Spurensicherung
Am fünften Jahrestag des Massakers vom 22. Juli 2011 wurden auf der norwegischen Insel Utøya diverse Neubauten eingeweiht. Damit ist die „Rückeroberung“ durch ihre Eigentümerin, die sozialdemokratische Jugendorganisation AUF, abgeschlossen. Anlass für einen Rundgang.
Text: Ballhausen, Nils, Berlin
Spurensicherung
Am fünften Jahrestag des Massakers vom 22. Juli 2011 wurden auf der norwegischen Insel Utøya diverse Neubauten eingeweiht. Damit ist die „Rückeroberung“ durch ihre Eigentümerin, die sozialdemokratische Jugendorganisation AUF, abgeschlossen. Anlass für einen Rundgang.
Text: Ballhausen, Nils, Berlin
Wir setzen mit dem Transportschiff MS Thorbjørn auf die Insel über. Am Festland dachten wir an das Gemälde von Arnold Böcklin: „Toteninsel“. Einer möchte wissen, ob dies dasselbe Boot ist, mit dem der Attentäter hier anlangte, nachdem er die Bombe im Regierungsviertel gezündet hatte? Ja, antwortet der Osloer Architekt Erlend Blakstad Haffner, sogar der Kapitän sei noch derselbe, habe dieser Tage allerdings Urlaub: ein hartgesottener Bursche, habe mit ansehen müssen, wie seine Lebensgefährtin, die Insel-Managerin, als eine der Ersten von dem Massenmörder erschossen wurde. Nun gehen wir den Weg hinauf, wo es passierte, vorbei am weißen Haupthaus, und biegen nach links auf einen Waldweg. Dort, in der „Schulstube“, haben die 77 Verbarrikadierten nur überlebt, weil der Attentäter das rote Holzhaus nicht, wie geplant, in Brand setzte – er hatte sein Feuerzeug vergessen. Plötzlich stoppt Erlend. Man möge ihn bitte nicht falsch verstehen: Dass er die grausigen Fakten etwas beiläufig erzähle, liege daran, dass er durch die intensive Beschäftigung mit der Insel eine gewisse Distanz zum Geschehen aufgebaut habe. Vielleicht Selbstschutz? Er geht weiter, hinter sich ein Grüppchen immer stiller werdender Besucher.
Dies ist keine übliche Architekturbesichtigung. 69 Menschen sind hier von einem Rechtsextremisten erschossen worden, die meisten waren zwischen 14 und 21 Jahre alt, allesamt Mitglieder der Arbeiders Ungdomsfylkning (AUF), der Jugendorganisation der sozialdemokratischen Arbeiderpartiet. Das mehrtägige Sommercamp endete in einem der schlimmsten Verbrechen der norwegischen Geschichte. Utøya war plötzlich weltbekannt.
Ein Jahr nach dem schwarzen Freitag verkündete der damalige AUF-Vorsitzende Eskil Pedersen, man werde sich die Insel „zurückerobern“ und nach einer überfälligen Modernisierung der Bauten hier auch wieder politische Sommercamps durchführen. Mit der Neuplanung beauftragte man das Büro Fantastic Norway aus Oslo, das sich einen Namen gemacht hatte, indem es als „mobiles Architekturbüro“ einige Jahre mit einem roten Wohnwagen durchs Land getourt war und Debatten über Architektur und Stadtentwicklung initiiert hatte. Die Visualisierungen zeigten badende Jugendliche und neue Holzbauten. Doch diese Bilder kamen viel zu früh.
Die Architekten gerieten mit ihrem Projekt zwischen die Fronten. Auf der einen Seite die Hinterbliebenen mit ihren Vorstellungen, was an diesem Ort geschehen und was unterbleiben solle; auf der anderen Seite die Bauherrin AUF, die ihre Insel wieder in die politische Arbeit einbinden wollte, wie seit über sechzig Jahren. Dazwischen eine Regierung, die wegen des multiplen Versagens der Sicherheitskräfte an jenem Tag wie gelähmt war, und all das unter den Augen der Öffentlichkeit – eine der heikelsten Baustellen seit Ground Zero. Der Konflikt führte dazu, dass der Neuprogrammierung mehr Zeit eingeräumt wurde. Im Überarbeitungsprozess ging es darum, die unterschiedlichen Interessen zusammenzuführen. Die Wege der beiden Partner von Fantastic Norway indes trennten sich. Seitdem leitet Erlend Blakstad Haffner das Projekt alleinverantwortlich. Ihn habe die Rolle des Moderators eher herausgefordert als abgeschreckt, sagt er.
Die staatliche Gedenkstätte wird nicht auf der Insel errichtet, sondern auf der Landzunge Sørbråten, rund 500 Meter entfernt (Bauwelt 13.2014). Das intimere Denkmal der Hinterbliebenen, ein zwischen Kiefern hängender Stahlring mit den Namen der Toten, befindet sich an einer kleinen Waldlichtung auf Utøya, wobei auf einen Ort geachtet wurde, der „unbelastet“ von den damaligen Geschehnissen ist. Dies gilt auch für den Bauplatz der neuen Versammlungs-, Veranstaltungs- und Serviceräume, die nun auf der gerodeten Kuppe einen viereckigen Platz bilden. Schlichte Holzbauten mit steilen Satteldächern und Sälen für mehrere hundert Menschen.
Etwas abseits dieses neuen Ensembles steht das „Hegnhus“, ein Name, der schlecht zu übersetzen, aber mit dem deutschen Wort „hegen“ zu tun hat: bewahren, schützen, pflegen, sich kümmern. Hier wird die Tragödie so sachlich wie eindringlich veranschaulicht. Im Mittelpunkt steht das alte barackenartige Café-Gebäude, in dem dreizehn Jugendliche erschossen wurden und neunzehn weitere, versteckt in Sanitärzellen, überlebten; andere flohen durch einen Sprung aus dem Fenster. Die vom Geschehen berührten Gebäudeteile sind wie ein Präparat freigelegt und mit einem vitrinenartigen Gehäuse überbaut worden. In seiner verdrehten Ausrichtung fügt es sich in die Achse der Neubauten ein. Das Hegnhus steht „für eine neue Schicht, ein neues Kapitel der Inselgeschichte“, so Blakstad Haffner.
Das Innere lässt sich auf zwei Ebenen betreten: Das Kellergeschoss ist bis auf die betonierten Punktfundamente „ausgekratzt“, sodass die Besucher nun unter den Holzbau gelangen, wo eine kleine Videoprojektion gezeigt wird. Im Obergeschoss der alten Cafeteria trifft man zunächst auf eine Ausstellungswand, die den 22. Juli 2011 rekapituliert, ergänzt um abgedruckte SMS-Dialoge zwischen besorgten Eltern und ihren Kindern. Hinter jener Wand wird deutlich, warum es richtig war, diesen schwierigen Weg zu gehen anstatt Tabula rasa zu machen. Der stehengebliebene Rest des Saals zeigt die Einschusslöcher in den Wänden. In der Ecke das Klavier, hinter dem sich einige Jugendliche zu verstecken versuchten. Am Boden liegen Porträts der Opfer, Blumen, Kerzen oder Handgeschriebenes. Es gibt weder Absperrungen noch ein Leitsystem. Wer hier herkommt, weiß, worum es geht und wie er sich bewegen muss. Diese unmittelbare, nüchterne Form der „Präsentation“ hinterlässt ein beklemmendes Gefühl.
Dem sinnlosen Sterben nachträglich einen Sinn verleihen. Die Insel (wieder) als politisches Instrument zu nutzen statt als Toteninsel. Den Mörder nachträglich zum Multiplikator einer ihm verhassten Weltanschauung machen. Diese Absichten rechtfertigen die Neubauten auf Utøya.
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