Bauwelt

Morphogenese und freier Wille

Interview mit Friedrich Kittler

Text: Kockelkorn, Anne, Zürich; Grohmann, Manfred, Frankfurt am Main

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Morphogenese und freier Wille

Interview mit Friedrich Kittler

Text: Kockelkorn, Anne, Zürich; Grohmann, Manfred, Frankfurt am Main

Friedrich Kittler, der am 18. Oktober in Berlin verstarb, galt als einer der einflussreichsten Medientheoretiker Deutschlands. Unermüdlich wies er auf die Abhängigkeit des Denkens von technischen Werkzeugen hin, allen voran der Computer, was ihn auch in Architekturkreisen zu einer kritischen Stimme machte. Im Herbst vergangenen Jahres empfing Friedrich Kittler in seiner Wohnung in Berlin-Treptow den Ingenieur Manfred Grohmann. Beide hantieren mit den Begriffen Modell und Algorithmus auf unterschiedliche Weise: Der eine konstruiert Denkmodelle, der andere innovative Tragwerke.
Herr Kittler, Sie haben über den Dichter Conrad Ferdinand Meyer promoviert, über „Aufschreibsysteme 1800–1900“ habilitiert. Man könnte fast von einer körperlichen Beziehung zu den Medien sprechen, über die Sie geschrieben haben, seien es die existentiellen Besichtigungsfahrten zur V2 nach Peenemünde – der Weltraumrakete und Massenvernichtungswaffe Wernher von Brauns – oder Ihre eigenen Lötkolbenbasteleien an Prozessoren in den 1980er Jahren.
Friedrich Kittler | Das war ein monophoner Synthesizer. Das ist der Alukasten da oben auf dem Regal.
Hat Architektur – oder eine konkrete städtische Situation – Sie an einem bestimmten Punkt auf ähnliche Art berührt?
FK | (zögert lange) Da kommt mir als erstes das einschlägige Zitat von Walter Benjamin in den Sinn, dass Architektur die einzige Kunst ist, die man mit dem ganzen Körper erlebt. Aber ein Zitat ist ja keine Antwort. Ganz privat ist es eher so gewesen, dass man den Nemesis-Tempel in Rhamnus nur noch in Trümmern begehen kann und sich drinnen sehnlichst wünscht, dass er wieder auferstehen möge. Architektur als etwas, was fehlt, was zerstört ist. Was man heraufrufen will. Vielleicht hängt das mit der Erfahrung zusammen, in der Nachkriegszeit aufzuwachsen. Man steigt in die Eisenbahn und fährt nach Leipzig und kommt in diesen schönsten Bahnhof, der je in Deutschland gebaut worden ist, und alles ist nur noch verbranntes Gerüst. Diese ganzen Tonnengewölbe aus Eisen, die sich über die zahllosen Bahnsteige gewölbt haben. Als ich mit sieben Jahren sah, dass die großen Städte völlig verbrannt und zerstört und zerbombt waren, das war ein bleibender und schlimmer Eindruck. (zu Manfred Grohmann) Kennen Sie dieses Gefühl?
Manfred Grohmann | Ich kenne nur noch die Trümmerfelder. Auch in Frankfurt. Als ich dann die Architektur bewusster wahrgenommen habe, waren die meisten Infrastrukturen schon wieder hergestellt.
Herr Grohmann, Sie haben als Tragwerksplaner bereits in den 80er Jahren zusammen mit Ihrem Partner Klaus Bollinger die Nähe zum architektonischen Entwurf gesucht. Was hat Sie daran gereizt?
MG | Kein Bauwerk ohne Tragwerk! Wir versuchen immer zuerst den architektonischen Ansatz zu verstehen, und dann entwickeln wir mit dem Architekten dafür das passende Tragwerk. Und je nach Ausdrucksform ist das tragende Gerüst auch Teil der Gestalt, vor allem bei expressiveren Projekten. Das ist das Spannende an meinem Beruf. Wir können mit vielen Spielarten von Architektur arbeiten und dafür Konstruktionen entwickeln, egal ob für Mäckler oder Hadid.
Wie würden Sie zwischen Entwerfen und Konstruieren unterscheiden?
MG | Entwerfen ist Denken. Konstruieren ist das Umsetzen dieser Gedanken.
Herr Kittler, wo sehen Sie den Unterschied zwischen Architekt und Konstrukteur?
FK | Wenn man den Phonographen oder das Grammophon erfindet wie Edison oder Emil Berliner, dann ist man kein Architekt, sondern Konstrukteur. Konstruieren reicht weiter als das Feld der Architektur, das doch immer an die Behausung gebunden ist: In meinen Phantasien geht das Entwerfen oder Konstruieren darauf zurück, ein geometrisches mobiles Gebilde zu konstruieren, das als Ergebnis die Kubikwurzel zieht oder ausgibt. Der Vorsokratiker Archytas benutzt zum ersten Mal das Wort Diagramm und meint damit genau so eine Konstruktion wie eine Kubikwurzel-Zieh-Maschine. Die großartigen pythagoreischen Tripel-Listen der Babylonier sind im Verhältnis dazu noch keine Konstruk­tion, das sind einfache Listen. Die generieren nichts. Noch besser kann man den Begriff des Konstruierens vielleicht mit Leibnizens Begriff von Realdefinition versus Verbaldefinition fassen. Verbaldefinition ist z.B. – ich sage jetzt etwas ganz Albernes – ein Kreis ist schön. Eine Realdefinition ist eine Erzeugungsformel. Die kann man in unterschiedlichen Varianten geben, also pa­rametrisch angeben als sin α + cos α = usw. Oder man kann sa­gen x2 + y2 = r2. Es gibt also diverse Ausdrucksformen dieser Realdefinitionen. Leibniz erfindet sich mit dem Begriff der Real­definition sozusagen selbst: der Realdefinierer im Quadrat, indem er uns sagt, wie wir Erzeugungsregeln aufstellen.
Die Realdefinition bezeichnet eine kleine Einheit, die in Bewegung gerät, im Gegensatz zur verbalen Beschreibung eines Bildes.
FK | Die Wirkung der Realdefinitionen ist kinematisch. Bei Platon heißt der Kreis: das Gebilde, dessen Punkte sich im gleichen Abstand zum Mittelpunkt aufhalten. Das ist keine kinematische Definition. Und Heron von Alexandria, der große Held mit der Dampfmaschine, sagt dann: Der Kreis ist etwas, das entsteht, indem wir uns einen Punkt denken,der um den Mittelpunkt herumtanzt. Das wäre kinematisch.
Kreisähnliche Formen tauchen auch beim Learning Center von SANAA in Lausanne auf, auch wenn sie nicht tanzen, sondern als Höfe des flachen Campus-Gebäudes dienen. Läuft man hindurch, befindet man sich an jeder Stelle unweigerlich in einem Zwischenraum, auf einer schrägen Ebene in irgendeiner Raumschicht zwischen Innen und Außen – wie in einem Gartenlabyrinth, in dem man sich verlieren und einschlafen kann. Dieses Konzept hat dem Gebäude den Vergleich mit einer medialen Schnittstelle eingehandelt, bis hin zur Analogie mit dem Internet. Ist das als Denkmodell für Sie plausibel?
FK | Es fällt mir schwer, dazu ja zu sagen, weil man dem Internet keine so präzise Topologie zuteilen kann wie diesem Gebäude. Das Internet wurde als „Arpanet“ im Pentagon in den 1960er Jahren geradezu als die Vermeidung jeglicher präziser Topologie angelegt. Im Internet herrscht das fundamentale Modell von Shannons Maus. Wir bauen uns ein Labyrinth mit einigen möglichen Wegen und vielen Hindernissen, und die Maus kriegt so viel Intelligenz, dass sie sich durchhangeln kann. Wahrscheinlich ist für einen Studenten in Lausanne das Durchhangeln nicht wesentlich anders. Nur – die Topologie in diesem Gebäude steht trotzdem fest. Und nach einem halben Jahr Eingewöhnung weiß der Student, was wo ist und who’s who und what’s where!
MG | Ich verstehe den Vergleich mit dem Internet so, dass es im Learning Center keine vordefinierten Zirkulationsflächen gibt – abgesehen von den Rampen für Behinderte und den Arbeitsplätzen in der Bibliothek. Die Datenpakete im Internet wissen ja auch nicht, welchen Weg sie gehen, aber sie finden den richtigen. Hier hat man eine Fläche geschaffen, deren Nutzung nicht determiniert ist. Das ist ein open space, in dem verschiedene Dinge passieren können. Bei strikten Programmvorgaben wäre das gar nicht möglich.
Beim Entwurfsprozess gab es zwei unterschiedliche Modelle, ein geometrisches Modell der Konstrukteure und ein Architektenmodell. Können Sie das Handling mit zwei Modellen näher beschreiben?
MG | Bei SANAA werden Entscheidungen über Räume im­mer am gebauten Modell getroffen. Am Monitor sieht man nur ein flaches Bild mit perspektivischen Verzerrungen.
Für die statischen Berechnungen haben Sie am Computer gearbeitet. Wie wurde zwischen analog und digital übersetzt?
MG | Diese Übersetzung findet schon im Architekturbüro statt. Es wird immer parallel gearbeitet: Die einen bauen ein Modell, die anderen verifizieren es am Computer. In vielen Büros wird deshalb mit Digitizern gearbeitet: Man baut ein Modell, greift mit einem Digitizer die Geometrie ab und baut sie am Computer wieder neu auf. Umgekehrt kann man mit digitalen Fräsen und 3D-Printern physikalische Modelle aus dem Computer herausholen. So verfahren inzwischen alle Büros, die Designentscheidungen am Modell treffen, neben SANAA auch Coop Himmelb(l)au oder Frank Gehry.
FK | Beim Gespräch mit einer jungen Mitarbeiterin von Frank Gehry habe ich mich gefragt, ob es nicht ein Risiko darstellt, dass irgendwelche Microsoft-Mitarbeiter Architekturprogramme verkaufen, die bestimmte Lösungen ausschließen, weil sie zu dumm sind als Programm. Diese Angst schien mir plausibel. Eisenman hatte die junge Frau eingestellt, eine käufliche Software so aufzubohren, dass seine Träume von Architektur endlich baubar werden würden, weil das das käufliche Softwarepaket nicht leistete.
Sie unterscheiden im Gespräch deutlich zwischen dem gebauten Modell und dem Computermodell. Herr Kittler, kön­nen Sie erklären, weshalb Sie dennoch zwei so unterschied­liche Dinge wie die Camera obscura und die Computergraphik mit dem Begriff algorithmisch bezeichnet haben – einen analogen Ablauf einerseits und einen digitalen Rechenprozess andererseits?
FK | Meinen Sie, dass man das unterscheiden kann? Das Digitale ist doch in 90 Prozent der Fälle nur eine Digitalisierung analoger Prozesse. Vorsichtig gesagt, Funktionen von reellen Zahlen, in drei Variablen x, y, z. Die Frage ist eher, zu welcher Komplexität man aufsteigt. Ob man innerhalb dieser drei Variablen x, y, z Polynome baut oder ob man wüstere Dinge baut – etwa den Arcus hyberbolicus. Ob man das jetzt in kleinen digitalen Schritten durchrechnet oder geschlossen analog realisiert macht in der Praxis keinen furchtbar großen Unterschied. Algorithmus soll heißen – und das ist wichtig –, dass das mathematische Problem unabhängig von Materialitäten durchlaufen wird. Die Karriere dieses Begriffes beginnt bei Leibniz, mit dem berühmten Aufsatz von 1684 über Differenzieren und Integrieren. Leibniz schmeißt alles weg, was sein Konkurrent Newton an pseudophysikalischer Begründung angeschleppt hatte, für das unendliche Kleine und das unendlich Große und den Übergang von der Bewegung zur Null und all diese Mystifikationen. Leibniz hat gesagt: Es sind Rechenregeln, das können wir ausmultiplizieren. Wir hand­haben diese Zeichentiere auf dem Papier nach all den Regeln, die Al-Chwarismi, der das Wort Algorithmus inspiriert hat, im Jahr 830 gegeben hat. Wir machen alles, was diese Zeichenmenge uns erlaubt. Und damit sind wir unabhängig von der Materie. Dasselbe Polynom oder, sagen wir, dieselbe Fibonacci-Reihe gilt jetzt für die Formel einer Sonnenblume. Die Blüte der Sonnenblume ist die Fibonacci-Reihe umgesetzt in eine zweite Oberfläche. Anders gesagt, die Fibonacci-Reihe gilt genauso für eine Muschel, für eine Schnecke usw. Und damit sind wir in einer Allgemeinheit, die sich Benoit Mandelbrot sein Leben lang erträumt hat. (überlegt) – Morphogenese und Selbstorganisation sind die wichtigsten Begriffe, die hinter dem Bauen stehen. Dass sich etwas selbst entfaltet.
Herr Grohmann, wie wichtig ist es für Sie als Ingenieur, diesen Prozess nachzuvollziehen, das heißt, die anschauungslose Mathematik auf die Form rückbeziehen zu können?
MG | Wichtig ist, die Realität in einem wie auch immer gearteten Model simulieren zu können. In diesem Sinne sind die rechnerischen Werkzeuge immer zeitgenössisch.
FK | Die Messwerte für den Strömungswiderstand und die Bézierkurven beispielsweise sind nicht erst durch Renault und Citroën auf die Welt gekommen, sondern gehen auf uralte handwerkliche Techniken zurück: Der Handwerker schlägt einfach vier Nägel beliebig in die Wand, nimmt ein elastisches Stahlband und legt es durch die Nägel so durch, dass die Minimalfunktion eintritt.
MG | Beim Schiffsbau kannte man das. Deswegen kommen die meisten Programme, mit denen heute solche Strukturen in der Architektur repräsentiert werden, aus dem Automobil- oder Schiffsbau. Aber die Funktion solcher Pogramme – wie zum Beispiel CATIA, mit dem auch der Airbus bearbeitet wird – lässt sich nicht ohne weiteres übertragen. Automobilindustrie, Schiffs- und Flugzeugbau sind top-down organisiert: Auftraggeber, Planer, Fabrik, Designer hören auf ein Kommando und bekommen ihr Geld vom gleichen Unternehmen. Die haben am Ende eine Serienproduktion, und dem Kunden ist es egal, wer vorher beteiligt war; er erhält ein fertiges Produkt. In der Baubranche müssen sich für jedes Projekt ein Bauherr, ein Architekt, Ingenieure, Baufirmen und weitere Beteiligte zusam­menfinden – und innerhalb dieses Prozesses gibt es einen ganz harten Schnitt an der Stelle, wo der Architekt seine Planung an die Baufirma übergibt. Dieser Schnitt hat sehr viel mit Geld und mit Verantwortung zu tun: Ab diesem Zeitpunkt obliegt die Verantwortung für das Gebäude der Baufirma. Deshalb funktionieren Tools wie CATIA in der Baubranche so nicht, und das beginnt man jetzt auch langsam zu begreifen. Gerade CATIA, das über Gehry als „Digi­­tal Project“ in die Architekturbüros eingeführt wurde, hat in meinen Augen keine Zukunft.
FK | Dass Gehry altmodisch ist, heißt, dass seine Software altmodisch ist.
Ist diese Schnittstelle zwischen dem Unternehmer und dem ausführenden Architektenbüro auch der Moment, wo für alle Beteiligten das größte Risiko herrscht?
MG | Natürlich. Und das Risiko wird von Jahr zu Jahr größer, weil der Kampf um Aufträge härter wird. Wir erleben immer häufiger, dass Firmen bewusst niedrig bieten, einen Auftrag bekommen und sich dann über Nachträge das Geld reinholen. Das ist auch ein Teil der Preissteigerung bei Projekten, die in den letzten Jahren durch die Presse gehen – bei der Elbphilharmonie, aber auch bei ganz normalen Projekten.
FK | Peter J. Bentley hat das sehr schön ausgeführt: Microsoft und Top-Down, das sei die Anmaßung des christlichen Gottes, die Welt aus dem Nichts erschaffen zu haben. Die ganze Paranoia, die wir mit Computern und Robotern verbinden, würde verschwinden, wenn wir die Anmaßung des christlichen Schöpfergottes an uns selber abgelegt und abgedankt haben. Das wäre dann Bottom-Up. Was Not täte, wäre die Computer freizugeben, so wie eine Mutter nach neun Monaten ihren Embryo freigibt. Erst mal wächst dieser Embryo neun Monate lang geschützt, und dann kommt er auf die Welt und krabbelt herum und hat Sensoren und Effektoren –, und an Effektoren fehlt’s ja ziemlich im Moment bei den gängigen Maschinen. Wenn dieser zukünftige Computer genügend Apperzeption hat, lernt er eigenständig seine Umwelt kennen und wird zum „smart material“. Er passt sich seinem Winter und seinem Sommer an und trägt seine Schneelast, reagiert auf die Sonne, usw.
MG | In der Softwareindustrie gibt es da interessante Entwicklungen von smarten Programmen, die lernfähig und nahezu dialogfähig sind und im Zusammenspiel von parametrischer Eingabe und evolutionären Algorithmen funktionieren. Auch in der universitären Forschung passiert hier gerade viel.
FK | Eine parametrische mathematische Definition ist unendlich viel flexibler, kreativer, schöpferischer als die klassische Ausdrucksweise in Polynomen und solchen Funktionsgleichungen, die wir von Pythagoras und den Griechen übernommen haben. Ich glaube, es war überhaupt erst Gauß, der auf die Idee gekommen ist, parametrische Gleichungen einzuführen – Gleichungen, die von Parametern getrieben werden, die man letztlich auch rekursiv definieren kann.
 Ob die kinetische Wirkung der Mathematik aber tatsächlich auf die Architektur Einfluss nimmt? Dazu müsste man die kleinste Einheit des statischen Systems ausmachen können, wie der springende Punkt, an dem die Dinge in Bewegung geraten. Herr Grohmann, was ist die kleinste brauchbare statische Einheit in der Berechnung des Learning Centers?
MG | Wir haben am Anfang mit relativ einfachen Programmen die unterspannten Bögen in Parameter-Studien untersucht und haben das ganze Modell kalibriert, auch durch Handnachrechnung. Die kleinste Einheit wäre einer dieser Bögen. Aber selbst die kann man nicht als abgeschlossene Einheit betrachten, denn ohne den Anschluss der Platten nach beiden Seiten funktionieren sie statisch nicht. Erst die räumliche Krümmung macht das Ganze stabil, wie bei einer Eierschale. Wenn ich aus der Eierschale einen Streifen rausschneide, hat der überhaupt keine Festigkeit.
Das heißt, das Element bezeichnet die gesamte konstruktive Einheit. Der unterspannte Bogen ist in ein komplexes System eingebunden – und er ist unbeweglich.
FK | Der ist nicht beweglich. (überlegt) Aber hat in sich eine stillgestellte Bewegung. Weil die Spannung ja zur Stabilität beiträgt, statt zu sprengen. Normalerweise zerstören Spannungen stabile Gebilde. Das ist ja das Faszinierende an sich selbst organisierenden Formen, an dem, was wir vorhin Morphogenese genannt haben: dass die Spannung selbst dazu beiträgt, dass etwas stabiler wird.
Das Konstruieren des Gebäudes gipfelt demnach in der morphogenetischen Spannung des Stahlbetons. Der nächste verbindende Schritt zwischen Entwurf und Tragwerk wäre der Realisierungsprozess, der sich zwischen Programm, Entwurf, Architekt, Fachplanern und den ausführenden Firmen abspielt. Ein Prozess mit ziemlich vielen Feedbackschleifen, auch finanzieller Art. Ist es für Sie denkbar, dass hier so etwas wie ein weißes Rauschen hörbar wird, vergleichbar dem Rauschen der Grammophontechnik?
FK | Ich fürchte, ja, aber es ist schwer, sofort darauf eine triftige Antwort zu geben. Ob das Rauschen weiß ist, könnte man als allererstes bezweifeln; ich fürchte, es ist ein rosa Rauschen, das mit zunehmender Hochfrequenz abnimmt. Ein weißes Rauschen ist vollkommen frequenzunabhängig von null bis unendlich.
MG | Wenn man ein weißes oder wie auch immer geartetes Rauschen wahrnehmen will, braucht man Distanz. Insofern ist Architekturkritik immens wichtig, denn es braucht den außenstehenden Beobachter, der über das, was entsteht, reflektiert – was man, wenn man selbst agiert, überhaupt nicht kann. Hier möchte ich auf ein echtes Manko der Kritik hinweisen: dass sie die Bauten vor ihrer Nutzung beurteilt. Ich möchte keine Namen nennen, aber manche Architekten haben mir gegenüber offen eingeräumt, sie bauen nicht für den Bauherrn, sondern für den Architekturfotografen.
FK | Wenn im „Spiegel“ die Reklame für Fritz Hallers Möbel auftaucht, wo der Schreibtisch vollkommen aufgeräumt ist und kein Mensch die USM-Regale belästigt und belämmert, wird mir immer ganz traurig ums Herz.
Um die Benutzbarkeit von Gebäuden zu beurteilen, braucht man mehr Zeit als für eine herkömmliche Architekturkritik – und man muss Benutzbarkeit mit anderen Bildern vermitteln. Nutzung lässt sich nicht abfotografieren. Das ist schwierig für Zeitschriften, die auf Aktualität angewiesen sind.
FK | Hat sich denn das Learning Center bewährt?
MG | Das Echo, das ich bisher bekommen habe, ist positiv. Dabei hat das Gebäude nicht nur Befürworter gehabt in der Planungsphase, es gab eine ganz massive Opposition an der EPFL – „Kosten zu hoch“ und „Verschwendung von bebauba­rer Fläche“.
Die Benutzbarkeit ist in diesem Fall auch nicht die wichtigste Funktion des Gebäudes, sondern das internationale Renommee der Universität. So gesehen funktioniert die begehbare Landschaft des Learning Centers als ein Ausstellungsstück, wie ein japanischer Garten.
FK | Das scheint mir die Crux an einer überkomplexen Architektur zu sein, dass sie nicht auf die Inhalte der Speichermedien schaut. Architektur ist ja ein Art Übertragungsmedium, das seinerseits Speichermedien transportabel und speicherbar machen muss und die Orthogonalität – zum Beispiel beim Vitsoe Regal von Dieter Rams – ergibt sich ja aus den ortho­gonalen Inhalten. Das würde keinen Sinn machen, eine Schallplatte, eine CD oder CD-ROM in irgendwelchen überkom­plexen Kleinschen Flaschenformen zu bauen. Die morpho­genetische Symbiose scheint sich eher zwischen der Bibliothek, den Büchern und den Schlafbedürfnissen der Studenten einzustellen – in dieser Hinsicht wäre das Gebäude dann tatsächlich ein Interface, um auf den Vergleich mit dem Internet zurückzukommen.
Wenn entsprechende Programme auf dem Markt sind, liegt es nahe, damit zu experimentieren. Andererseits wäre es nicht möglich, ein Gebäude wie das Learning Center mit vertretbarem Aufwand ohne Computereinsatz zu bauen.
MG | Doch. Denken Sie an den TWA Terminal von Eero Saarinen in New York, 1962 fertiggestellt, oder an die Modellstatik von Heinz Isler. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich glaube nicht, dass ein Projekt wie das Learning Center deshalb entsteht, weil SANAA mit bestimmten Programmen arbeitet. Diesen Entwurf entwickeln Sejima-san oder Nishizawa-san im Kopf und im realen Modell. Natürlich haben sie Leute, die das in den Rechner übertragen. Aber das ist nicht ursächlich.
FK | Das geht auch nicht. Trotz aller evolutionärer Algorithmen kreieren Computer oder Algorithmen nichts aus freien Stücken eigenständig.
MG | ... sondern die evolutionären Algorithmen finden ja nur das Optimum in einem Lösungsraum. Aber zuerst muss man als Planer den Lösungsraum vorgeben, und dann auch definieren, was die Optimierungskriterien sind. Am Ende wählt immer der Entwerfer aus, ob ihm das von dem Computer generierte Optimum gefällt oder ob er noch mal die Rahmen-bedingungen modifiziert. Am Ende entscheidet der Mensch. Und das ist auch gut so.
Wäre das Kräfteverhältnis zwischen menschlicher Entscheidungskraft und der Rechenleistung von Prozessoren demnach zugunsten des Menschen entschieden? Von unsichtbaren Codes, die uns kontrollieren, kann keine Rede mehr sein?
FK | Beim Wachstum der Muschel kann davon die Rede sein. Aber das ist vielleicht auch der Unterschied zwischen Muscheln und Menschen, dass wir uns freier bewegen. Von Heidegger gab es 1929 eine hinreißende Vorlesung über den Unterschied zwischen Tieren und Menschen. Das beste Beispiel hatte er von Karl von Frisch, dem großen Bienenforscher: Man setze im Labor eine Biene vor einen Honigtopf. Und da säuft sie und trinkt sie, und während sie ganz glücklich ist in ihrer Benommenheit von dieser Honigsauce, schneidet man ihr das Abdomen durch, also das letzte Glied ihres dreigliedri­gen Leibes, ohne dass die den Schmerz spürt. Das scheint zu gehen. Und dann hört sie nicht auf, diesen Honig zu saufen, während ihr hinten alles wieder rausfließt, weil ihr das Ab­domen fehlt. Sie ist eine einzige Saufmaschine sozusagen. Die Tiere sind benommen von ihrer Umwelt. Menschen sind – laut Heidegger – ein bisschen freier.
MG | Naja.
FK | Ist Ihnen das zu grausam?
MG | Nein.
Fakten
Architekten Kittler, Friedrich (1943-2011)
aus Bauwelt 44.2011
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