter starken Platten sind im Inneren zwecks Verstärkung der Helligkeit weiß gestrichen. Fast meint man, die neue Treppenpassage sei eine Art Fortsetzung der westlichen Arkadenvorhalle der Kirche – was gar nicht so abwegig ist, denn als Referenz verweisen die Architekten auf die Sacri Monti und die Wallfahrtskirchen Oberitaliens mit ihren sich die Hänge emporziehenden Arkadengängen – konkret den Aufgang zum Santuario della Madonna di San Luca bei Bologna.
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