Bauwelt

Die Stadt als Geldmühle

Investoren entdecken in Stuttgart das Wohnen – im Luxussegment. Die Projekte der Entwickler liegen immer öfter im Kern der City – und machen vor heraus­ragenden Bürobauten nicht halt

Text: Marquart, Christian, Stuttgart

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Wie viele schicke Wohnungen und Lofts passen in dieses erhaltenswerte Stuttgarter Bürohaus? Reiß & Co. Real Estate zieht Abriss und Neubau vor.
Foto: Christian Marquart

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Wie viele schicke Wohnungen und Lofts passen in dieses erhaltenswerte Stuttgarter Bürohaus? Reiß & Co. Real Estate zieht Abriss und Neubau vor.

Foto: Christian Marquart


Die Stadt als Geldmühle

Investoren entdecken in Stuttgart das Wohnen – im Luxussegment. Die Projekte der Entwickler liegen immer öfter im Kern der City – und machen vor heraus­ragenden Bürobauten nicht halt

Text: Marquart, Christian, Stuttgart

Über Jahrzehnte hinweg nagte an den Stuttgartern, dass ihre Landeshauptstadt mitsamt der eingebauten schwäbischen Mentalität nicht entfernt so angesagt war wie die Bayern-Metropole München: Die Münchner kommen gut zurecht mit Bürgermeistern aus dem Sozi-Lager und parallel mit der allzeit irrlichternden CSU-Landespolitik; auch mit der Spannung zwischen Schwabinger Bohême und boomenden Quartieren jenseits des Altstadtrings. München präsentiert sich im Habitus so adrett wie eine Spielerfrau aus dem Milieu des FC Bayern, während Stuttgarts Standardgarderobe stets die Kittelschürze der Putzkraft beim VfB war.
Der stylische Kleinmut der Schwaben schien auf dem Rückzug, als die Stuttgarter 2010 im späten Protest gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 die Kunstfigur „Wutbürger“ erfanden, deren Widerstand sich bis heute an der im Doppelsinn unterirdischen Maulwurf-Utopie des Bahnreisens abarbeitet. Andere urbane Konflikte finden in Stuttgart wenig Aufmerksamkeit. In Stadt und Land regieren mittlerweile grüne Mehrheiten, bis jetzt ohne Ehrgeiz, eine „grüne“ Handschrift in Sachen räumlicher Planung sichtbar zu machen.
Und nun? Kommt ein Münchner Investor namens Reiß & Co. Real Estate (Corporate Mission: „Gelegenheiten erkennen, Chancen wahrnehmen“), erwirbt mitten in Stuttgart, nahe der angenagten Bonatz‘schen Bahnhofs-Ikone, zum Schnäppchenpreis den alten Firmensitz der „Energieversorgung Schwaben“, welche 1997 mit dem badischen Schwesterunternehmen zur „EnBW“ fusionierte. Reiß & Co. will hier am Nordrand des Citykerns, unterhalb des rebenbewachsenen Kriegsbergs 300 bis 500 Wohnungen der gehobenen Klasse realisieren (Werbe-Claim: „Kreativ in der Entwicklung, konservativ in der Ausführung“). Das Unternehmen kennt sich aus, es hat bereits auf einer Konversionsfläche des „21“-Projekts gebaut: eine größere Wohnanlage namens „Pariser Höfe“ im „Europaviertel“. Nicht schlecht, aber so wenig inspiriert wie alles andere, was auf diesem Gelände bisher entstand.
Nun ja, eine Abrissgenehmigung gab’s 2015 bei dem Immobiliendeal mit der EnBW obendrauf, obwohl der Gebäudekomplex (begonnen von den Architekten Kammerer, Beltz, Kucher + Parner, 1976) jedenfalls in seinem zweiten Bauabschnitt (fertiggestellt 1997 nach Plänen von LRO-Architekten Lederer, Ragnarsdóttir, Oei) als eines der wenigen herausragenden Beispiele zeitgenössischer Verwaltungsarchitektur in Stuttgart gelten darf. Denkmalschutz? Greift nicht, denn die Behörde befand: Der Altbau sei zu sehr verändert, der Erweiterungsbau von LRO zu neu. Notabene: Schwabens Denkmalpfleger machen ihre Schutzobjekte ungern publik, aus Datenschutzgründen: Das erzählen die Kuratoren der Ausstellung „Stuttgart reißt sich ab“, die bis 18. September am Weißenhof gezeigt wird.
Mutmaßlich der von der „Immobilienzeitung“ kolportierte Kaufpreis für den EnBW-Komplex (lumpige 22 Millionen Euro für ca. 22.000 Quadratmeter Nutzfläche – weder bestätigt noch dementiert) ließ die Erwerber beim Erstkontakt mit den entgeisterten Architekten vor einigen Wochen nach Angaben von Marc Oei (LRO-Partner) leger von einem „Grundstück“ sprechen. Als Reiß & Co. – die eine Umnutzung des Komplexes jetzt doch „prüfen“ – zunächst von den Architekten wissen wollten, ob sie an einem Architektenwettbewerb teilnehmen oder in der Jury mitwirken würden, lehnten diese ab; aber LRO sei bereit und motiviert, mit dem Investor die Umnutzung des Gebäudbestands anzupacken.
Letzteres empfiehlt sich, sofern die Kommune nicht den geltenden B-Plan zu ändern bereit ist. Bei der Realisierung des seit Jahren leerstehenden EnBW-Komplexes – in dem noch vor Monaten aufgrund steter Nachfrage Architekturführungen stattfanden – wurden 1997 erhebliche „Befreiungen“ gewährt, die im Falle von Abriss und Neubau nicht mehr greifen. Stuttgarts Baudezernent Peter Pätzold jedenfalls wehrt sich, ohne einen formellen Auftrag des Gemeinderats contre cœur das Baurecht zu lockern. Sollte es dabei bleiben, würde die dann zwingend flach gelagerte Unterbringung von 300 oder gar 500 Wohnungen der gehobenen Klasse mindestens schwierig, wenn nicht ein formidables Zauberkunststück. Nebenbei ist die Wohnlage der Immobilie in Bahnhofsnähe direkt an der vielspurigen, vielbefahrenen Kriegsbergstraße keine attraktive. Aber der Investor schließt ja nicht aus, einen „Teil der Flächen ... einer gewerblichen Nutzung“ zuzuführen. Vielleicht als Hotel?
Die Selbstdarstellung von Reiß & Co. Real Estate auf ihrer Homepage (www.reissco.de) erzählt von einem hohen baukulturellen Anspruch: „Wir schaffen langfristige Immobilienwerte, indem wir kaufmännische und ästhetische, konzeptionelle und architektonische Aspekte ausgewogen miteinander verbinden. Unser Ziel ist es, dass die von uns betreuten Immobilien ... über Generationen Bestand haben.“ Eine Stellungnahme von Reiß & Co. zum Leistungsprofil der Bestandsgebäude an der Kriegsbergstraße klingt anders, eher nach einem semantisch verschleierten Abrissantrag: Entsprächen doch die „über 20 Jahre alten Gebäude nicht mehr den aktuellen Energie-, Flexibilitäts-, Nachhaltigkeits- und Umweltstandards.“ Nun, gerade LRO ist bekannt für energetisch intelligent und nachhaltig gebaute Häuser, die das Prädikat „Architektur“ verdienen – dazu zählt auch der Erweiterungsbau des EnBW-Komplexes. Jener kam in Zeiten seiner Nutzung fast ohne Heizung aus und erhielt, wie viele andere LRO-Bauten, (auch) für solche Qualitäten Preise. LRO-Bauten sind im Investoren-Jargon echte „Signature-Buildings“. Wissen die das bei Reiß & Co.? Bliebe der dem Kriegsberg zugewandte Gebäudeteil des EnBW-Quartiers in der Handschrift von LRO – mit Hilfe des Baurechts und des Beistands von Stuttgarter Wutbürgern in gewohnt letzter Minute – in seinem herausragenden ästhetischen Erscheinungsbild erhalten – dann wollen wir jede Wette eingehen, dass im Vergleich dazu die „Pariser Höfe“ von Reiß & Co. in 20 Jahren „über Generationen“ hinweg keinem Standard jenseits des Mittelmaßes mehr genügen.

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