Bauwelt

„Keine Alternative zur Urbanisierung der Favelas“

Interview mit Jorge Mario Jáuregui

Text: Schulz, Ole, Berlin

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Der Stadtplaner als Superheld? Batman besucht die Favela do Metrô nahe dem Maracana Stadion in Rio während der Proteste gegen die Fußball-WM am 9. Januar
Foto: Antonio Lacerda

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Der Stadtplaner als Superheld? Batman besucht die Favela do Metrô nahe dem Maracana Stadion in Rio während der Proteste gegen die Fußball-WM am 9. Januar

Foto: Antonio Lacerda


„Keine Alternative zur Urbanisierung der Favelas“

Interview mit Jorge Mario Jáuregui

Text: Schulz, Ole, Berlin

Vor 20 Jahren wurde mit „Bairro Favela“ das erste „Upgrading“-Programm für die Armenviertel von Rio de Janeiro aufgelegt. Der argentinische Architekt Jorge Mario Jáuregui, der die Leitung des Programms übernahm, im Interview über die Umgestaltung der Favelas
Herr Jáuregui, Sie sind bereits seit 20 Jahren in den Favelas von Rio de Janeiro tätig?
Seit dem Beginn des „Favela Bairro“-Stadtteilverbesserungsprogramms von 1994. Vorher hat hier weder die Stadt interveniert, noch gab es private Investoren, die sich für die Favelas interessierten. Wir gehören zu den 17 Büros, die damals den Wettbewerb gewonnen haben, und damit zu den ersten Architekten in diesen armen „comunidades“.
Was ist die größte Herausforderung, in diesen oft in Hanglage entstandenen, wild gewachsenen Vierteln als Architekt zu arbeiten?
Es sind äußerst komplexe Gebiete, in denen die anderswo gültigen Regeln kaum oder keine Geltung haben. In der formalen Stadt gibt es zudem eine deutliche Trennung zwischen privatem und öffentlichem Raum. In der Favela ist dagegen alles privat – und was nicht privat ist, hat keinen Wert. Darum wird der Müll einfach auf die Straße geworfen oder über einer kleinen Gasse ein Haus gebaut. Jeder kümmert sich nur um seine eigenen vier Wände. Die einzigen kollektiven Institu­tionen sind die Bewohnervereinigungen, manchmal auch Kitas und Schulen. Doch auch diese Ein­richtungen sind kaum im öffentlichen Raum aktiv.
Wie ist Ihre Vorgehensweise bei der Arbeit?
Weil die Budgets in der Regel knapp bemessen sind, muss man gut organisiert sein und die Mittel geschickt einsetzen. Wir arbeiten darum heute als Konsortium: Um die urbanistische und architektonische Seite kümmert sich mein Büro, das „Atelier Metropolitano“, andere Unternehmen bearbeiten Fragen der Infrastruktur – dazu gehören Kanalisation und Wasserversorgung ebenso wie Drainage, öffentliche Beleuchtung, Stromversorgung und Müllbeseitigung.
Und mit diesem Konsortium aus Architekten und Ingenieuren bewerben Sie sich bei öffentlichen Ausschreibungen?
Ja, und inzwischen haben wir große Erfahrung und entsprechendes Know-how auf dem Gebiet der sozialen und räumlichen Strukturierung in den Favelas.
Was bedeutet das genau?
Dass es zum einen um soziale Aspekte geht. Dafür werden Gespräche mit den Anwohnern geführt und auch Daten erhoben – zum Beispiel zum Bildungsstand, aber auch zu kul­turellen Eigenheiten und zur Geschichte der jeweiligen Favela. Zum anderen geht es um physische Aspekte. Wir haben im Laufe der Jahre eine eigene Methode entwickelt, die wir „Lesen der Ortsstruktur“ nennen. So ähnlich wie ein Arzt seinen Patientenuntersucht, tragen wir alle vorhandenen und neu erhobenen Informationen zusammen, etwa zur Topografie und zum Zustand der Versorgungsnetze, um sie am Ende in Plänen sichtbar zu machen. Dort ist dann auch zu erkennen, welche Orte Entwicklungspotenzial haben – wo es zum Beispiel leerstehende Gebäude gibt oder Brachflächen, die von der öffentlichen Hand genutzt werden könnten. Auf der anderen Seite wird aber auch deutlich, wo die größten Probleme bestehen, gerade bei der Infrastruktur.
Wenn man Ihre aufwendigen Studien und Kartografien sieht, entsteht der Eindruck, Sie übernehmen Aufgaben, um die sich normalerweise der Staat kümmert.
Zweifellos, und es liegt daran, dass der Stadtverwaltung unzureichende Informationen über diese Viertel zur Verfügung stehen. Für diese Arbeiten werden wir allerdings auch bezahlt.
In den Projekten spielt Bürgerbeteiligung eine große Rolle?
Ja, und dafür muss als erstes Vertrauen gewonnen werden. In der Regel geschieht das über Treffen zum Kennenlernen mit den Bewohnervereinigungen. Wir kommen dabei nicht mit leeren Händen, sondern immer mit einem ersten Entwurf. Dar­über wird dann gesprochen. Uns kommt dabei zugute, dass wir zwar im öffentlichen Auftrag handeln, aber keine städtischen Angestellten sind. Weil ich Argentinier bin, fällt umso mehr auf, dass ich kein „Favelado“ bin. Aber als linker Aktivist habe ich gelernt, dass der Dialog mit den Menschen entscheidend ist. Dafür muss man zuhören und die kleinteiligen Strukturen des betreffenden Gebiets kennenlernen – das geht nur durch Begehungen und Gespräche.
Als das „Favela Bairro“-Programm vor 20 Jahren aufgelegt wurde, feierte man es als Abkehr von einer Politik, die Bewohner armer Stadtviertel vorrangig umsiedelte, statt deren Quartiere zu entwickeln. Heute treten allerdings die Pro­bleme deutlicher zutage – gerade was die dauerhafte Pflege und den Erhalt der einst geförderten Maßnahmen betrifft.
Das ist fraglos richtig, aber immerhin wurden die Favelas durch das Programm als Stadtviertel anerkannt. Am Ende sind es politische Entscheidungen, wie viel Geld dort investiert wird. Dass es nicht mehr ist, liegt auch daran, dass die Favela-Bewohner zwar fast 30 Prozent der Bevölkerung von Rio ausmachen, aber das reicht eben nicht aus, um die Wahlen allein zu entscheiden. Außerdem sind die Favelas Orte, die nicht so sichtbar sind, und die politisch Verantwortlichen investieren lieber in Projekte, die auffallen – zumal die Arbeit in den Favelas immer kompliziert und kostspielig ist. Es gibt aber meines Erachtens keine Alternative zur Urbanisierung der Favelas, und immerhin hat die Stadt 2010 mit „Morar carioca“ eine Art Nachfolgeprogramm aufgelegt.
Daneben investiert auch der Bund in den Favelas. So sollen Sie mit Mitteln aus dem Wachstumsbeschleunigungs-Programm PAC (Programa de Aceleração de Crescimento) die Favela do Metrô im Viertel Mangueira in der Nähe des Maracanã-Stadions umgestalten.
Beim „Projeto Metropolitano“ geht es um ein Gebiet mit rund 1000 Wohneinheiten, die direkt an der Mauer einer Bahntrasse liegen. Es ist zum Wohnen ungeeignet und geprägt von kleinen Geschäften und Werkstätten unterschiedlichster Art. In diesem Fall muss man tatsächlich die bestehenden Häuser abreißen und die dort lebenden Menschen in neue Sozialwohnungen in der Nähe umsetzen. Dafür sollen aber die Arbeitsstätten erhalten bleiben und zudem ein großer Nach­barschaftsgarten angelegt und eine Konzertbühne errichtet werden – die Samba aus Mangueira hat eine lange Tradition, und die örtliche Sambaschule ist bis heute wichtig.
Die Frage von Zwangsräumungen im Vorfeld der Fußball-WM und der Olympischen Spiele 2016 erregt derzeit die Gemüter in der Stadt.
Das müsste nicht sein, denn es sind davon gar nicht so viele Menschen betroffen. Im bekannten Falle der Vila Autódromo müsste man nur einige Familien umsetzen, und das Viertel könnte im Wesentlichen bestehen bleiben. Es gibt Ärger, weil nebenan Luxusappartements errichtet werden sollen. Das zu klären, ist eine Frage des politischen Willens, die Stadt könnte entscheiden, dass die Bewohner nicht umgesiedelt werden.
Sie sind auch für ein anderes Bundesprogramm tätig, den Fonds für soziale und Umweltprojekte „Fundo socio­ambiental“.
Ja, und es ist das erste Mal, dass bestehende Häuser in den Favelas saniert werden. Vorher ging es neben der Gestaltung des öffentlichen Raums und dem Bau kommunaler Einrichtun- gen und Infrastrukturmaßnahmen vor allem um den Neubau – zum Beispiel im Complexo do Alemão, wo im Jahr 2010 vom Einsturz gefährdete Häuser durch neue Sozialwohnungen ersetzt wurden. Jetzt untersuchen wir dagegen jedes einzelne Haus, das zum Programmgebiet gehört, und nehmen dann notwendige Sanierungsmaßnahmen vor. In unserem Pilotprojekt geht es um insgesamt 200 Wohneinheiten, und wir hoffen, es danach noch in weiteren Gebieten anwenden zu können.
Warum halten Sie dieses Programm für so wichtig?
Weil es so viele bereits bestehende Häuser in den Favelas gibt – allein im Complexo do Alemão sind es 20.000. Darunter sind auch solche, die kaum Verbesserungen brauchen, aber viele andere eben schon. Darum halte ich es für sinnvoll, wenn das Programm erweitert wird.
Die Stadtverwaltung hat vor einigen Jahren die Losung ausgegeben, bis zum Jahr 2020 alle Favelas von Rio urbani­sieren zu wollen. Ist das realistisch?
Nein, und das wurde von offizieller Seite inzwischen auch schon eingeräumt. Aber ich glaube weiter daran, dass die allmähliche Umwandlung der „comunidades“ in „normale“ Stadtviertel der einzige Weg ist. Sie haben sich ja schon deutlich weiterentwickelt, und die meisten Wohneinheiten in den Favelas sind richtige Häuser, die inzwischen zum Teil sogar so gut ausgestattet sind wie ein Appartementhaus an der Copacabana. Allerdings haben die meisten bis heute keinen legalen Eigentumstitel. Zugleich wissen die Bewohner, dass ihre Häuser nicht mehr abgerissen werden – die Stadt hat dafür und für den Neubau anderswo gar nicht genug Geld.
Als Teil der städtischen Sicherheitspolitik wurden vor der WM in zahlreichen Favelas die Drogenhändler vertrieben und UPPs, Einheiten einer neuen „Befriedungs“-Polizei, installiert. Was halten Sie davon?
Auch diese vermeintliche Befriedung durch UPPs folgt einer militärischen Strategie. Doch das allein reicht nicht – es braucht auch Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, Sportplätze, Infrastrukturmaßnahmen oder eine Unterstützung der Kulturzentren vor Ort, die meist unter prekären Bedingungen arbeiten. Eine echte Befriedungs-Polizei müsste eine Nachbarschaftspolizei sein und nicht eine, die militärisch einfällt. Darum halte ich die UPPs für eine falsche Strategie.
Es gibt viel Kritik an der städtischen Umgestaltung anlässlich der WM und der Olympischen Spiele. Teilen Sie diese?
Meines Erachtens würde es kein Land der Welt ablehnen, diese beiden sportlichen Großveranstaltungen auszurichten. Dass die Umsetzung besser laufen und zum Beispiel weniger Geld für die neuen Stadien ausgegeben werden könnte, steht aber auch außer Frage. Das Maracanã hat man zum Beispiel zum Luxus-Konsumtempel umgebaut, und die Eintritts­preise sind jetzt so hoch, dass sie für die einfachen Leute unerschwinglich sind. Das hätte nicht sein müssen. Ich kann auch verstehen, dass sich die Menschen über die Erhöhung der Mieten und Immobilienpreise beschweren. Um das zu verhindern, bräuchte es in erster Linie stärkere staatliche Institutionen. Insgesamt aber werden Rio und Brasilien von der WM und von Olympia profitieren, und gerade der öffentliche Nahverkehr dürfte sich verbessern.
Fakten
Architekten Jáuregui, Jorge Mario, Rio de Janeiro
aus Bauwelt 23.2014
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