Die Tücken eines Monsterprojekts
Interview mit Friedrich Achleitner
Text: Geipel, Kaye, Berlin
Die Tücken eines Monsterprojekts
Interview mit Friedrich Achleitner
Text: Geipel, Kaye, Berlin
Nie zuvor ist die Architektur eines Landes derart vollständig dokumentiert worden. Seit 1965 hat der österreichische Architekturkritiker und Schriftsteller Friedrich Achleitner sein Land systematisch abgelaufen, Häuser fotografiert, nach Plänen gesucht, ein riesiges Archiv angelegt und dann in fünf Bänden „Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert“ auf den Punkt gebracht.
Die Architekturbibliothek im Wiener Museumsquartier ist ein Eldorado. Leicht zugänglich, mit einer überwältigenden Sammlung von Büchern, allen nur denkbaren Architekturzeitschriften und einem aufmerksamen Bibliothekar. Im Nachbarflügel ist das Architekturzentrum Wien untergebracht, mit einer opulenten Dauerausstellung über die österreichische Architektur und einer weltoffenen Forschung im Hintergrund – ein Zentrum, wie man es sich anderen Großstädten auch wünschen würde.
Eine Wendeltreppe führt von der Bibliothek des AzW unter das tonnenförmige Dach. Dort lehnen Blechkisten und Planschränke, dort befindet sich das 1999 von der Stadt angekaufte Achleitner-Archiv, Domäne der beiden Archivarinnen Ute Waditschatka und Monika Platzer.
Friedrich Achleitner kommt die Treppe herauf, zwischen einem Planschrank und einem Stahlregal sind noch zwei Stühle frei. Sein durch die runde Brille zentrierter Blick könnte den Besucher daran erinnern, wie der Stadtspaziergänger Bauwerk für Bauwerk ins Auge fasst und dann in kurzen Sätzen auf wenige Eigenschaften festnagelt. Dass Achleitner Spracharbeiter ist, merkt man. Dass er vor 50 Jahren, im Rahmen der Experimente der Wiener Gruppe, auch einmal ein Klavier zertrümmert hat, merkt man nicht mehr. Im vergangenen Mai ist er achtzig geworden. Der von ihm herausgegebene letzte Band seines Architekturführers „Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert“ ist inzwischen erschienen, Wien ist nach fünfzehn Jahren endlich komplett. Aber der verflixte allerletzte Band über Niederösterreich – der fehlt noch. Das muss jetzt ein anderer machen, sagt er gleich zu Anfang. „Vielleicht der Otto Kapfinger, der könnt’s schon. Aber er ziert sich noch.“
Das Großprojekt einer Archivierung fast der gesamten österreichischen Architektur des 20. Jahrhunderts – Sie haben es im letzten, vor kurzem erschienenen Band über die Ränder von Wien als „Monsterprojekt“ bezeichnet. Begonnen hat es bescheidener?
Friedrich Achleitner | 1965 habe ich damit angefangen, Österreich zu bearbeiten. Ursprünglich wollte ich einen Band über ganz Österreich machen. Wie man damals die Architekturführer so kannte, mit Highlights und kurzen Texten. Wien war damals eher überdokumentiert. Da es über die westlichen Bundesländer Österreichs aber kaum Publikationen gab, hab ich in Vorarlberg begonnen. Ich habe dann ganz systematisch die größeren Ortschaften und alle Städte begangen. Was den Architekturbegriff betrifft, so hatte etwa ein Roland Günter damals gerade die ersten Arbeitersiedlungen im Ruhrgebiet dokumentiert. In den späten fünfziger und sechziger Jahren hatte man ja erst begonnen, die Moderne zu entdecken und aufzuarbeiten. Ab 1968 änderte sich der Architekturbegriff total. Für mich hat sich gezeigt, dass man nicht mehr mit einem klassischen, ästhetisch orientierten Architekturbegriff arbeiten kann. Fünfzehn Jahre hat es gedauert, bis dann 1980 der erste Band über die vier Bundesländer erschien. Das waren Tirol, Vorarlberg, Salzburg und Oberösterreich. 1983 kam der Band mit Kärnten, Steiermark und Burgenland. Ab 1990 die Wien-Bände.
Wir stehen vor schwarzen Schränken, Schubladen mit Hängeregistern werden herausgerollt, Friedrich Achleitner kramt, zieht aus dem Wien-Archiv einige Karten hervor und erläutert die Systematik.
Lässt sich die Architektur einer Stadt, ja von ganzen Bundesländern überhaupt „katalogisieren“?
Ich habe mir eine Ordnung zurechtgelegt. Das war zuerst eine kleine Hängekartei, das waren noch A6-Karten. Ganz bescheiden. Wenn man dann mehr fotografiert und die Literatur dazu sammelt usw., wird das Format halt zu klein. Geordnet war es nach Kategorien: öffentliche Verwaltungsbauten, Kirchen, Kulturbauten, Hochschulen, Schulen, städtische Häuser mit gemischten Nutzungen, sozialer Wohnbau, Einfamilienhäuser, Siedlungen, dann Heime, Lokale, Banken, schließlich Gewerbe und Industriebauten bis zu Verkehrs- und landwirtschaftlichen Bauten.
Wenn Sie eine Karte rausziehen, dann muss sie auch wieder an ihren Platz zurück? Wie haben Sie mit dem Archiv gearbeitet?
Das analoge System hat den Vorteil, dass man die Objekte leichter überblickt. Man kann die Karten nebeneinanderlegen. Man sieht mit einem Blick unterschiedliche Qualitäten. Wenn ich mir zum Beispiel die städtischen Wohnbauten ansehen will, kann ich sie auch chronologisch auflegen, nicht nur geographisch oder topographisch. Ich sehe sofort die Entwicklungen in einer Stadt. Es ist ein unglaublich flexibles System. Vor allem auch sehr sinnlich.
Hatten Sie von Anfang an eine Vorstellung, wie dieses Archiv wachsen würde?
Na, eben nicht. Nicht einmal eine vage Idee.
Was ist zum Beispiel in dieser Rubrik mit den schwarzen Reitern?
Wir haben etwa die gleiche Menge an ausgeschiedenen Sachen. Die sind schwarz markiert, das sind die, die nicht behandelt werden im Architekturführer. Der Bestand ist aber da. Man kann notfalls nachschauen, wenn man wissen will, von wem ein Bau ist. Es ist ja oft so: man fotografiert so vollständig wie möglich. Und dann wählt man aus. Diter Rot hat mir einmal gesagt, ich solle jedes Haus von Österreich dokumentieren. Solche Ratschläge geben dann Freunde.
Wie haben Sie die Begehungen organisiert? War das straßenweise organisiert?
Was Wien angeht, gab es die „Feuerwehrpläne“, das sind 360 an der Zahl im Maßstab 1:2000. Das ist ein guter Maßstab, und es gab die Hausnummern. Wir haben einfach drei, vier Blätter mitgenommen und sind losgegangen. Das geschah bezirksweise. Im 1. Bezirk wurde begonnen. Da kann man sowieso alles fußläufig machen. In den Außenbezirken musste man zu bestimmten Punkten fahren, dann erst sind wir losgelaufen. Jenseits der Donau war dann sowieso der Teufel los, was das Bauen betrifft. Die Bezirke 19 bis 23 sind so groß wie das halbe Wien, darum ist der dritte Band auch so dick geworden.
Bei den Wien-Bänden ist wirklich jedes Haus aufgenommen worden?
Zumindest haben wir sie alle angeschaut. Es gab natürlich Grauzonen. Zum Beispiel Döbling, überwiegend ein Villenviertel. Man geht durch einen Park zu einer Villa, die ist oft abgesperrt. Wenn wir es sehen wollten, haben wir versucht, die Besitzer ausfindig zu machen und sie anzurufen. Und dann lebten diese im Ausland. Noch schwieriger waren die Botschaften. Die Amerikaner waren nach 9/11 völlig hysterisch.
Wien wurde komplett begangen. Und die Bundesländer?
Die Städte ja. Bei den Dörfern musste man Vorinformationen haben: „Da ganz hinten im Wald gibt’s eine Förstervilla.“ Die alpinen Berghütten waren ein eigenes Problem. Da sind wir natürlich nicht überall raufgefahren. Das geht gar nicht. Es gab also große Lücken. Der Führer ist auch nicht gedacht als enzyklopädische Dokumentation.
Wie steht es mit der städtebaulichen Struktur, die das Ganze zusammenhält?
Der Zusammenhang liegt beim Autor. Man kriegt im Laufe der Zeit eine große Erfahrung und hat sehr viel Vergleichsmöglichkeiten, mit dem ganzen Risiko der Irrtümer. Aber was ist Objektivität? Man kann sie anstreben, aber man muss wissen, dass sie nicht erreichbar ist. In meinem Fall war es so, dass ich die Wertung auf meine Kappe genommen habe. Aus!
Ihr eigener Blick hat dieses Archiv geprägt. Sie haben gesagt, Basis für diesen Blick sei eine distanzierte Anschauung. Eine Art von „Fremdgängertum“.
Ein Begriff von Heimito von Doderer. Ich habe meine ersten Erfahrungen in den fünfziger Jahren gemacht. Mit den Freunden von der Wiener Gruppe machten wir Fremdgänge, um die Stadt zu entdecken. Nicht die architektonischen Qualitäten haben uns interessiert, sondern eher die Unorte. Da gibt es das schöne Wort „gfäut“. Eine Mischung aus verfault und verfehlt. Nicht beschreibbare Orte, Brachen. Das hatte durchaus was mit dem Surrealismus der Nachkriegszeit zu tun.
Wir sind auf der Galerie der Bibliothek vor einer Reihe von Schränken angelangt, die Friedrich Achleitner alle aufschließt, mit Tausenden von Diaboxen.
Das „Ausland“ habe ich bei mir zu Hause im Atelier aufbewahrt. Ganz „Österreich“ ist hier. Ich habe nie gezählt, wie viele Fotos das sind. Das geht in die Hunderttausend.
Ihr Archiv ist geprägt von der Materialität der sechziger Jahre: die Karteikarten, die Blechschränke und Pappkisten, die Ordner und die Diakästen, ein System, das sich auch räumlich immer weiter ausdehnt. Heute gibt es andere Speichermöglichkeiten. Wie geht es weiter?
Das meiste, was Sie hier sehen, ist digitalisiert. Aber es ist ja so: Das Material als Film hält länger als die digitale Archivierung. Ich habe Dias aus den fünfziger Jahren, die sind tipptopp, Filme von Agfa. Die CDs sind für die Archive ein Zukunftsproblem, weil die Träger alle fünf bis zehn Jahre gewechselt werden müssen. Das geht ins Geld.
Wenn Sie Ihr Archiv mit digitalen Archivfunktionen vergleichen, etwa Google Street View. Das ist von der Systematik her ein Stück weit vergleichbar, ganze Straßenzüge sind da dokumentiert. Benutzen Sie solche Methoden?
Kaum. Das hat zwei Gründe: Erstens ist vieles unzuverlässig. Und zweitens besteht die Gefahr, dass ich beim Surfen süchtig werde. Schon wenn ich ein Lexikon in die Hand nehme, bleibe ich hängen. Das lässt mein Zeitgeiz einfach nicht zu.
Mit dem letzten Wien-Band ist ein Abschluss entstanden, eine gewisse Vollkommenheit. Stellen Sie sich vor, Sie würden heute noch einmal von vorne beginnen.
Jetzt würde ich wissen, wie es geht. Das ist der Unterschied. Aber ich will Ihnen noch ein anderes Problem verraten. Wenn ich heute in eine Stadt komme, nach Belgrad, Sarajevo oder sonst wohin: dann fange ich sofort mit einem Architekturführer an. Das ist bei mir inzwischen eine Art Obsession. Ich sehe Häuser und denke sofort, man müsste sie erforschen. Das ist ein Suchtphänomen. Andrerseits ist das mit den Städten so eine Sache: Wenn ich in Berlin bin, verschätze ich mich bei den Häusern oft um fünf bis zehn Jahre. Von Städten wie Barcelona oder Tokio will ich gar nicht reden. In Wien weiß ich es meistens aufs Jahr genau.
Die Idee der Vollständigkeit, die in Ihrem Archiv steckt?
Eine Wahnvorstellung. Es läuft einem ja auch die Zeit davon.
Über vier Jahrzehnte hinweg entstand dieses Archiv. Wie viel Zeit haben Sie...
Eigentlich war der Aufwand total. Wir haben fast keinen Urlaub gemacht. Ferien und Wochenenden waren der Arbeit gewidmet. Das geht gar nicht anders. Als die Kinder klein waren, sind wir manchmal eine Woche nach Piran gefahren. Meine Frau war oft mit dabei. Sie hat ein ganzes Bundesland mit aufgenommen, das Burgenland. Wintersemesterferien, ein Monat im Februar, da sind wir damals in metertiefem Schnee gewatet. Und mein Verleger, der Wolfgang Schaffler vom Residenz-Verlag, der wirklich ein großes Herz gehabt hat, war verzweifelt: „Ihr Wahnsinnigen. Wir können die Fotos nicht verwenden. Das Burgenland ist doch ein Weinland, wo es warm ist, und ihr bringt lauter Schneefotos.“ Das mussten wir in den Sommerferien dann nachholen.
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