Live statt Konserve*
* Zitat aus dem St. Pauli Code. An der Reeperbahn nähert sich einer der fortschrittlichsten Planungsprozesse der letzten Jahre seinem Ende. Unter großer Bürgerbeteiligung versuchten sich am Spielbudenplatz zuletzt sechs Architekturbüros am Knacken des „St. Pauli Codes“
Text: Bartels, Olaf, Hamburg
Live statt Konserve*
* Zitat aus dem St. Pauli Code. An der Reeperbahn nähert sich einer der fortschrittlichsten Planungsprozesse der letzten Jahre seinem Ende. Unter großer Bürgerbeteiligung versuchten sich am Spielbudenplatz zuletzt sechs Architekturbüros am Knacken des „St. Pauli Codes“
Text: Bartels, Olaf, Hamburg
Einfach war das Bauen im großen Stil auf St. Pauli in Hamburg noch nie. Auf dem Areal der sogenannten Esso-Häuser – gelegen zwischen dem Spielbudenplatz an der Reeperbahn, der Taubenstraße und der Kastanienallee, im Westen angrenzend an das Panoptikum und das Musicaltheater – hat ein Investor die Herausforderung angenommen und will ein gleichzeitig hochverdichtetes und kleinteilig durchmischtes Stadtquartier bauen. Ein solches Vorhaben ist in heutigen Zeiten nichts Ungewöhnliches, nur wird es fast nie Wirklichkeit. Aber auf St. Pauli, dem wohl schillerndsten Stadtteil in ganz Deutschland, ticken die Uhren anders. Der Stadtteil lebt von seinem Mythos der exotischen Erotik und von der Idee der großen Freiheit (nicht nur in der gleichnamigen Straße). Aber auch das ganz normale Leben gab es hier immer. Solange der Unternehmer Wilhelm Bartels (mit dem Autor nicht verwandt) als geheimer König von St. Pauli das Regiment über den etwas anrüchigen, aber kleinteilig überschaubaren Immobilienmarkt führte, war diese Welt noch in Ordnung. Große Investitionen auf dem ehemaligen Gelände der Astra-Bavariabrauerei, dem Bernhard-Nocht-Quartier oder für die „Tanzenden Türme“ (BRT Architekten, 2012) brachten aber seit der Jahrtausendwende erheblich Unruhe in den Stadtteil. Sie erregten Protest und Widerstand, kreierten aber auch kreative partizipative Projekte wie „Park Fiction“, einen kleinen, von den Anwohnern gestalteten Park, der 2005 nach zehnjährigem Diskussions- und Planungs-Prozess eröffnete.
Als 2009 die Bayerische Hausbau das Gelände mit den drei Scheibenhochhäusern aus den 1960er Jahren und der Esso-Tankstelle, die dem Komplex den Namen gab, kaufte, um dort neu zu bauen, konnte sie also ahnen, was auf sie zukommen würde. Die große Protestwelle, die nach dem Abrissbeschluss anhob, dürfte sie dennoch überrascht haben. Mittlerweile hatte die Angst vor Verteuerung und Vertreibung viele Anwohner auf den Plan gerufen. Für die Eigentümerin und das zuständige Bezirksamt-Mitte offenbar Grund genug, die Bewohner- und Nachbarschaft schon früh am Planungsprozess teilhaben zu lassen. 2014 wurde die „Planbude“ ins Leben gerufen: Begleitet von Park-Fiction-Aktivisten, Künstlern, Kulturwissenschaftlern und Angehörigen der HafenCity Universität wurden mit den Stadtteilbewohnern „Wunschproduktionen“ und „utopischer Überschuss“ erarbeitet. Entstanden ist daraus unter anderem der sogenannte St. Pauli Code. Der Kriterien- und Richtlinienkatalog benennt einerseits die St. Pauli-Spezifika, andererseits legt er Prinzipien wie kleinteilige Bebauung, niedrige Mieten für Wohnen und Gewerbe, aktiv bespielte Dachflächen und öffentliche Räume ohne Konsumzwang fest.
In einem städtebaulichen Gutachterverfahren, das NL-Architekten und die BeL Sozietät für Architektur für sich entschieden, wurden 2015 diese Maßgaben in steter Abstimmung mit der Planbude und öffentlichen Foren in eine urbane Struktur gebracht, die einzelne Gebäude definiert und Nutzungen exakt lokalisiert. Es wurde schnell klar, dass es einen urbanen Sockel geben soll, in dem öffentlich zugängliche Nutzungen wie Gastronomie, Einzelhandel oder entsprechendes Gewerbe untergebracht werden sollte. Ein Hotel soll den Wohnungen Schutz vor dem lärmenden Spielbudenplatz und der Reeperbahn bieten, die auch eine Durchgangsstraße ist. Durch das Innere des Karrees ist eine „Quartiersgasse“ geplant, eine Art halböffentlicher Raum. Zudem sollten Flächen für ein ortspezifisches, auf Musik und Show bezogenes Gewerbe geschaffen werden.
Der Rahmen für das hochbauliche Wettbewerbsverfahren war also eng gesetzt. Die fünf eingeladenen Büros arbeiteten begleitet von einer öffentlichen Planerwerkstatt jeweils architektonische Vorschläge für einzelne Baufelder aus. Zu entwerfen war in Häusern. Die Jury beurteilte jedes der fünf Baufelder einzeln und zeichnete jeweils Arbeiten unterschiedlicher Büros aus. Entsprechend heterogen ist das Ergebnis ausgefallen und die Architektur der Einzelgebäude betont. Im Vergleich zu den geplanten Neubauten hatten die Esso-Häuser eine fast monolithische Struktur. Für die zukünftige Bebauung liegt die Betonung eindeutig auf Vielfalt.
Mit diesem hochbaulichen Verfahren ist der Planungsprozess allerdings noch nicht abgeschlossen. Die Preisträger überarbeiten ihre Entwürfe und die Eigentümerin engagiert sich mit Nachdruck, die zum Teil sehr detailliert vorgegebenen Nutzungen zu realisieren – mit ausgesuchten Betreibern und Nutzern, streng nach dem St. Pauli Code und in Abstimmung mit der Bewohner- und Anwohnerschaft über die Planbude. Neben dem Hotel, den Einzelhandels- und Gewerbeflächen soll es Sporteinrichtungen und Sondernutzungen der Dächer (z.B. Skate-, Basketball-, Restaurant- und Gemeinschaftsdächer) geben, die wohl überlegt und kombiniert werden müssen. Circa 40 Prozent der Wohnungen werden Sozialwohnungen sein, circa 20 Prozent innerhalb einer Baugemeinschaft, circa 40 Prozent freifinanzierte Mietwohnungen zu üblichen Marktpreisen. Letztere werden aber in ihren Abmessungen so klein sein, dass auch sie günstig mietbar sind. Insgesamt sollen 24.000 Quadratmeter Nutzfläche gebaut werden.
In der städtebaulichen Struktur des Quartiers und in der Architektur wurden Schritt für Schritt Rahmen für die geplante Nutzung gesetzt. Ebenfalls Schritt für Schritt und in enger Abstimmung mit potentiellen oder tatsächlichen Nutzern sowie mit der interessierten Öffentlichkeit wurden sie genauer definiert. Dieser Prozess ist noch nicht zu Ende. Den Architekten wurde auferlegt, die „Quartiersgasse“ noch nicht im Detail zu planen. Es bleibt also spannend. Fest steht, dass hier eines der lebendigsten und vielfältigsten Neubauquartiere in Deutschland entstehen wird.
Eingeladenes Workshopverfahren
1. Preise Baufeld (BF) 1: NL Architects und BeL Sozietät für Architektur, Amsterdam/Köln; BF 2 und 5: feld72 Architekten ZT GmbH, Wien; BF 3: Lacaton & Vassal, Paris (Haus 3.1: Turm), NL Architects und BeL Sozietät für Architektur, Amsterdam/Köln (Haus 3.2: Eckhaus), ifau + Jesko Fezer, Berlin (Haus 3.3: Zickzack); BF 4: ifau + Jesko Fezer, Berlin
2.Preise BF 1: feld72 Architekten ZT GmbH, Wien; BF 2: NL Architects und BeL Sozietät für Architektur, Amsterdam/Köln; BF 3: ifau + Jesko Fezer, Berlin (Haus 3.1: Turm und Haus 3.2: Eckhaus), coido architects, Hamburg (Haus 3.3: Zickzack); BF 4: NL Architects und BeL Sozietät für Architektur, Amsterdam/Köln; BF 5: ifau + Jesko Fezer, Berlin
3.Preise BF 1 und 4: coido architects, Hamburg; BF 2 und 5: Lacaton & Vassal, Paris; BF 3: coido architects, Hamburg (Haus 3.1: Turm und Haus 3.2: Eckhaus), NL Architects und BeL Sozietät für Architektur, Amsterdam/Köln (Haus 3.3: Zickzack)
4.Preise BF 3: NL Architects und BeL Sozietät für Architektur, Amsterdam/Köln (Haus 3.1: Turm), Lacaton & Vassal, Paris (Haus 3.2: Eckhaus und Haus 3.3: Zickzack); BF 4:
Lacaton & Vassal, Paris; BF 1, 2 und 5: kein 4. Preis
Jury
Jörn Walter, Christiane Thalgott (Vorsitz), Werner Frosch, Klaus Overmeyer, Mitglieder der Bezirksversammlung und Vertreter der Bürger, des Bezirksamts und des Auslobers
Jörn Walter, Christiane Thalgott (Vorsitz), Werner Frosch, Klaus Overmeyer, Mitglieder der Bezirksversammlung und Vertreter der Bürger, des Bezirksamts und des Auslobers
Auslober
Bayerische Hausbau GmbH & Co. KG
Bayerische Hausbau GmbH & Co. KG
Wettbewerbsbetreuung
D&K drost consult GmbH, Hamburg
D&K drost consult GmbH, Hamburg
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