Das große Nebeneinander
Mit dem neuen Hauptbahnhof erreicht Wien im Schienenverkehr das 21. Jahrhundert, wenn auch mit Verspätung. Im Neubauviertel rings um den Terminal vermisst man allerdings die überfälligen Weichenstellungen für eine nutzungsdurchmischte Stadt
Text: Seiß, Reinhard, Wien
Das große Nebeneinander
Mit dem neuen Hauptbahnhof erreicht Wien im Schienenverkehr das 21. Jahrhundert, wenn auch mit Verspätung. Im Neubauviertel rings um den Terminal vermisst man allerdings die überfälligen Weichenstellungen für eine nutzungsdurchmischte Stadt
Text: Seiß, Reinhard, Wien
Seit Mitte Dezember führen die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) ihre Fernzüge über den neuen Wiener Hauptbahnhof. Einzig die Züge von und nach Westen steuern weiterhin den Westbahnhof an, der unter Wiens Kopfbahnhöfen nunmehr der letzte von Bedeutung ist. Ansonsten beendet der neue Durchgangsbahnhof die Rolle Wiens als Prellbock im mitteleuropäischen Schienennetz: War die Donaumetropole lange Zeit der Endpunkt aller Bahnreisen (als Zentrum des Habsburgerreichs und auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg, umgeben vom Eisernen Vorhang), bestand ab 1989 der Bedarf, auch von München nach Budapest oder von Graz nach Prag zu fahren, ohne sich in Wien mit der Tramway von einem Terminal zum anderen durch die Stadt quälen zu müssen.
In Vollbetrieb geht der neue Zentralbahnhof freilich erst Ende dieses Jahres – auch wenn er inzwischen schon drei Mal feierlich eröffnet worden ist: zunächst 2012, als die ersten Nah- und Regionalverkehrszüge hielten; dann im Oktober 2014, als die 20.000 Quadratmeter große Shopping Mall in der „Bahnhof City“ vom Bundespräsidenten persönlich dem Volk über-geben wurde; und schließlich im Zuge des jüngsten Fahrplanwechsels der ÖBB kurz vor Weihnachten. Die mit Abstand pompöseste Eröffnung war jene im vergangenen Herbst, was nicht nur ein bezeichnendes Licht auf das Niveau der Politik wirft, die sich – von der Staatsspitze bis zum Wiener Bürgermeister – nicht zu schade ist, für ein Einkaufszentrum Pate zu stehen. Es verdeutlicht auch die Dominanz der Funktion Handel über jene des Reisens in den heutigen „Kathedralen des Verkehrs“.
Als solche wurde der Bahnhof von Theo Hotz, Ernst Hoffmann und Albert Wimmer aber auch gar nicht geplant. Vielmehr handelt es sich um einen Zweckbau, der eines der unscheinbarsten Gebäude im Bahnhofsviertel sein wird, das bis 2025 auf knapp 60 Hektar ehemaliger Gleisflächen entstehen soll. Nur gut, dass vor dem „Reise Center“ der ÖBB – einer Nische im dreigeschossigen Einkaufszentrum – Fotos des 2010 abgerissenen Südbahnhofs aus den Fünfziger Jahren noch an die einstige Idee großer Bahnhöfe erinnern. Heute entsteht die repräsentative Architektur vor allem rings um den Verkehrsknoten: Zu beiden Seiten des mächtigen Bahnviadukts, das Wiens bedeutendstes innerstädtisches Stadtentwicklungsgebiet in zwei Teile zerschneidet, sind elf Türme mit Höhen von 60 bis 100 Metern geplant, überwiegend für Büros. Einen Vorgeschmack darauf vermittelt die frisch bezogene Konzernzentrale der ÖBB nach Plänen von Zechner & Zechner: Der 88 Meter hohe Turm verschließt sich im Erdgeschoß an drei Gebäudeseiten dem öffentlichen Raum.
Was sich vor Ort noch nicht abzeichnet, erschließt sich bei einem Blick auf den Bebauungsplan aber jedem: Der Freiraum in diesem Hochhaus-Cluster wird wenig Aufenthaltsqualität bieten, und das nicht nur wegen der öden Sockelzonen, die bei Wiener Wolkenkratzern bereits traurige Tradition haben. Auch wegen der immensen städtebaulichen Dichte wird zwischen den Türmen kaum urbanes Flair aufkommen. Sie ist Produkt eines Masterplans, der weniger auf urbanistischen Überlegungen als vielmehr auf den Bemühungen beruht, durch Bodenwertsteigerung eine Umwegfinanzierung für das eine Milliarde Euro teure Infrastrukturprojekt zu lukrieren. Diesem Ziel dürfte die Stadtplanung unterworfen worden sein, denn anders wäre es nicht zu verstehen, dass in unmittelbarer Nähe zur Favoritenstraße, einer der wichtigsten Einkaufsstraßen Wiens, besagtes Shopping Center mit 90 Geschäften genehmigt wurde. Sie werden den gewachsenen Branchenmix in der benachbarten Fußgängerzone gehörig durcheinanderbringen und wohl nicht zum Besseren verändern.
Neben der Ballung an Handelsflächen und Bürotürmen entsteht im südlichen Bereich des neuen Stadtteils ein – wiederum monofunktionales – Wohnviertel, das ebenfalls der Idee der maximalen Bodenausnutzung folgt. Die östliche Hälfte, das Sonnwendviertel, ist fast fertig, die westliche Hälfte in Entwicklung – dazwischen ist bis 2017 ein 70.000 Quadratmeter großer Park im Entstehen. Er zeugt von der bereits in anderen Neubauvierteln erprobten Philosophie des Wiener Städtebaus, wonach nicht mehr die Bauträger auf ihren Grundstücken den Grün- und Spielflächenbedarf stillen, sondern die öffentliche Hand dies auf Kosten der Steuerzahler übernimmt. So drängen sich im Sonnwendviertel die Wohnbauten dicht gestaffelt
aneinander, bis zu zehn Geschosse hoch, und offenbaren, dass nicht nur Politik und Wohnungswirtschaft „Sozialen Wohnbau“ neu, für Wiener Verhältnisse geradezu neoliberal interpretieren, sondern auch manche Architekten einen eigenwilligen Zugang zu diesem Thema gefunden haben. So gibt es Wohnungen im Souterrain ebenso wie Loggien unter Erdniveau. Licht, Luft und Sonne, die Wohnbau-Standards seit den Zwanzigern, scheinen für das Leben in der Großstadt nicht mehr von Belang zu sein.
aneinander, bis zu zehn Geschosse hoch, und offenbaren, dass nicht nur Politik und Wohnungswirtschaft „Sozialen Wohnbau“ neu, für Wiener Verhältnisse geradezu neoliberal interpretieren, sondern auch manche Architekten einen eigenwilligen Zugang zu diesem Thema gefunden haben. So gibt es Wohnungen im Souterrain ebenso wie Loggien unter Erdniveau. Licht, Luft und Sonne, die Wohnbau-Standards seit den Zwanzigern, scheinen für das Leben in der Großstadt nicht mehr von Belang zu sein.
Dem gegenüber stehen architektonische Allüren, die allein der Auffälligkeit des Gebauten dienen – den Bewohnern außer Mehrkosten aber nichts bringen. Delugan Meissl Architekten beispielsweise bereichern die Baugeschichte zwecks Rhythmisierung ihrer Fassade (Heft 15.2014) mit der Erfindung einer „Unterlichte“ (als Gegenstück zur Oberlichte): ein querliegendes Fenster, das am Fußboden ansetzt und etwa bis zum Knie hinaufreicht. Die Innenhöfe der Baublöcke bieten wenig mehr als Restflächen, deren spärliches Grün durch die massiven Entlüftungen und Belichtungen der Tiefgaragen noch zusätzlich eingeschränkt wird. Der Freiraum auf der Straßenseite wiederum ist mangels attraktiver Erdgeschossnutzungen durchwegs trostlos: Kein einziges Geschäft findet sich in den Dutzenden Wohnbauten – zum einen, weil die Wohnungsgesellschaften aus Bequemlichkeit Mischnutzungen scheuen, zum anderen, weil die Stadt Wien nicht darauf drängt. Dagegen sind die Straßen trotz immenser Stellplatzkapazitäten unter der Erde großzügig mit Parkplätzen ausgestattet.
An sich würden die Versatzstücke des Hauptbahnhofviertels ausreichen, um daraus einen vitalen Stadtteil zu gestalten. Angesichts der völlig unzeitgemäßen Trennung von Wohnen, Arbeiten und Einkaufen scheint es aber schon heute fraglich, ob hier jemals ein so urbanes Quartier entstehen wird, wie es die zentrale Lage erlauben würde. Dabei hätte allein die unvergleichlich gute Erschließung des Standorts durch öffentliche Verkehrsmittel den Verantwortlichen im Rathaus nahelegen müssen, von den Investoren deutlich mehr Qualität einzufordern – und sich selbst einer nachhaltigen Stadtteilentwicklung zu verschreiben.
3 Kommentare